,,Was auf der Bühne passiert, bleibt auf der Bühne – Punkt. Dann musst du dich umdrehen und dein Leben normal weiterleben.‘‘
Schauspieltechnik oder purer Wahnsinn?

Es ist wie aus einer Filmszene. Gabriel's markantes Gesicht erscheint auf meinem Bildschirm, er lächelt verschmitzt, eine Zigarette hängt lässig an seinem Mundwinkel, der Rauch umgibt ihn wie schwacher Nebel. Seine Augen funkeln fast mit einem Schatten von Neugier, aber dennoch schafft er es pure Entspannung zu verkörpern. Neben ihm befindet sich eine weiße Tasse mit der Aufschrift: ,,Je suis pas du matin.‘‘ Es ist Französisch und bedeutet: Ich bin kein Morgenmensch. Gabriel's Heimat ist Frankreich und das Interview wird zwar virtuell geführt, aber dennoch verspürt man eine Spur von Vertrautheit, die eigentlich nur alte Freunde ausstrahlen können. Wir sind Fremde, aber seine Gelassenheit ist fast ansteckend.
,,Es war furchtbar!‘‘, gesteht Gabriel. Wir reden auf Englisch, sein Akzent enthält dennoch die unverwechselbare Melodie eines Franzosen. ,,Wenn man so eine Erfahrung macht, merkt man, wie wichtig es ist, sie wirklich auf der Bühne zu lassen. Man muss sie auf der Bühne lassen.‘‘ Er redet von einem Theaterstück aus dem antiken Griechenland mit dem Titel ,,Agamemnon‘‘, bei dem er erste Erfahrungen mit Method Acting sammeln konnte.
Was ist Method Acting?
Bei Method Acting handelt es sich um eine Schauspieltechnik, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Schauspieler*innen vollkommen in ihre Rollen hineinversetzen können. Die Intention ist es, eine tiefe emotionale Verbindung zur Figur herzustellen. Ein wichtiger Faktor bei dieser Methode: Auf eigene Lebenserfahrungen zurückgreifen, die dieselben Gefühle der jeweiligen Rollen reflektieren. Das Zentrum dieses Prozesses bildet die emotionale Erinnerung. Die Schauspieler*innen rufen eigene Gefühle und Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit ab oder leben auch außerhalb der Dreharbeiten oder Proben wie ihre Figur. Es werden gezielt Denkweisen, Gewohnheiten, Kleidung und Sprache der Figuren übernommen.
,,Das ganze Stück handelt von Mord, Rassismus, Vergewaltigung und Zerstörung. Es geht um die Vernichtung von Städten – die dunkle Seite der Menschheit ‘‘, erzählt Gabriel. Der 22-Jährige wirkt plötzlich nachdenklich, sein Tonfall wird ernster, etwas in seinem Gesicht verhärtet sich. Er erinnert sich an die Vorbereitungen, die er getroffen hat, um sich in die Rolle hineinzufühlen: ,,Ich konnte nicht schlafen. Ich hatte viele Albträume, in denen ich meine Brüder tot vor mir sah. Es war grauenvoll.‘‘ Gabriel ist der Älteste aus einer Familie von acht Geschwistern. Er wuchs in Spanien auf, bevor er nach Frankreich zog, um am Pariser Konservatorium Schauspiel zu studieren. ,,Was auf der Bühne passiert, bleibt auf der Bühne – Punkt. Dann musst du dich umdrehen und dein Leben normal weiterleben‘‘, sagt Gabriel entschlossen.
Die Erfinder des Method Actings
Der russische Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislawski entwickelt das Konzept des Bühnenschauspiels mit psychologischem Tiefgang bereits im frühen 20. Jahrhundert. Die Anforderung an die Darsteller*innen ist, intensiv in die persönliche Vergangenheit und Gefühlswelt einzutauchen. Dieser Stil wurde insbesondere durch den US-amerikanischen Theaterregisseur Lee Strasberg weiterentwickelt, der diese Technik erstmals in den 1930ern in Amerika etablierte. Somit gilt Strasberg als führender amerikanischer Vertreter des Method Acting.
Es geht um weitaus mehr als nur das bloße Auswendiglernen von Texten. Die Vorbereitungen für eine Rolle nehmen eine viel intensivere Ebene ein, die Psyche und Körper belasten. In seiner wissenschaftlichen Publikation, ‘Post-Dramatic’ Stress: Negotiating Vulnerability for Performance., beschreibt Mark Seton, Professor für Theater- und Philosophie, wie Schauspieler*innen öfters dazu neigen, süchtige, abhängige und potenziell destruktive Verhaltensweisen ihrer Rollen, über eine längere Zeit beizubehalten.
Momentan bereitet sich Gabriel für eine neue Rolle in einem Film vor, für die er nicht nur seinen Geist, sondern auch seinen Körper transformieren muss. Er betont, wie wundervoll er die Rolle findet, aber gleichzeitig kämpfe er auch mit den Erwartungen, die er erfüllen muss: „Die Produktion sagte mir, dass ich fünf Kilogramm zunehmen muss. Also musste ich anfangen ins Fitnessstudio zu gehen und Muskeln aufzubauen.“ Gabriel verzieht das Gesicht, die anfängliche Begeisterung löst sich in Luft auf. Die Rolle, die er verkörpert, ist besessen von Perfektion. ,,Ich dachte mir: Ich hasse es, ins Fitnessstudio zu gehen. Aber ich muss es tun – für die Rolle und auch, um den Charakter zu verstehen“, erklärt Gabriel.

Felix Johann ist Psychologe mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspsychologie. Für ihn steht fest, dass diese Methode ein deutlicher Stressor ist: „Die Frage ist natürlich, wie gut können die Schauspieler*innen damit umgehen.“ Herr Johann erklärt: „Gerade, wenn sie dann wiederholt solchen Stresshormonen ausgesetzt sind, dann sind längerfristige Probleme eigentlich zu erwarten.“ Er beschreibt, wie essenziell es für die Schauspieler*innen sei, eine Technik zu entwickeln, um mit dem Stress umzugehen und ihn abfedern zu können. Auch mögliche Retraumatisierung durch diese Methode könnte ein Problem darstellen. „Viele Schauspieler*innen berichten, dass sie aus ihrem Privatleben posttraumatische Belastungsstörungen mitbringen, was ein Problem darstellt, wenn man diese Erlebnisse für eine Rolle nochmals durchleben muss.“
Auch wenn die Technik große Beliebtheit in der Schauspielwelt genießt, kommt sie nicht ohne Kritik und Herausforderungen. Ein großer Streitpunkt ist die Tatsache, dass Method Acting emotionale und körperliche Schäden verursachen kann.
,,Ehrlich gesagt, ich würde lieber nicht sterben.“
Ein berühmtes Beispiel dafür liefert Schauspieler Christian Bale in dem Psychothriller „Der Maschinist“ aus dem Jahre 2004. In einem Interview mit der britischen Zeitung „Daily Mail“ beschreibt er, wie er innerhalb von etwa vier Monaten rund 28 Kilogramm abnahm. Damit rutschte er von rund 82 auf gerade einmal 54 Kilogramm runter. Dies ermöglichte eine radikale Diät: Pro Tag nahm er eine Dose Thunfisch, schwarzen Kaffee und einen Apfel zu sich. Dabei lag er bei 200 Kalorien am Tag – weit unter dem empfohlenen Durchschnitt von 2.500 Kalorien für Männer. Um gegen seine Hungergefühle anzukämpfen, rauchte er Zigaretten. Um sich auch emotional in die Rolle einzufühlen, trug er dauerhaft Kopfhörer, ohne Musik zu hören. Somit schottete er sich von seiner Außenwelt ab und vermied, ähnlich wie der Hauptprotagonist, soziale Kontakte. Außerdem schlief er nur noch zwei Stunden pro Nacht. Er entwickelte damit ein echtes Gespür für die Schlafstörungen seiner Figur. Auf die Frage, ob er sich jemals wieder an Method Acting heranwagen würde, antwortete er: „Ich bin inzwischen etwas langweiliger geworden, weil ich älter bin – und ich habe das Gefühl, wenn ich so weitermache wie bisher, werde ich sterben. Und ehrlich gesagt: Ich würde lieber nicht sterben.“
Wie gefährlich ist Method Acting wirklich?
Der wohl bekannteste und tragischste Fall des Method Acting ist dem Schauspieler Heath Ledger zuzuschreiben, der den Joker im Film „The Dark Knight“ , aus dem Jahr, 2008, verkörperte. Um sich in den psychopathischen Clown einfühlen zu können, verriet Heath Ledger in einem Interview, dass er sich wochenlang in einem Hotelzimmer einsperrte und den Kontakt zur Außenwelt mied. Dabei kreierte er ein „Joker-Tagebuch“, gefüllt mit verstörenden Illustrationen und düsteren Gedanken, ein Hilfsmittel, welches die fragile Psyche seiner Figur reflektieren soll. Der Schauspieler bestand außerdem darauf, Gewaltszenen so realistisch wie möglich darzustellen und bat seine Schauspielkolleg*innen, ihn während Szenen wirklich zu schlagen. Doch das tiefe Eintauchen in die Psyche des Jokers forderte ein großes Opfer. Auch wenn schlussendlich nie nachgewiesen werden konnte, ob die Rolle ausschlaggebend für seinen Tod war, ist bekannt, dass Ledger bereits seit Jahren unter Schlaflosigkeit litt und durch die intensiven Vorbereitungen wurden sie noch weiter verschärft. Durch eine Überdosis verschreibungspflichtiger Medikamente verstarb er mit nur 28 Jahren.

Wie riskant Method Acting tatsächlich für die Gesundheit ist, hängt davon ab, wie gut man mit dieser Methode umgehen kann. Für Gabriel geht es in erster Linie darum, eine Geschichte zu erzählen und nicht zu sehr von den Rollen, die er spielt, beeinflusst zu werden. ,,Wenn du es richtig anstellst, kannst du jede Technik verwenden, die du möchtest.“ Der Zigarettenrauch ist längst verblasst, aber das Leuchten in Gabriel's Augen nimmt immer weiter zu. Die Leidenschaft, die er für seinen Beruf verspürt, erreicht einen trotz der örtlichen Distanz. Ein verträumter Ausdruck legt sich über seine Gesichtszüge und er blickt in die Ferne, das Lächeln verlässt dabei nie seine Lippen. Die Tasse ist nun leer, aber seine Hingabe scheint endlos. Er redet so wie er spielt: Voller Emotionen und Aufrichtigkeit.
„Am Ende des Tages erzählen wir eine Geschichte – damit sich jemand selbst besser versteht und sich weniger allein fühlt. Und wenn ich einen Film schaue, dann genau deshalb – um mich weniger allein zu fühlen und um zu verstehen.“
Dies scheint für Gabriel ein wichtiges Anliegen zu sein, der seine Schulzeit in Stille und Einsamkeit verbrachte. Durch seine Passion hat er eine Stimme gefunden und er teilt sie mit denen, die sie brauchen, so wie er sie damals gebraucht hat.