Repräsentation 9 Minuten

Ohne Studium kein Bundestag?

Sascha Wagner vor dem Reichstagsgebäude
Sascha Wagner ist einer der wenigen Bundestagsabgeordneten ohne Studium. | Quelle: Olaf Krostitz
10. Dez. 2025

Im Bundestag dominieren akademische Bildungswege – Abgeordnete ohne Studium bleiben die Ausnahme. Einer von ihnen ist Sascha Wagner. Wie entsteht dieses Ungleichgewicht und welche Folgen hat es für die Politik und unsere Demokratie?

„Ich bin aus sozialpolitischen Erwägungen in der Politik aktiv geworden. Für mich schwebt die Sozialpolitik über all dem, was ich in den letzten Jahren getan habe – das war die Triebfeder.“ Mit diesen Worten beschreibt Sascha Wagner seinen Weg in die Politik. Er ist Bundestagsabgeordneter für Die Linke – ohne jemals eine Universität besucht zu haben. Nach der Fachoberschulreife absolvierte er Ausbildungen zum Textilmechaniker und Gesundheits- und Krankenpfleger. Die Agenda 2010 bewegte ihn schließlich dazu, sich politisch zu engagieren. Zunächst war er auf kommunaler Ebene aktiv und arbeitete zeitgleich als Mitarbeiter bei der Linksfraktion für verschiedene Abgeordnete. Seit diesem Jahr ist er Mitglied des Deutschen Bundestags. Doch dort ist er Teil einer Minderheit. Nur etwa 13 Prozent der Abgeordneten haben, so wie Herr Wagner, keinen Hochschulabschluss.

Agenda 2010

Die Agenda 2010 war ein umfassendes Reformpaket der Bundesregierung unter Gerhard Schröder, das ab 2003 vor allem den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem veränderte. Zu den zentralen Zielen gehörte es, die hohe Arbeitslosigkeit zu senken – unter anderem durch die Hartz-Reform, die zwar mehr Druck auf Arbeitssuchende ausübte, aber auch neue Fördermöglichkeiten bot. Außerdem sollte mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt geschaffen sowie Steuer- und Rentenreformen umgesetzt werden. Bis heute wird diskutiert, ob damit soziale Gerechtigkeit gestärkt oder geschwächt wurde.

Der Deutsche Bundestag ist das Herzstück der repräsentativen Demokratie. Doch viele Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung oder Nicht-Akademiker*innen sind im Parlament deutlich unterrepräsentiert. Führt dieses Ungleichgewicht dazu, dass ihre Interessen weniger sichtbar werden? 

2022 stellte eine einzige Berufsgruppe, die Jurist*innen, mit 109 Mandaten mehr als doppelt so viele Abgeordnete wie die gesamte Gruppe der beruflich Ausgebildeten mit 45 Mandaten. Durch das Ungleichgewicht entsteht ein Gefälle, das Einfluss auf politische Prioritäten haben kann und darauf, wie Entscheidungen kommuniziert werden.

Ein spiegelverkehrtes Abbild

2022 verfügten 638 der 736 Bundestagsabgeordneten über einen Hochschulabschluss. Nur 98 haben nicht studiert, das entspricht 13,3 Prozent. In der Gesellschaft ist es umgekehrt, im Jahr 2022 lag der Anteil der Akademiker*innen bei nur 20,2 Prozent. Sascha Wagner weiß, dass das zu Problemen führen kann: „Der Bundestag sollte auf jeden Fall ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Es ist wichtig, dass man von einfachen Arbeiter*innen bis hin zu Hochschulprofessor*innen oder Wissenschaftler*innen alles dabei hat, nur so funktioniert letztendlich auch die Kommunikation mit verschiedenen Gesellschaftsschichten.“

| Quelle: Zensus 2022 (Gesamtbevölkerung ab 15 Jahren) und Bundestag (Schul- und Hochschulbildung der 20. Wahlperiode), eigene Zusammenstellung und Berechnung

Sprache ist dabei ein entscheidender Faktor. Viele politische Reden und Dokumente folgen einem formalen Stil, der nicht allen Menschen vertraut ist. Eine verständlichere Sprache könnte dazu beitragen, mehr Menschen am politischen Prozess zu beteiligen. Seine Reden hält Herr Wagner bewusst in klarer und einfacher Sprache: „Ich finde nichts schlimmer als Bundestagsreden, bei denen man merkt – das versteht hier nur die Hälfte.“ 

Doch nicht nur die Kommunikation wird durch dieses Ungleichgewicht beeinflusst, sondern auch konkrete politische Entscheidungen. Ein Beispiel ist die Rente mit 67. Während Büroangestellte oft noch länger arbeiten können, ist das in Berufen wie Straßenbau, Pflege oder Forstwirtschaft kaum realistisch. Auch die Finanzierung von Bildung zeigt ein Ungleichgewicht, wie eine Auswertung des statistischen Bundesamtes verdeutlicht. 2022 investierte der Bund 800 Millionen Euro in berufliche Bildung, während 8,1 Milliarden Euro in Hochschulen flossen.

Kritiker*innen, wie Michael Hartmann, argumentieren, dass vielen Vertreter*innen unseres Landes die Nähe zur Bevölkerung fehlt. Auch Sascha Wagner nimmt das deutlich wahr: „In Berlin erlebt man das hautnah. Es ist schon eine ziemlich abgekapselte Blase, in der eine Politiker*innenkaste unter sich bleibt und kaum noch Berührungspunkte mit dem Alltag der Menschen hat. Man ist stark abgeschottet und bewegt sich durch unterirdische Gänge von Gebäude zu Gebäude, ohne einmal über die Straße zu gehen und einer Verkäuferin oder einem Straßenfeger zu begegnen.“ 

Steine auf dem Weg nach Berlin

Doch woran scheitert es, dass wir nicht mehr Personen ohne Studium im Bundestag haben? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen fehlt die Zeit, viele Ausbildungsberufe bieten wenig Flexibilität. Wagner kennt das aus eigener Erfahrung: In der Textilindustrie und später in der Pflege arbeitete er im Drei-Schicht-System. „Durch den Schichtdienst überlegt man dreimal, ob man seine Freizeit mit politischem Engagement verbringen möchte“, sagt er. Zum anderen sind oft auch nicht die nötigen Ressourcen vorhanden. Das Bruttomediangehalt (der Median ist der Wert, der genau in der Mitte aller Werte liegt) von Personen mit Hochschulabschluss beträgt 2025 60.500 Euro, das von Nicht-Akademiker*innen hingegen nur 43.100 Euro. Das heißt sie verdienen 17.400 Euro weniger im Jahr als Personen mit einem Studium. Der Einstieg in die Politik kann also auch daran scheitern, dass man es sich schlichtweg finanziell nicht leisten kann. Vielen fehlt die Möglichkeit, durch die ganze Bundesrepublik zu reisen, an Veranstaltungen teilzunehmen und sich innerhalb einer Partei hochzuarbeiten.

Ein Mann mit Absolventenhut blickt in einen Spiegel und sieht sich dort in Arbeitskleidung mit Warnweste und Blaumann.
Ein Blick in den Spiegel: Wer repräsentiert die Gesellschaft im Bundestag? (Symbolbild)
Quelle: Luisa Arnold

Eine Gefahr für die Demokratie

Das Gefühl, sich nicht repräsentiert zu fühlen, kann weitreichende Folgen haben. Nicht nur für die Personen selbst, sondern auch für uns als Gesellschaft und für die Demokratie. Unterrepräsentierte gehen seltener wählen oder tendieren dazu rechts- oder linkspopulistische Parteien zu wählen, die sich als Stimme des Volkes präsentieren. Eine große Gefahr besteht dann, wenn das Vertrauen in Parlamente, Parteien und Regierungen schwindet und somit die Legitimität der Regierung, ein Grundpfeiler der Demokratie, ins Wanken gerät. Wenn zudem auch demokratische Verfahren wie Wahlen und Koalitionsbildung, Medien und Gerichte ihre Glaubwürdigkeit verlieren, stehen wir vor einem großen Problem. 

Sascha Wagner sieht die Politik in der Verantwortung, nicht den Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern zu verlieren. Doch wie ließe sich der Anteil von Arbeiter*innen im Bundestag tatsächlich erhöhen? Insbesondere Die Linke beschäftigt sich mit dieser Frage, dabei stehen innerparteiliche Maßnahmen im Fokus. Eine Möglichkeit wäre die Begrenzung der Mandatszeiten, um mehr Rotation zu ermöglichen. Zwar führt das allein nicht zu mehr Nicht-Akademiker*innen im Parlament, doch kürzere Amtszeiten könnten politische Karrieren durchlässiger machen. Zudem wird über eine Arbeiter*innenquote auf Wahllisten gesprochen.

Heute bereut er, kein Abitur gemacht zu haben. Aufgewachsen in einer klassischen Arbeiterfamilie – Weber, Verkäuferinnen und Bergleute – war er einer der ersten, der überhaupt eine Realschule besuchte. Ein Studium stand damals nicht im Raum. Dabei bezeichnet Herr Wagner sich selbst als sprachbegabt und hätte gerne Latein oder Altgriechisch gelernt, vielleicht sogar Journalismus studiert. Rückblickend sagt er: „Ich habe mich im Nachgang immer schwarz geärgert, dass ich kein Abitur gemacht habe und studieren gegangen bin.“