Meinungsfreiheit 4 Minuten

Nimm ein Blatt vor den Mund

Frau mit Blatt vor dem Mund
Die eigene Meinung ist ein so wichtiger Bestandteil in unserer Gesellschaft, doch die Zensurkultur ist überall. | Quelle: Valeria Greco
11. Dez. 2023

Die heutige Welt gleicht einem komplexen Irrgarten aus einer fragwürdigen Zensurkultur und fragilen Meinungen, insbesondere im Kontext anhaltender Krisen. Dieser Zustand wird in einem Essay über die Herausforderungen der Meinungsfreiheit und dem Gewicht der Worte reflektiert.

Seit 75 Jahren ist die Meinungsfreiheit einer der wichtigsten Bestandteile unserer Demokratie, fest verankert in unserem Grundgesetz. Doch die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass die eigene Meinung oder eigene Positionierung auf vielfältige Weise angegriffen wurden. Die Frage, die sich nun viele stellen: Was darf man heutzutage eigentlich noch sagen? Jan Böhmermann vom ZDF Magazin Royale stellte sich diese Frage bereits in seiner Sendung am vergangenen Freitag und machte sich Gedanken über die mögliche Gefährdung der Pressefreiheit. 

Der Fall Constantin Schreiber ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Der Tagesschausprecher hatte sich in der Vergangenheit kritisch mit Lehrstoffen und Predigten in Koranschulen und Moscheen auseinandergesetzt und wurde dafür oft kritisiert. Bei einer Lesung an der Universität Jena am 29. August 2023 wurde der Journalist Schreiber von einer Aktivistin mit einer Torte beworfen. Nach zunehmenden persönlichen Bedrohungen entschied sich Schreiber, sich journalistisch nicht mehr mit dem Islam zu beschäftigen. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ stellte er sogar infrage, ob das ein Gewinn für die Meinungsfreiheit und für den Journalismus sei.

Meinungsfreiheit in Krisenzeiten 

Die Komplexität der sogenannten Zensurkultur, auch bekannt unter dem Pseudonym Cancel-Culture, zeigt sich deutlich in Krisenzeiten, wie dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Auf der einen Seite führt die Unterstützung für Palästina schnell zum Vorwurf des Antisemitismus, selbst wenn man nur darauf hinweist, dass Teile der israelischen Maßnahmen dem Völkerrecht widersprechen. Auf der anderen Seite wird die eigene Meinung genauso schnell degradiert, wenn sie die Angriffe der Hamas verurteilt, ohne dabei die Schuld im palästinensischen Volk zu sehen. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der Europa ein beängstigender Rechtsruck widerfährt, spaltet sich unsere Gesellschaft, da man die Meinung des anderen, die Position des anderen ablehnt. Michael Hanzel, akademischer Mitarbeiter der Universität Stuttgart, erklärt: "Es ist schwierig, solch erschreckende Ereignisse rational zu betrachten, aber das ist der Anspruch an die Medienlandschaft und die Wissenschaft, auch wenn es schwerfällt." Er fügt hinzu, dass ihre Aufgabe darin bestehe, Differenzierungen vorzunehmen, Fehler möglichst unvoreingenommen zu bewerten und dann zu sagen, das sei uninformiert gewesen, das sei falsch gewesen oder gar antisemitisch.

Doch selbst das Bremer Friedensforum wurde Opfer der Zensurkultur. Grund dafür war die neutrale Stellung, die das Bremer Friedensforum im Hinblick auf den Nah-Ost-Konflikt einnahm. Man wollte lediglich darauf hinweisen, dass der Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 eine Vorgeschichte hat und die Maßnahmen der israelischen Regierung auch kritisch beurteilt werden müssten, eine Diffamierung Israels sowie von Juden und Jüdinnen stand dabei gar nicht zur Debatte. Die Stadt Bremen hatte daraufhin den Link zur Website des Bremer Friedensforums auf ihrer Website gelöscht, der sich dort seit Jahren befand. Die Zensurkultur oder Löschkultur bedient ein weites Spektrum und muss daher immer in ihren Einzelfällen bewertet werden. Trotzdem stellt sich die Frage: Darf man sich nicht mehr zur Neutralität bekennen?

Humorvoll durch die Krisen

Inmitten dieser Unsicherheiten fragt man sich, ob schon bald die nächste Krise unsere Gesellschaft heimsuchen wird. Aber mal ehrlich, sind wir jemals aus dem Krisen-Debakel herausgekommen? Seit Adam und Eva reihte sich eine Krise an die andere. Der Mensch ist ja dabei auch nicht ganz unschuldig. Gott sei Dank – wenn man das heute überhaupt noch sagen darf – gibt es aber unter all diesen miesepetrigen Menschen noch den ein oder anderen Mutigen, der trotz der vielen, vielen Krisen den Humor bei der ganzen Sache nicht vergessen hat. Aber in einer Welt, in der jedes Wort und selbst das unbedeutendste Satzzeichen auf die Goldwaage gelegt wird, muss da ein Witz erst vom Verein der Zartbesaiteten abgesegnet werden? Axel Naumer und Henning Bornemann, das Satire-Deluxe-Team von WDR 5, erkennen die Wirkung der heutzutage oft auftretenden Shitstorm-Wellen und folgen einem Prinzip. Naumer erklärt: „Es gibt den ununterbrochenen Versprecher ‚Terrorismus und Tourismus‘ in den Medien. Das geht nicht als Gag am nächsten Tag, wenn Israel gerade von Hamas-Terroristen überfallen wurde. Zwei Wochen später geht es wieder. Also der alte Satz „Tragödie plus Zeit ergibt Comedy“ ist ein so wichtiger."

Also der alte Satz „Tragödie plus Zeit ergibt Comedy“ ist ein so wichtiger."

Axel Naumer

Aber wie steht es um die Zensur in Satire und Comedy? Denn es wurden bereits Triggerwarnungen vor Otto Waalkes „Otto-Show“ aus den 70ern platziert, um sicherzustellen, dass das Publikum versteht, dass es sich um Humor aus vergangenen Jahrzehnten handelt. Als würde man an der mäßigen Bildqualität und Otto Waalkes wirklich schlechten Haarschnitts nicht erkennen, dass die Show nicht im Jahr 2023 gedreht wurde. Müssen diese Warnhinweise sein, weil wir Menschen heute dünnhäutiger sind als früher? Henning Bornemann kommt zu einem interessanten Ansatz: 

"Es gab immer sehr Dünnhäutige, die gerne in die Luft gegangen sind. 

Henning Bornemann

"Es gab immer sehr dünnhäutige, die gerne in die Luft gegangen sind. Es ist halt einfach jetzt die Veränderung durch die sozialen Medien, dass sich die Dünnhäutigen nicht erst dann versammeln, sondern, dass es diese Gruppen schon gibt.“ Bornemann fügt hinzu, dass dies auch irgendwie ein Hobby sei oder eine Art Vereinszugehörigkeit. Das sei auch schön, kannte man aber auch schon vor den sozialen Medien. Früher ging man in die Kirche, um sich zugehörig zu fühlen. Suchen wir heute Zugehörigkeit in Gruppen, die nur unsere eigene Meinung vertreten? Aber stehen wir dann am Ende wirklich für unsere eigene Meinung ein oder für die von anderen?

Collage Krisen der Welt
Kalte Zeiten, Kohle-Krise - Eine Collage zu den Krisen der heutigen Zeit. | Quelle: Valeria Greco
Warnhinweis und Triggerwarnung
Vor Comedy gewarnt - darüber lachen Loriot, Ernie und Bert bestimmt nicht. | Quelle: Valeria Greco
Bücher
Lindgrens "Pippi", Twains "Huckleberry Finn" und auch die Bibel - ein gefährlicher Trend zum Zensurwunsch in der Literatur. | Quelle: Valeria Greco
Frau mit Bücher und Figur
Der Nah-Ost-Konflikt zwischen Israel und Palästina: Beide Seiten haben ihre Geschichte - so auch das Wort "Mohren" und das N-Wort. Aufklärung ist eine gute Lösung. | Quelle: Valeria Greco

Das langersehnte Schlussplädoyer

In der Zensurkultur geht es nun schon gar nicht mehr um das „N-Wort“ in einem Kinderbuch oder in der Oberstufen-Pflichtlektüre „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen, die im März 2023 von einer Lehrerin in Ulm als offensiv rassistisch, sexistisch und antisemitisch eingestuft wurde. Die etwa einhundert „N-Wörter“ in Koeppens Roman führen ohne Zweifel beim einen oder anderen zu Betroffenheit. Man muss wissen, warum sich ein Einzelner oder eine Gruppe angegriffen fühlen und somit Diffamierungskampagnen entstehen. Und genau hier ist Aufklärung statt Zensur hilfreich. Denn Schüler*innen müssen einerseits die Hintergründe von Rassismus und Diskriminierung, andererseits den zeitlichen Kontext der Entstehung des Romans verstehen. 

Auch im Nah-Ost-Konflikt ist Aufklärung erforderlich, um alle geschichtlichen, sozialen und religiösen Hintergründe nachzuvollziehen und endlich einen Rahmen für den vorurteilsfreien Austausch unterschiedlicher Meinungen zu schaffen. Es steht gar nicht zur Debatte, dass man heutzutage nicht mehr Kritik äußern darf. Es geht vielmehr darum, seine Meinung zu einem Thema konstruktiv zu äußeren, ohne den anderen dabei zu beleidigen und in seiner Person zu verurteilen. 

Die Triggerwarnung vor Otto Waalkes „Otto-Show“ aus den 70ern ist sicherlich kein Eingriff in unsere Meinungsfreiheit, sie kann jedoch als Warnhinweis an unsere Gesellschaft angesehen werden. Denn wenn wir Menschen schon vor Comedy gewarnt werden müssen, wenn sich eine Friedensbewegung nicht zur Neutralität bekennen darf, wenn sich ein Journalist von einem gesellschaftskritischen Thema distanzieren muss, dann stehen wir Menschen sogar wieder vor der nächsten Krise. Diese betrifft dann nicht nur die Pressefreiheit, sondern die Meinungsfreiheit eines jeden. 

Sein oder nicht sein, sagen oder nicht sagen? Was darf man heutzutage überhaupt noch? 

Deine Meinung interessiert uns

Könnte die aktuelle Zensurkultur die Prinzipien der Meinungsfreiheit gefährden?

Ja 

Abstimmen

Nein 

Abstimmen
Nach der Abstimmung siehst du das Ergebnis.