Angststörung

Wenn die Angst wie ein Schatten an dir klebt

Angst verzerrt die Wahrnehmung: Sogar alltägliche Dinge und Situationen wirken dann bedrohlich.
22. Dez. 2020
Wer mit einer Angststörung lebt, steht fast täglich vor Herausforderungen. Lara Keuthen erzählt von der Begegnung mit ihrem Schatten, ihrer beruflichen Laufbahn, dem Kampf gegen ihre Angst und der Versöhnung mit ihr.

Dieses Interview thematisiert Aspekte von Angst, die einige Leser*innen aufwühlen könnten. Lesen auf eigene Verantwortung. Informationen und Ressourcen für Menschen, die an einer Angststörung leiden, oder deren Angehörige finden sich am Ende des Beitrags.

Wann bist du zum ersten Mal mit deiner Angst in Berührung gekommen?

Ich war 15 und mit meinem damaligen Freund und dessen Familie im Urlaub in Dänemark. Wir haben einen wunderschönen Strandspaziergang gemacht, waren aber stundenlang unterwegs und hatten kein Wasser mehr. Ich stand abseits am Meer und wie aus dem Nichts wurde mir übel. Ich hatte das Gefühl, in Ohnmacht zu fallen. Wir hatten keine Handys mit und ich wusste, wenn hier etwas passiert, kann ich nicht gerettet werden. Das hat mir einen Panikschub gegeben. Ich habe überall gezittert, musste weinen. Über meine Atmung habe ich mich irgendwann gefangen.

Bemerkt hat es niemand. Im Nachhinein habe ich auch nicht darüber gesprochen. Ich kannte Panik nicht. Dachte, ich wäre einfach nur erschöpft gewesen.

Lara Leonie Keuthen ist 31 Jahre alt und lebt in Hamburg. Sie arbeitet als freie Texterin, Redaktionsleiterin des Nachhaltigkeitsmagazins „Peppermynta“ und als Waldbaden-Kursleiterin. Zuvor war sie Teamleiterin in einer PR-Agentur. In Göttingen hat sie Kunstgeschichte und Kulturanthropologie studiert.

Laras Angst ist räumlich bedingt und wirkt verstärkt durch Kontrollverlust. Für Lara fühlt sich ihre Angst wie ein stacheliger, schwarzer Stern an – wie ein Morgenstern aus dem Mittelalter. Er steht stellvertretend dafür, dass sie ihre Angst früher nicht annehmen konnte.

Haben sich die Situationen, in denen dich die Angst einholt, mit der Zeit verändert?

Ich hatte nur diese eine konkrete Panikattacke, habe aber gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Zwei Jahre später ist mein Vater über Nacht an einem Herzinfarkt gestorben – ein schwerer Schicksalsschlag. Da ging es wieder los: Zukunftsängste, Angst, mich zu zeigen. Ich war in der Schule, als ich vom Tod meines Vaters erfuhr. Lange konnte ich nicht regelmäßig hingehen, da dieser schlimme Moment so in mir verankert war.

In der Uni habe ich nicht in der Mensa gegessen, weil es zu stressig, zu laut war. In Hörsälen saß ich immer außen, ich war wenig auf Partys. Eine Hypnose-Behandlung, als ich 22 war, hat sehr viel gebracht. Es wurde langsam besser. Auch, weil ich mit dem Jobeinstieg einen Schritt weiter zum Erwachsensein gegangen bin und einen Ortswechsel hatte.

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Wer nicht an einer Angststörung leidet, dem mag es befremdlich vorkommen, was Lara beschreibt. | Quelle: Sarah Engler

In welchen beruflichen Situationen ist deine Angst anwesend?

Wenn ich eine Viertelstunde einen Vortrag halten muss, ist das für mich der Oberhorror (lacht). Aber Angst ist eine Kurve, das habe ich in meiner ersten Therapie gelernt. Du kommst irgendwann zum Peak und in der Regel wird es danach besser. Deswegen halte ich Präsentationen schon durch. Nur danach könnte ich ein Schläfchen machen, weil es für mich doppelt so anstrengend ist.

Beeinflusst die Angst dein Verhalten oder deine Entscheidungen?

Früher bin ich nur in den Supermarkt gegangen, wenn wenig los war, oder habe mir im Kino den Sitzplatz außen reserviert. Es ist viel Training, Angstgedanken zu erkennen und sie zu relativieren, bevor sie emotionale, körperliche Reaktionen auslösen.

Wer weiß von deiner Angst?

Theoretisch weiß es jeder (lacht). Ich gehe offen damit um. Ich habe mit all meinen Freundinnen und Freunden mindestens einmal darüber gesprochen. Ich habe keinen Bock mich wegen meiner Angst zu verstecken, hausiere aber auch nicht mit ihr.

Angst ist eine Emotion, die einfach da ist. Nur weil du in einem Bereich Ängste hast, heißt das ja nicht, dass sie universell sind. Und schon gar nicht sagt es etwas darüber aus, wer du als Mensch in Gänze bist.

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Der Schlüssel zu einem gesunden Umgang mit der Angst liegt darin, sie anzunehmen. | Quelle: Lara Keuthen, fotografiert von Roman Dachsel

Welche Erfahrungen hast du gemacht, als du offen über deine Angst gesprochen hast?

Es gibt immer wieder Menschen, die sagen: „Lara, stell dich doch nicht so an.“ Mit denen möchte ich nichts zu tun haben. Ich lebe und arbeite heute mit Menschen, die rücksichtsvoll sind. Es ist großartig, mit wie viel Liebe, Verständnis und Fairness sie mir begegnen.

Wenn du dich nur traust, darüber zu reden, merkst du, dass es vielen ähnlich geht. Wie unterschiedlich die Ursachen sind, aber wie sich Ängste doch gleichen.

Bist du zufrieden mit der heutigen Beziehung zu deiner Angst, wenn du auf eure Entwicklung zurückblickst?

Es gibt Momente, in denen ich mir mehr Leichtigkeit für mich gewünscht hätte. Ich bin zufrieden, dass ich alles gemeistert habe und dadurch stärker geworden bin. Dass ich versuche, meine Angst anzunehmen.

Die Angst besucht mich immer mal wieder, aber ich kann sie besser verorten und mit ihr umgehen. Ich zwinge mich zu nichts, habe Strategien entwickelt, um trotzdem frei zu sein. Und wenn ich doch zu aufgeregt bin, nehme ich auch mal Bachblüten. Ich mag mich und mein Leben. Es hat ein paar Jahre gedauert, aber dafür sind wir ja auf der Erde, dass wir lernen, wer wir sind, was uns ausmacht.

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Laras Umfeld unterstützt sie. | Quelle: Lara Keuthen, fotografiert von Roman Dachsel

Was wünschst du dir von der Gesellschaft und von Unternehmen, wenn es um mentale Gesundheit geht?

Jeder kennt Angst. Sie ist normal. Inzwischen finde ich Menschen, die noch nie beim Therapeuten waren, merkwürdig. Jeder sollte sich mal seine Themen angucken (lacht). Menschen suchen Ventile – stürzen sich in Arbeit, machen exzessiv Sport, nehmen Drogen – aber die Quelle der Angst sitzt ja in dir selbst. Das holt dich früher oder später ein – emotional oder körperlich.

Ich wünsche mir, dass Unternehmen Sinn und Zweck über Gewinn stellen. Weg von diesem „Höher, schneller, weiter“. Ich wünsche mir, dass sich mehr Arbeitgeber bewusst machen, wie wertvoll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind, und dass sie sich gut um sie kümmern. Angebote für professionelle, individuelle Hilfe. Dass Kolleginnen und Kollegen sich auf einer zwischenmenschlichen Ebene begegnen, die Raum für Sorgen, Ängste und Schwächen lässt. Egal wie klein oder fundamental sie sind.

Lara, vielen Dank für deine Offenheit und für deine Zeit.

Telefonseelsorge 
Du bist selbst von einer Angststörung betroffen oder kennst jemanden, der es sein könnte? Unter folgenden Nummern ist die kostenlose Telefonseelsorge anonym und rund um die Uhr erreichbar:

0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222

Ärztliches Bereitschaftstelefon

Der Ärztliche Notdienst behandelt Patient*innen, deren Erkrankung zu dringend ist, um bis zur nächsten regelmäßigen Sprechstunde eines Arztes zu warten, aber nicht so dringend, dass die Benachrichtigung des Rettungsdienstes nötig wäre.

Über die Rufnummer 116 117 wirst du an den jeweiligen Bereitschaftsdienst in deiner Region weitergeleitet.


Auf der Website der Stiftung Gesundheitswissen findest du weitere ausführliche Informationen über die Hintergründe der Krankheit, Behandlungsmöglichkeiten, Anlaufstellen für Hilfe sowie Erfahrungsberichte und konkrete Hilfestellungen für den Alltag.

Bitte beachte: Diese Informationen können ein Arztgespräch nicht ersetzen.