Kleinwuchs

Klein aber oho

Leonie Hünermund geht trotz Kleinwuchs selbstbewusst durch die Welt. Sie hat gelernt mit Vorurteilen umzugehen: "Ich gehe meinen Weg, sie ihren."
19. Febr. 2019

1,66 Meter – so groß wird die durchschnittliche Frau in Deutschland. Leonie Hünermund liegt mit ihrer Körpergröße weit darunter. Mit 1,30 Meter gilt die 16-Jährige als kleinwüchsig und hat im Alltag mit einigen Problemen zu kämpfen. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen und meistert das Teenagerleben auf ihre eigene Art und Weise. Auf Augenhöhe mit einer Kleinwüchsigen: eine Reportage.

Das Wasser tropft Leonie von der Stirn. Sie atmet schwer. Mit starken Ruderbewegungen versucht sie, sich über Wasser zu halten. Dann greift sie ihrer Freundin unter die Arme und zieht sie an die Oberfläche. Mit der rechten Hand hebt Leonie den Kopf des Mädchens an, mit der linken beginnt sie zu rudern. In Rückenlage und mit kräftigem Beinschlag schleppt sie sich und das Mädchen in Richtung Beckenrand. Noch 25 Meter haben die beiden vor sich. Im Hallenbad von Lahr im Schwarzwald riecht es nach Chlor und Schweiß. Die Rettungsschwimmer der DLRG-Jugendgruppe (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft) aus Friesenheim-Schutten proben den Ernstfall: Eine Person muss aus dem Wasser gerettet werden. Leonies Gesichtsausdruck verrät, das Körpergewicht ihrer Freundin zehrt an ihren Kräften. Außerhalb des Beckens trennen die beiden Jugendlichen 25 Zentimeter, denn Leonie ist kleinwüchsig und misst mit ihren 16 Jahren gerade mal 1,30 Meter. Doch im Ernstfall zählt die Körpergröße nicht. Da muss Leonie bereit sein, die 48 Kilogramm schwere Jugendliche aus dem Wasser zu ziehen.

Auf den ersten Blick ist Leonie klein für ihr Alter. Kommt man aber mit ihr ins Gespräch, zeigt sie sich selbstbewusst und ist wie jede andere 16-Jährige auch: Sie quatscht ununterbrochen. In einem Moment lacht sie, im anderen kann sie ernst sein. „Bereits in der Grundschule habe ich gemerkt, dass andere größer sind als ich. Ich habe mich dann immer gefragt: Warum trifft es ausgerechnet mich?“, erinnert sich Leonie.

Eine von 100.000

Leonie Hünermund ist eine von 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland. Sie kam mit Achondroplasie zur Welt. Das ist die häufigste der rund 650 bekannten Formen von Kleinwuchs. Typische äußerliche Merkmale von Kleinwüchsigen mit Achondroplasie sind ihre stark verkürzten Arme und Beine. Leonie fehlen an den Beinen mehr als 30 Zentimeter. Dadurch wirken Kopf und Po größer als bei anderen Mädchen in ihrem Alter.

Achondroplasie ist eine Entwicklungsstörung des Skeletts und ist genetisch bedingt. Das bedeutet, dass sich das Knorpel- und Knochengewebe nicht vollständig entwickeln kann. Davon sind nicht nur Arme und Beine betroffen, sondern auch die Wirbelsäule und die Knochen des Schädels. „Das Wachstum wird durch eine Vielzahl von Faktoren gesteuert. Einer der Faktoren ist ein Rezeptor, der an allen möglichen Zellen im Körper sitzt, unter anderem auch an den Knochen“, erklärt Prof. Dr. med. Klaus Mohnike. Er ist Arzt an der Universitätsklinik in Magdeburg und diagnostiziert jährlich Achondroplasie bei Patienten. Dieser Rezeptor sei dafür zuständig, das Wachstumssignal einzufangen und weiterzuleiten. Bei Leonie ist dieser Rezeptor beschädigt. „Das ist, als ob sie einen Gehörlosen vor sich haben. Da können sie so laut schreien, wie sie wollen, hören kann er dadurch noch lange nicht“, sagt Mohnike. Mit weltweit 250.000 Betroffenen ist Achondroplasie eine seltene Krankheit.

Es ist Freitagabend, kurz nach 18 Uhr. Barfüßig betritt Leonie das Hallenbad. Ihre langen braunen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Der rote Badeanzug, den sie trägt, ähnelt den Anzügen der Rettungsschwimmer aus der US-amerikanischen Erfolgsserie Baywatch. Am Beckenrand warten bereits die anderen Jugendlichen mit Trainerin Daniela Holzenthaler. Leonie reicht ihnen gerade mal bis zur Brust. Auch optisch unterscheidet sich Leonie von den anderen Mädchen in ihrer Gruppe. Sie sind schlanker, haben lange dünne Beine und ihre Arme reichen bis unter die Hüfte. Leonie ist sich dessen bewusst: „Andere haben dünne Oberschenkel, ich komme daher mit dicken. Mittlerweile ist es mir aber egal, was andere von mir denken. Ich weiß für mich selber: Ich bin nicht dick, es ist nur anders verteilt.“

Daniela fordert die neun Nachwuchsschwimmer auf, sich warm zu machen: zwei Bahnen Kraulen, zwei Bahnen Brustschwimmen und zwei Bahnen in Rückenlage. Nacheinander stellen sie sich hinter dem Startpflock auf, warten auf das Zeichen der Trainerin und machen einen Kopfsprung ins Wasser – auch Leonie. Sie ist schon seit knapp zehn Jahren beim DLRG.Ihre Körpergröße hindert sie im Training nur wenig, deshalb muss auch keine Rücksicht auf sie genommen werden. „Leonie schwimmt genauso mit wie alle anderen auch. Sie beißt sich durch“, erklärt Daniela. Die 21-Jährige trainiert seit sieben Jahren die Jugendlichen der DRLG-Gruppe aus Friesenheim-Schutten. Leonie müsse sie nie motivieren, denn sie bringe immer genügend Eigenmotivation mit. Anfangs hatte sie jedoch die ein oder andere Hürde zu meistern: Sie musste lernen, im Wasser unter einem Hindernis durch zu tauchen. „Da haben wir uns echt gefragt: Ist das möglich mit ihrer Körpergröße? Doch sie hat nie aufgegeben. Sie kämpft und versucht immer ihr Bestes zu geben.“ 

Seit ihrem sechsten Lebensjahr ist Leonie beim DRLG. Wöchentlich trainiert sie in der Jugendgruppe, um im Sommer als Rettungsschwimmerin am Baggersee die Badegäste zu beaufsichtigen.

Sport als Prävention und Mut-Macher

Was bleibt, ist ein gesundheitliches Risiko. Bei kleinwüchsigen Menschen wie Leonie ist vor allem die Wirbelsäule gefährdet. Denn bei ihnen ist das sogenannte Hinterhauptsloch verengt. Das ist die größte Öffnung des Schädels und sitzt dort, wo Rückenmark und Gehirn ineinander übergehen. Das Rückenmark wird an dieser Stelle eingedrückt. Aus diesem Grund ist die Gefahr einer Querschnittslähmung größer als bei Normalwüchsigen. Ist das Rückenmark einmal durchtrennt, kann es nicht mehr zusammenwachsen. Trotzdem rät Prof. Dr. med. Klaus Mohnike von der Universitätsklinik Magdeburg seinen Patienten immer zu Sport: „Wenn man einen kranken Knochen hat, ist es gut, einen gesunden Muskel zu haben.“ Die Gefahr, dass man sich eine schwere Verletzung einschließlich Querschnittslähmung zuzieht, sei jederzeit gegeben – auch bei gesunden Menschen. Es hänge immer davon ab, wie gut die Motorik der Person ist. Mohnike betont: „Je besser diese ausgebildet ist, desto besser können Kleinwüchsige fallen, ohne sich zu verletzten.“ Sport kann also nicht nur gefährlich werden, sondern ist auch notwendig und dient als Vorsorge.

Sport hilft Leonie im Alltag fit zu bleiben. So meistert sie auch weite Strecken zu Fuß – trotz ihrer kurzen Beine.

Leonie taucht in das Wasser ein. Ihr Körper gleitet dahin. Nach ein paar Sekunden erreicht ihr Kopf wieder die Wasseroberfläche. Sie beginnt zu kraulen. Sport ist für Leonie nicht nur ein Mittel, um fitter zu werden, sondern auch um neues Selbstvertrauen zu gewinnen: „Mein Selbstbewusstsein sagt: Du siehst gut aus. Trotzdem gibt es Tage, an denen ich mein’, ich bin zu dick. Dann mach’ ich meine Workout-Routine. Danach schau’ ich in den Spiegel und sag’ mir: Jetzt hast du deine Arbeit getan und schaust morgen nochmal rein.“ Das hat Leonie vor zwei Jahren während ihrer sechswöchigen Kur in bayerischen Murnau am Staffelsee gelernt. Damals war sie 14 Jahre alt und zum ersten Mal für eine längere Zeit getrennt von ihren Eltern. Sie hat sich selbst dazu entschieden: „Vor der Kur habe ich gemerkt, ich kann nicht mehr so schnell laufen, da ich ziemlich übergewichtig war. Auch das Aussehen wurde mir immer wichtiger, als ich in die Pubertät kam.“ Auf Kur bekam Leonie die Übungen gezeigt, die sie heute regelmäßig Zuhause macht. Durch einen klaren Ernährungsplan änderte sie ihr Essverhalten. Sie verzichte heute mehr auf Süßigkeiten und habe ein Gespür dafür, wann und wie viel sie esse, sagt Leonie. Letztendlich hätten ihr die Gespräche mit den Psychologen geholfen, ihren Körper anzunehmen, wie er ist. „Diese Zeit hat sie stärker gemacht und größer. Leonie ist selbstständiger geworden“, erinnert sich Leonies Mutter Sandra. 

Anstarren, tuscheln, lachen

Sandra erfuhr bereits im vierten Schwangerschaftsmonat von der Krankheit ihrer Tochter. Denn Achondroplasie kann bereits sehr früh durch einen Ultraschall erkannt werden. Jedes Jahr werden in Deutschland 40 bis 45 Kinder mit der Krankheit geboren. „Leonie war ein Wunschkind. Ich wollte ein Kind, ich wollte schwanger werden“, blickt Sandra zurück. Eine Abtreibung habe für sie nie zur Debatte gestanden.Das ist nun knapp 17 Jahre her. Heute sitzt die 39-Jährige – wie fast jeden Freitag – an einem kleinen runden Tisch im Kiosk des Hallenbads. Ihr Kinn stützt sie auf ihrer linken Hand ab. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen verfolgt sie aufmerksam, wie Leonie ihre Bahnen zieht. „Im Hallenbad sind die Blicke der Leute besonders schlimm“, sagt sie. Das Training findet während dem regulären Badebetrieb statt. Schnell fällt auf: Leonie zieht Aufmerksamkeit auf sich. Doch es bleibt bei starrenden Blicken. Anders sei es, wenn sie mit ihrer Mama einkaufen gehe, erklärt Leonie. „Erst wird gelacht, dann getuschelt und ich höre sie flüstern: Schau mal wie klein und dick die ist“, sagt sie, „ich winke ihnen dann, sodass sie merken: Ich weiß es.“ Die Blicke wenden sich ab, doch das Tuscheln bleibe. Daraufhin gehe sie manchmal gezielt auf die Menschen zu – mit den Worten: „Wenn ihr Fragen habt, dann kommt zu mir, aber dieses Tuscheln möchte ich nicht.“ 

Schon von klein auf bekam Leonie beigebracht, selbstbewusst durch die Welt zu gehen. Sie musste lernen, auf andere Menschen zuzugehen, wenn sie auf Hilfe angewiesen war. Das war Leonie zum Beispiel im Bus auf dem Weg zur Schule, denn als Kind kam sie nicht an den Haltewunschknopf. Jetzt wo sie 16 Jahre alt ist, sei sie immer mehr auf sich allein gestellt, erklärt Sandra. Sie selbst sei von nun an nicht immer an ihrer Seite. An den Halteknopf kommt Leonie mittlerweile. Trotzdem ist sie im Alltag auf Hilfe angewiesen, wie zum Beispiel beim Einkaufen, denn die meisten Regale sind viel zu hoch für sie. 

Beim Einkaufen hat Leonie einige Hürden zu meistern. Das größte Problem: Die Regale sind zu hoch für sie.
Doch Leonie weiß sich zu helfen: Sie schnappt sich einen Hocker und kommt damit selbst an die höheren Regale. Ist kein Hocker in der Nähe, bittet sie jemanden um Hilfe.

Ärmel zu lang, Hosen zu eng

Eine letzte Bahn liegt vor Leonie. Sie hält sich am Beckenrand fest: eine kurze Verschnaufpause. Dann schwimmt sie in Rückenlage die letzten 25 Meter zu Ende. Das war nur die Aufwärmphase. Jetzt sollen sich die Jugendlichen bequeme Kleidung überziehen und damit zurück ins Wasser. Denn im Notfall bleibe nicht mal genug Zeit, die eigenen Klamotten auszuziehen. Das müsse geübt werden. Das Ziel: vier Bahnen in vier Minuten, erklärt Trainerin Daniela. Leonie schlüpft in ihren Pyjama. Er ist weiß und hat lilafarbene Punkte. An den Beinen und Armen ist er ein wenig zu lang. „Es ist nicht leicht, Klamotten zu finden, die mir richtig passen. Da mein Po ziemlich kräftig ist, habe ich vor allem Probleme beim Hosen kaufen. Zum Beispiel hab´ ich vor kurzem eine Jeans anprobiert, die mir gut gefallen hat. Sie hat aber nicht gepasst. Ich konnte sie gerade mal bis zum Knie hochziehen“, beschreibt Leonie. Bei T-Shirts und Pullovern sei es einfacher, da ihr Oberkörper der Länge einer Normalwüchsigen entspricht. Bei langen Oberteilen müssten nur die Ärmel gekürzt werden. Dafür ist Stiefvater Mathias zuständig. Er näht die entsprechenden Teile einfach um. Trotzdem habe sie es als 16-Jährige nicht leicht, was die Mode angeht: „Wenn ich zum Beispiel mit Freunden shoppen gehe, merke ich: Die können das anziehen, was ich nicht tragen kann. In diesen Momenten kommt es dann in mir hoch und ich frage mich: Warum kann ich nicht so sein wie sie?“

"Die" passende Kleidergröße gibt es nicht für Leonie. Oft sind die Ärmel zu lang und die Hosen zu eng.
Leonie trägt am liebsten Kaupzenpullover. Doch Pullover von der Stange passen ihr nicht.
Dieses Problem löst Stiefvater Mathias: Er schneidet das Bündchen ab, kürzt die Ärmel und näht anschließend den Bund wieder dran. Fertig!

Klein zu sein muss kein Nachteil sein

Auch wenn man dem Training eine längere Zeit zusieht, fällt auf: Leonie ist nicht so wie die anderen Rettungsschwimmer in ihrem Alter. Aufgrund ihrer kurzen Arme und Beine schwimmt sie langsamer als die anderen und benötigt mehr Zeit, um eine Bahn zurückzulegen. Das versuche sie auszublenden. Sie ziehe keine Vergleiche und konzentriere sich nur auf sich selbst, betont Leonie. So meistert auch sie die vier Bahnen trotz schwerer Kleidung und das in unter vier Minuten. Völlig außer Kräften zwängt sie sich noch im Wasser aus ihrem Pyjama. Immer wieder taucht sie mit ihrem Kopf unter. Dann schlüpft sie aus dem letzten Ärmel, legt die nassen Teile an den Beckenrand und klettert die Leiter nach oben. Sie wringt das Oberteil und die Hose aus und setzt sich hin. Wieder braucht sie eine Pause. Daniela respektiert das. Doch schon nach wenigen Minuten schickt sie Leonie mit den anderen zurück ins Becken. Thorsten Silbermann, Vorsitzender der DLRG-Ortsgruppe beobachtet das Training von der Bank aus. Er unterstützt Daniela während den Trainingsstunden. „Letztendlich haben Kinder mit einem Handicap genau die gleichen Flauseln im Kopf wie alle anderen auch. Ich muss nicht vorsichtiger mit ihnen umgehen, sondern sie genauso hart bestrafen, wenn sie mal wieder nur Quatsch machen“, betont Silbermann. Als Trainer müsse man aufpassen, dass man diese Kinder nicht bevorzugt, nur weil sie durch ihren Körperbau im Nachteil sind. 

Darin besteht auch der einzige Nachteil, denn die Intelligenz von Kindern und Erwachsenen mit Achondroplasie ist nicht eingeschränkt. Es handelt sich um eine körperliche Behinderung. Trotzdem merke Leonie, wie Menschen sie wegen ihrer Körpergröße behandeln wie ein Kind. „Die meinen, nur weil ich klein bin, bin ich auch im Kopf klein. Das ist aber nicht so! Mittlerweile ist es mir egal, was sie sagen. Ich gehe meinen Weg, sie ihren.“ 

Für Leonie steht zum Ende des Trainings die wichtigste und anstrengendste Übung für heute an: Die Jugendlichen sollen sich gegenseitig im Wasser abschleppen. Sie proben für den Ernstfall. Einer spielt den Schwimmer, der im Wasser bewusstlos wird, einer übernimmt die Rolle des Retters. Leonie soll Lena „retten“ und sie über 50 Meter durch das Becken schleppen. „Mittlerweile bin ich es gewöhnt“, sagt Leonie, „das erste Mal war es schon schwer, eine Person durch das Wasser zu ziehen. Doch durch das Training wurde ich immer besser.“ Die erste Bahn meistert sie ohne Probleme, auch wenn das Gewicht von Lena an ihren Kräften zehrt. Sie erreichen den gegenüberliegenden Beckenrand. Leonie und Lena drehen sich um 180 Grad und machen sich auf den Rückweg: nochmal 25 Meter. Kurz vor dem Ziel streckt Leonie ihre linke Hand hinter sich, mit der anderen hält sie Lena weiterhin fest. Als sie den Beckenrand spürt, sieht man ihr die Erleichterung an. Leonie befreit Lena aus ihrem Griff und klettert hinter ihr aus dem Wasser. Trainerin Daniela klatscht mit Leonie ein. Sie ist sich sicher: „Leonie ist eine wirklich sehr beeindruckende Jugendliche.“