Nachhaltigkeit

Keine Nerven fürs Klima

Ein umweltbewusstes Leben ohne großen Zeitaufwand – ist das überhaupt möglich?
11. Dez. 2019

Erst lese ich: „Ist Netflix schlecht für die Umwelt?“. Als mir dann ein Freund noch erklärt, dass Elektroautos anscheinend gar nicht klimafreundlicher als mein bereits verkaufter Diesel sind, gebe ich fast auf.
Umweltbewusst leben ohne Klima-Experte zu werden – wie soll das gehen?
Ich begebe mich auf die Suche nach einem Weg.

Dr. Lucia Jochner-Freitag besitzt keinen Wäschetrockner, keinen Fernseher, kein Handy und fährt Elektroauto. Sie sitzt in ihrem verschneiten, ländlichen Haus im Chiemgau, nah an der Grenze zu Österreich. Von hier aus kämpft sie für die Zukunft. Sie ist Landschaftsökologin, Umweltpädagogin und Mitgründerin der Initiative „100x Klimaneutral“. 100 Menschen sollen es baldmöglichst sein, die es ihr gleichtun und klimaneutral leben – aktuell sind es 34.
Im Gespräch mit ihr stutze ich spätestens beim Fernseher und dem Handy und erwische mich mit dem Gedanken: „Auf keinen Fall!“ Doch bevor ich mir ein Argument zurechtlegen kann, kommt sie mir mit einer interessanten Aussage zuvor: Beim Klimaschutz muss jeder seinen eigenen Weg gehen.

„Wir haben keine Liste, was ein Einzelner oder eine Einzelne tun muss. Jeder lebt in einer anderen Situation.“

Dr. Lucia Jochner-Freitag, 100x Klimaneutral

„Wir auf dem Land benötigen ein Auto, es geht nicht anders. In vielen Städten hingegen ist es heute Dank öffentlichen Verkehrsmitteln und Carsharing kein Problem, ohne Privatauto zu leben“, so Jochner-Freitag.
Die Bereitschaft scheint da zu sein: Schon vor elf Jahren war jeder zweite Deutsche bereit, selbst etwas aktiv gegen den Klimawandel zu tun, heute sind sogar 85 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass der Klimawandel ohne Einschränkungen im Lebensstil nicht gestoppt werden kann. Allerdings liegen zwischen Bereitschaft und Handeln oft Welten, das sehe ich an mir selbst: Der Wille ist da und doch scheint es mir oft unmöglich, das Richtige zu tun und wirklich umweltbewusst zu handeln. Versuchen will ich es trotzdem.

Der eigene negative Beitrag

Ich weiß nicht, an welchen Stellschrauben ich drehen muss, um eine große Wirkung auf meine persönliche Klimabilanz zu erzielen. Vielleicht sollte ich dafür erst einmal herausfinden, wie hoch mein CO2-Verbrauch ist und in welchen Bereichen dieser entsteht. Der CO2-Rechner des Umweltbundesamtes muss her. Vor zwei Jahren nutzten noch 60.000 Menschen den CO2-Rechner im Jahr, dieses Jahr sind es schon jetzt mehr als 600.000. Es scheint, als sei ich heutzutage nicht der Einzige mit diesen Gedanken.

Der durchschnittliche CO₂-Verbrauch eines Deutschen.

Wie wohl schon viele vor mir stelle ich ernüchtert fest: Mein jährlicher CO2-Ausstoß liegt viel zu hoch. Laut Weltklimarat sollten die CO2-Emissionen pro Weltbürger bei nicht mehr als zwei Tonnen liegen – ich bin bei zehn Tonnen und damit sogar noch knapp unter dem Deutschen Durchschnitt. Den größten CO2-Ausstoß habe ich, wie der Durchschnitt auch, nicht im Bereich der Mobilität oder der Ernährung, sondern mit mehr als vier Tonnen im Bereich: „Sonstiger Konsum“.

Noch mehr Fragen

Was der „Sonstige Konsum" sein soll, ist nicht deutlich definiert. Es muss etwas mit dem Kaufverhalten zu tun haben, aber mehr weiß ich nicht. Erneut erhalte ich keine klare Antwort für mich. Obwohl ich mich jetzt sogar zeitintensiv damit befasse, wird das Fragezeichen auf meiner Stirn nur noch größer! Ich frage mich: Wie soll denn jemand, der nach einem Zehn-Stunden Tag nach Hause zu seiner Familie kommt, seine Klimabilanz wirkungsvoll verbessern?

Kompensation

Dr. Michael Bilharz vom Umweltbundesamt ist verantwortlich für den CO2-Rechner, lebt ebenfalls klimaneutral und hat ein Buch geschrieben: „Key Points des nachhaltigen Konsums". Am Telefon erklärt er mir: „Wenn ich überhaupt keine Zeit habe und eigentlich komplett am Anfang stehe, ist der erste Schritt: Ich hole mir Hilfe, indem ich kompensiere."

„Ich kompensiere meinen CO2-Verbrauch, indem ich online entsprechende Projekte unterstütze. Das ist das Einfachste, das ich machen kann.“ 

Dr. Michael Bilharz, Umweltbundesamt

Aber ist diese Methode nicht irgendwie wie ein Ablassbrief?
Er widerspricht: „Viele haben eine Putzkraft zuhause, die die eigene Wohnung sauber macht. Unter fairen Arbeitsbedingungen und mit guter Bezahlung ist dagegen nichts einzuwenden. So ist das auch mit der Kompensation.“

Nichtsdestotrotz hat Dr. Bilharz bei mir mit dieser Aussage einen wunden Punkt getroffen. Jetzt frage ich mich nämlich auch noch, woher ich denn weiß, welche Projekte ich unterstützen sollte. Welche sind denn tatsächlich wirkungsvoll und fair? Ich kann doch nicht nach Nicaragua reisen und diese Projekte untersuchen! Ich habe keine Zeit mich mit alldem zu befassen! Ich möchte doch einfach nur das Richtige tun.

Endlich einfache Antworten


Dr. Bilharz antwortet mir in ruhigem Ton: „Es braucht Vertrauen. Im Umweltbereich sind die Themen oft sehr komplex. Deshalb brauchen wir glaubhafte Informationen, Organisationen und Menschen, die uns bei diesen Entscheidungen helfen. In erster Linie: Labels.“

„Wir haben allein im Umweltbundesamt 1.500 Mitarbeiter, die verschiedenste Themen bearbeiten. Und jetzt erwarte ich vom Verbraucher, dass er all diese Themen immer parat hat?“

Dr. Michael Bilharz, Umweltbundesamt

Bei der Suche nach meinen neuen Vertrauenspartnern, den Labels, finde ich nach ein paar Sekunden im Netz schon eine ganze Liste. Angewendet auf meine Fragen: „The Gold Standard“ für Klimaschutzprojekte, das „EU-Energielabel“ für Elektrogeräte und das „PKW-Label“ das mir sagt, wie effizient mein Auto ist. Endlich einfache Antworten für dieses komplexe Thema.

Schnelle, dauerhafte Änderungen

Dr. Bilharz hat noch einen weiteren, simplen Rat parat: „Ändern Sie ihre Alltagsstrukturen. Wenn Sie ihren Stromanbieter einmalig wechseln, haben Sie dauerhaft etwas für Ihren CO2-Fußabdruck getan.“ Das Gleiche gelte zum Beispiel auch für das Verkehrsverhalten (Umstieg auf Carsharing, funktionstüchtiges Fahrrad) und den Erwerb von Elektrogeräten, die energieeffizient sind. „Durch diese strukturellen Änderungen müssen Sie nicht jeden Tag darüber nachdenken: Habe ich jetzt zu viel Fleisch gegessen oder ist es schon dunkel genug, damit ich das Licht anmachen darf?“

Eine Stunde fürs Klima

Der Stromanbieter-Wechsel dauerte eine halbe Stunde, meine Kompensationszahlung 20 Minuten und der Blick auf das Label meines Fernsehers im Laden nur wenige Sekunden. Selbst auf die Netflix-Frage vom Anfang habe ich im Netz schnell einen vertrauenswürdigen Helfer gefunden: Eine Browsererweiterung, die mir anzeigt, wie viele CO2-Emissionen bei meiner Internetnutzung entstehen.

Ich bin immer noch weit weg davon ein Experte zu sein, aber nah dran, ein deutlich umweltbewussteres Leben zu führen.