Sinnvoll oder überflüssig?

Fünf skurrile EU-Normen

Laut Norm müssen die Zutaten in „spiralförmiger Bewegung“ auf dem Pizzaboden verteilt werden. Schmeckt's so wirklich besser?
28. Juni 2018

„Brüssel leidet unter Regulierungswahn.“ Das wird der Europäischen Union (EU) von Gegnern häufig vorgeworfen. Mehr als 21 000 Richtlinien umfasste das europäische Normenwerk Ende 2017 – kein Wunder, dass man als Verbraucher da den Überblick verliert.

1. Maximal 20 Millimeter zwischen den Stäben eines Grillrosts

Während der Halbzeitpause bei der Fußball-WM schnell etwas Nervennahrung vom Grill holen: Zum Glück ist das Lieblingswürstchen nicht zwischen den Stäben des Rosts in die glühenden Kohlen gerollt. Haben wir das der EU zu verdanken? Die DIN EN 1860-1 legt fest: Der lichte Abstand zwischen den Stäben des Grillrost darf nicht größer als 20 Millimeter sein. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, woher die Norm kommt, gibt es nicht – ihr Ursprung liegt bereits im Jahr 1977. Um ihre Produkte langlebiger zu machen, wurde sie damals laut dem Deutschen Institut für Normung (DIN) vermutlich von Herstellern in die Wege geleitet. Oliver Boergen vom DIN nennt Gründe, die für das Einhalten einer Norm sprechen:

Eine Norm bringt viele Vorteile: effizientere Prozesse, bessere und sicherere Produkte und nicht zuletzt Rechtssicherheit.

Oliver Boergen

Zudem sehen viele Gesetze vor, dass Produzenten die anerkannten Regeln der Technik einhalten. Anders sieht es bei der Herstellung von Einweggrills aus – die sind von der Norm nämlich ausgenommen. Deshalb ist beim Grillen im Park besondere Vorsicht um das Grillgut geboten.

Was sind DIN-Normen?

Die wohl bekannteste DIN-Norm ist die, die uns auf einheitlich großem Papier schreiben lässt: dem DIN-A4-Papier. Seit mehr als 100 Jahren erarbeitet das Deutsche Institut für Normung Richtlinien, die auch international gültig sind. 85 Prozent der Arbeit des DIN ist heute nach eigenen Angaben international und trägt deshalb die Bezeichnung DIN EN oder DIN ISO. Das Besondere daran: Jeder Bürger kann eine DIN-Norm beantragen. Gemeinsam mit potenziell Betroffenen, also Verbrauchern, Herstellern und Dienstleistern wird die Richtschnur dann diskutiert und formuliert.

2. Gibt's Pommes jetzt nur noch in „Goldgelb?

Manche mögen sie am liebsten hell und weich – andere bevorzugen die goldbraune und knusprige Variante: Wie die perfekten Pommes aussehen, war bisher eine Philosophie für sich. Damit ist jetzt Schluss, denn die EU hat im April eine Verordnung veröffentlicht, um den Acrylamidgehalt in bestimmten Lebensmitteln zu senken. Acrylamid erhöht laut einer Studie das Krebsrisiko und kann bei zu langem Frittieren von Kartoffelerzeugnissen entstehen. Schlechte Nachrichten also für alle Knusperfans. Denn für das Ausbacken von Pommes wird Lebensmittelherstellern ab sofort eine Temperatur von 160 bis 175 Grad empfohlen, höchstens so lange, bis sie  eine goldgelbe Farbe aufweisen. Was genau „goldgelb“ bedeutet, bleibt offen. In diesem Dokument sind auch Frühstückscerealien, feine Backwaren wie Zwieback, Plätzchen und Kekse sowie gerösteter Kaffee aufgeführt.

Die Verordnung hat eine rege Debatte ausgelöst: Einige Kritiker sagen, es sei nicht eindeutig nachgewiesen worden, wie schädlich Acrylamid wirklich ist, andere sind der Meinung, dass der schädliche Stoff schon jahrelang bekannt sei und die EU viel zu spät reagiert habe. Was denken Stuttgarter über die Norm?

Ist das noch goldgelb oder schon goldbraun?

3. Weshalb auch im Flachland ein Seilbahngesetz gilt

Seilbahngesetze hatte bisher jedes deutsche Bundesland. Berge und Seilbahnen nicht. Während im hügeligen Schwabenland Seilbahnen Menschen in luftige Höhen tragen, sucht man in flachen Ländern wie Mecklenburg-Vorpommern vergeblich danach. Dennoch hat es dort bis 2016 aufgrund einer EU-Richtlinie ein Seilbahngesetz gegeben. Da Seilbahnen im föderalen Deutschland zum Nahverkehr zählen, der wiederum Ländersache ist, gab es diesbezüglich 16 unterschiedliche Gesetze – auch in jenen Ländern, die weder von Anhöhen noch durch Seilbahnen geschmückt werden.

Klingt umständlich? War es auch. Deshalb wurde die Richtlinie nun in eine Verordnung umgewandelt. Das macht einen großen Unterschied, denn als Verordnung gilt das Dokument wie ein Gesetz – verbindlich für alle europäischen Mitgliedstaaten. Alle Bundesländer haben jetzt also eine einheitliche Regelung bezüglich Seilbahnen, ganz egal, ob die Einwohner dort in Gondeln durch die Lüfte schweben – oder endlos in die Weite blicken.

Normen, Verordnungen, Richtlinien: Das ist der Unterschied

  • Die Einhaltung einer Norm ist grundsätzlich nicht verpflichtend. In einigen Gesetzen wird jedoch auf europäische Normen verwiesen. Um die Gesetze einzuhalten, kann es dann empfehlenswert oder sogar verpflichtend sein, diese zu erfüllen.
  • Europäische Richtlinien definieren nur ein bestimmtes Ziel, das von den Mitgliedstaaten erreicht werden soll. Um dieses zu erreichen, müssen die Länder eigenständig Gesetze verabschieden.
  • Verordnungen sind verbindliche Rechtsakte, die automatisch in allen Mitgliedstaaten als Gesetze gelten.

Mit der Standardisierung von Produkten, Dienstleistungen oder Verfahren möchte die EU Qualität, Sicherheit und Zuverlässigkeit erreichen.

4. Schreibt die EU Kondomlängen vor?

Ein beliebtes Argument bei EU-Gegnern für den europäischen „Bürokratiedschungel“: Die EU reguliere die Länge von Kondomen. Tatsächlich wurden Kondome 1993 als medizinische Produkte eingetragen, unter anderem deshalb, weil die Bekämpfung von Aids in den Achtzigerjahren ein wichtiges Thema war. Seitdem empfiehlt eine Richtlinie Herstellern eine Mindestlänge von 16 Zentimetern, einen Durchmesser von 4,4 Zentimetern sowie eine Wandstärke von 0,04 Millimetern. Das mag vielleicht irrsinnig klingen – ergibt aber Sinn. Ziel des Maßstabs ist es, Qualitäts- und Sicherheitsstandards zu gewährleisten. Einen großen Einfluss auf Verbaucher hat die Norm allerdings nicht. Die meisten handelsüblichen Kondome sind mit 18 Zentimetern ohnehin länger als die Vorgabe.

5. Pizzabacken nach EU-Norm

Einen Durchmesser von 35 Zentimetern, in der Mitte 0,4 Zentimeter stark (eine Toleranz von plus zehn Prozent ist erlaubt), am Rand ein bis zwei Zentimeter dick: Nein, hier werden nicht die Maße einer Schraube beschrieben, sondern die Beschaffenheit einer genormten Pizza Napoletana. Der italienische Verein der echten neapolitanischen Pizza setzt sich seit 1984 für deren Erhalt ein. Im Jahr 2010 wurde der beliebte Teigfladen deshalb von der EU in das Register für garantiert traditionelle Spezialitäten eingetragen. Seitdem beschreibt eine Verordnung Herstellung und Aussehen im Detail. Von Zutaten über Zubereitung, Geh- und Backtemperatur, korrektes Backen bis hin zu perfekter Lagerung ist darin alles enthalten. Hat Pizzabacken also nichts mit Übung zu tun, sondern einfach nur mit peniblem Einhalten eines europäischen Dokuments? Geschmackssache. Jedenfalls bietet der Verein Schulungen für etwa tausend Euro an, die Köchen das Backen nach Norm lehren soll.

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Daten: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:040:0017:0025:DE:PDF | Quelle: Luisa Jilg