Technischer Fortschritt

Früher Mensch, heute Maschine

Die 93-jährige Rentnerin Hedwig Wahl telefoniert und sieht sich nebenbei die Nachrichten im Fernsehen an.
11. Dez. 2019

Wandel und Fortschritt gehören zum Leben. Das sagen mir 93 Jahre Lebenserfahrung. Im Gespräch mit meiner Enkelin Julia stellten wir fest: Was früher mechanisch betrieben wurde, ist heute elektrisch. In meiner Jugend gab es keine Eilmeldungen auf dem Smartphone, wichtige Nachrichten wurden noch erlebt.

Meine Enkelin fragte mich vor kurzem, was ich denn zur Digitalisierung zu sagen hätte. Für mich als Rentnerin ist das ein schwieriges Thema. Konnte ich etwas mit dem Begriff anfangen? Rein gar nichts. Meine Enkelin erklärte es mir: Das 20. Jahrhundert war das Zeitalter der digitalen Wende. Erfindungen, wie internetfähige Geräte oder automatisierte Technik im Haushalt, erleichtern nun das private und berufliche Leben.

Zuerst sprachen wir über vergangene Zeiten. Das erste Medium, das unsere Familie nutzte, war das Radio. Das war 1936. Genutzt wurde es, um zu verfolgen, was Adolf Hitler dem Volk mitteilte. Ich weiß noch ganz genau, wie damals die ganze Nachbarschaft in unserem Haus zusammenkam. Denn nur wenige Haushalte hatten damals ein Radio, geschweige denn ein Telefon. Den ersten Schwarz-Weiß-Fernseher hatten wir ab dem Jahr 1956. Neun Jahre später gab es dann Farbfernsehen. Das war schon ein großer Fortschritt. 

Meist beschafften meine Schwester und ich uns wichtige Informationen selbst. Wir gingen kurz vor Ende des Krieges auf den Kirchturm im Dorf, da die Kriegsgeräusche immer lauter und bedrohlicher wurden. Von dort hielten wir Ausschau nach den Amerikanern. Danach versteckten wir zur Sicherheit unsere vollen Dieselkanister, sonst hätten die Soldaten unseren letzten Treibstoff mitgenommen. Daraufhin wollten wir auf einen weiteren Aussichtspunkt, einen Hügel ganz in der Nähe gehen. Bevor wir Schwestern allerdings dorthin loslaufen konnten, schlug schon die erste Granate ins Dorf ein. In den umliegenden Ortschaften brannte es. Die Fliegerstaffeln waren zuerst da und haben weiß Gott alles eben gemacht. Über den Volksempfänger, wie es damals noch hieß, wurden zwar Sondermitteilungen verbreitet, der Einmarsch wurde jedoch nie im Radio gebracht. Ich denke aber, hätten wir früher schon Eilmeldungen über das Internet erhalten, wäre trotzdem alles gleich verlaufen. Wichtige Mitteilungen, wie das Kriegsende erreichten unsere Familie nicht über ein Medium. Der Franzose kam ins Haus und verkündete, dass die weiße Fahne am Ortseingang rausgehängt wurde. 

An viele Erlebnisse erinnere ich mich noch ganz genau: Als ich in meiner Kindheit das erste Mal einen Zeppelin gesehen habe, war ich so eingeschüchtert, dass ich am liebsten unter den Rock meiner Mutter geschlüpft wäre. Ich kann mich bis heute an das braunkarierte Kleid erinnern, welches meine Mutter an diesem Tag getragen hat. Meine Enkelin meinte erstaunt, sie wisse nicht einmal mehr, was sie vor zwei Wochen unternommen hat. In meiner Kindheit gab es zuerst kein Radio, kein Fernsehen. Alles was man gesehen und erfahren hat, war ein Erlebnis.

Mir fällt auf, dass die jungen Leute ständig von irgendetwas berieselt werden. Sei es nur die Musik, die sie in den Ohren haben. Es ist völlig klar, dass vieles dann außer Acht bleibt und gar nichts wirklich wahrgenommen wird, wenn die Menschen ständig auf den Kasten glotzen. Die schönsten Orte haben für meine Enkeltochter keinen Reiz mehr, weil alles im Internet zu betrachten ist. Aber wir früher „hen immer aufs Erlebnis gehorcht.“

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Internetnutzung von Personen nach Altersgruppen | Quelle: Private Haushalte in der Informationsgesellschaft (IKT)

Von Handys und dem Internet allgemein lasse ich meine Finger weg. Ich bin dafür zu alt. Die Jugend von heute hat von klein auf gelernt, wie damit umgegangen wird. Ich nicht. Außerdem möchte ich gar kein Handy haben, wegen meines Herzschrittmachers. Die Strahlung, die von Smartphones ausgeht, kann den Herzschrittmacher negativ beeinflussen und die Funktion stören. Meine Gesundheit ist mir wichtiger, als meiner Familie Bilder von meinem Mittagessen zu schicken. 
Für mich scheint es so, als wolle die Forschung darauf hinarbeiten, immer mehr zu digitalisieren. Dabei wird zu wenig Rücksicht auf Senioren genommen. Alltägliche Dinge wie Zugtickets oder das Bezahlen von Einkäufen – alles digital. Aber alte Leute können nicht immer damit umgehen. Nur weil alles digitalisiert ist, kann man ja die alten Menschen nicht ins Altersheim abschieben, wenn sie im Alltag nicht mehr zurechtkommen. 

 

Ich finde aber nicht alles an dieser Internetgeschichte negativ.

Zum Beispiel: Die Verbundenheit mit Menschen auf der ganzen Welt, finde ich sehr gut. Meine Schwester wohnt in Amerika und so kann ich ihre Stimme hören, wenn wir telefonieren. Auch Bilder und Videos von Verwandten zeigt mir meine Enkelin auf ihrem Handy. 
Und die Möglichkeit, die Heizung von so einem elektrischen Gerät an- und auszuschalten, erleichtert viel. Oder die Waschmaschine zu starten. Das ist eine ganz tolle Sache für alle Arbeitstätigen. 
Eine Erfindung gibt es, die sagt mir besonders zu: Online-Lebensmitteleinkäufe. Viele alte Menschen können nicht mehr wirklich aus dem Haus und sind davon abhängig, dass andere Menschen für sie einkaufen gehen. Da wäre das doch eine super Sache. Dafür würde sogar ich den Umgang mit dem Internet lernen.

Ich habe keine Angst vor dem, was in Zukunft noch kommen wird. Seit ich geboren bin, hat sich so viel verändert in Sachen technischer Fortschritt. Angefangen im Kleinen: Küchenmaschinen und andere Gebrauchsgegenstände wurden elektrisiert. Sei es die Spülmaschine, der Elektroherd und vieles mehr. Für euch ist Duschen und Baden mit heißem Wasser aus der Leitung eine Selbstverständlichkeit. Doch das war nicht immer so. Auf dem Holzofen erhitzten wir Wasser und wuschen uns in Zubern. All diese Prozesse der Technisierung sind schon abgeschlossen und es ging trotzdem weiter. Auch in der Landwirtschaft. Erst alles von Hand, und dann übernahm die Maschine. Der Fortschritt kann nicht aufgehalten werden. Das ist auch gut. Viel Arbeit wird den Menschen dadurch erleichtert und abgenommen.

Und wie gehe ich damit um, den ganzen Fortschritt zu realisieren und zu verarbeiten? Mit Veränderungen muss man sich eben abfinden, so wurde ich erzogen. Der Wandel gehört zum Leben: „Des isch halt so.“