Kinder von Hartz-IV-Empfängern

Einmal Chancengleichheit - aber bitte nicht für alle!

„Jugendliche, die zu Hause finanzielle Probleme haben oder bei denen das Sozialverhalten der Familie schwierig ist, leben viel auf der Straße.“ - Gerald Bosch, Sozialarbeiter.
26. Juni 2020

Kinder, die mit Hartz IV aufwachsen, kämpfen oft mit Stigmatisierung, Isolation und häuslicher Gewalt. Das ist doch unfair, denn jeder sollte die gleichen Chancen haben. Leicht gesagt, nichts getan. Ist uns bewusst, wie schwer es für Kinder aus armen Verhältnissen ist, sich im sozialen System hochzuarbeiten?

„Ich habe mich im Stich gelassen gefühlt. An wen wende ich mich, um aus Hartz IV herauszukommen?“, fragt Sarah-Lee Heinrich in der Sendung Maischberger vergangenen September. Die damals 18-Jährige ist Tochter einer alleinerziehenden Mutter und Hartz-IV-Empfängerin. Im Herbst 2018 twittert sie „Hartz 4 ist der größte Scheiß“ und bekommt über Nacht die Aufmerksamkeit Deutschlands. Ihr gegenüber sitzt der CDU-Politiker Oswald Metzger. Er argumentiert, dass seit der Einführung von Hartz IV sehr viel mehr für Sozialleistungen ausgegeben werde. Er zählt auf: Der Staat zahle die Warmmiete, die Regelsätze für Eltern und Kinder und die Krankenversicherungen. Man habe im Grunde so viel Geld wie ein Geringverdiener zur Verfügung. Klingt doch so, als würde sich der Staat um die Kinder in Hartz-IV-Familien ausreichend kümmern. Die Realität sieht allerdings anders aus.

Du musst nur hart genug arbeiten

Allgemeiner Tenor scheint zu sein, dass Kinder nur noch die nötige Motivation aufbringen müssten. Denn wer in Deutschland etwas erreichen möchte, der muss lediglich hart genug arbeiten, oder? Auch Sarah-Lee wollte sich, wie viele in ihrem Alter, mit einem Minijob Geld dazuverdienen und für ihren Auszug sparen. Allerdings würden ihr von 450 Euro lediglich 170 Euro als Freibetrag bleiben und der Rest wird als Einkommen mit ihrem Hartz-IV-Satz verrechnet. Hier wird zwar nur der Regelsatz des Kindes reduziert, aber dieser ist genauso für die Existenzsicherung nötig. Heißt: Das eigen verdiente Geld muss genutzt werden, um den Abzug wieder auszugleichen.

Wenn jemand in der Lage sei, seinen Bedarf zu decken, habe er keinen Anspruch auf Sozialleistungen, erklärt Cornelia Schröder, U25-Beraterin des Jobcenters Stuttgart. Soziale Gerechtigkeit nenne sich das. Ich finde, es ist genau das Gegenteil. Hier werden Kinder für ihre Arbeit eher bestraft als belohnt. Und ich verlange keine zusätzliche Belohnung, sondern einfach nur Gleichbehandlung. „Man muss mehr arbeiten. Und das nicht, weil man weniger kann, sondern weil man mehr auf den Tisch legen muss, um anerkannt zu werden“, erklärt Sozialwissenschaftlerin Daniela Schiek von der Uni Hamburg.

Freibeträge, Einkommen & Bedarfsgemeinschaft kurz erklärt:

Eine Bedarfsgemeinschaft entsteht, wenn Arbeitslosengeld-II-Bezieher*innen mit erwerbsfähigen Personen im gleichen Haushalt leben und gemeinsam wirtschaften. Darunter fallen auch Kinder im Alter von 15 bis 25 Jahren, wenn diese noch zu Hause wohnen.

Das Einkommen der Kinder in Bedarfsgemeinschaften wird auf den jeweiligen Regelsatz (Hartz IV für Kinder) angerechnet. Je höher das Einkommen, desto geringer der ausgezahlte Regelsatz des Jobcenters.

Bevor das tatsächliche Einkommen auf den Arbeitslosengeld-II-Satz angerechnet wird, werden die jeweiligen Freibeträge abgezogen. 
100 Euro pauschaler Freibetrag
20 Prozent Freibetrag bei einem Einkommen zwischen 100 – 1.000 Euro
10 Prozent Freibetrag bei einem Einkommen zwischen 1.000 - 1.200 Euro

"Der Schlüssel, um sich selbstständig zu machen, ist der Auszug." - Daniela Schiek. (Symbolbild)

Ungleichheit bleibt Ungleichheit

Ist für die jungen Leute, die sich aus der Armut herausarbeiten wollen, denn eine Chancengleichheit gegeben? Der Staat und Behörden wie das Jobcenter sagen ja. Man muss ihnen auch zu Gute halten, dass es ein großes Angebot von der Berufsberatung bis hin zur Unterstützung beim Umzug gibt. Allerdings fällt genauso oft der bekannte Satz: „Das muss im Einzelfall geprüft werden“. Gerald Bosch, langjähriger Sozialarbeiter der Mobilen Jugendarbeit Stuttgart, meint: „Da wird minimal etwas abgefedert und nach außen der Eindruck vermittelt, dass etwas getan wird, aber Ungleichheit bleibt Ungleichheit.“

Betrachtet man unser Bildungssystem, könnte man meinen, es herrschen vermeintlich gleiche Bedingungen und nur die eigene Leistung zählt. Grundsätzlich ja. Aber was, wenn der Platz zum Lernen zu Hause fehlt, da sich die fünfköpfige Familie nur eine kleine Dreizimmerwohnung leisten kann? Oder kein Geld für einen Laptop vorhanden ist, welcher vor allem in Zeiten von Homeschooling so dringend benötigt wird? Da sind dann auch die gutgemeinten 150 Euro Zuschuss vom Staat doch etwas wenig.

„Das ist die Gewalt, die die Kinder weg- und antreibt. Dieser unbedingte Wille, zu überleben. Im Amerikanischen werden diese Kinder auch Überlebende von schwierigen Verhältnissen genannt.“

Daniela Schiek, Sozialwissenschaftlerin

Ein Antrieb betroffener Jugendlicher sei oft die Gewalt in Familien, berichtet Schiek. Kinder von gewalttätigen Eltern hielten es in ihrem sozialen Umfeld nicht mehr aus und gingen häufig auf die Straße. Das kann zwei Ausgänge haben: Sie rutschen ab oder sie schaffen den Sprung nach oben. Letzteres aber meist nur mit Unterstützung von außen. Kinder benötigen dann sogenannte Sozialpat*innen, die die kulturelle Elternschaft und Motivation übernehmen. In vielen Fällen sind das Sozialarbeiter*innen, denen sich die Jugendlichen anvertrauen.

Jugendliche, die es zu Hause nicht mehr aushalten, treffen sich auf der Straße. (Symbolbild)
Der Moltkeplatz in Stuttgart ist ein beliebter Treffpunkt für die Jugendlichen.

Von Scham zu Stolz

Aber wie leicht ist es wirklich, über Armut zu sprechen? Ich habe drei Expert*innen gefragt und unterschiedliche Meinungen erhalten: Cornelia Schröder findet, dass junge Hartz-IV-Empfänger*innen noch immer nicht gerne über ihre finanzielle Situation reden. Gerald Bosch hingegen kann bestätigen, dass Jugendliche diesbezüglich immer offener werden und das Thema an Scham verliert. Daniela Schiek erklärt, dass Menschen, die der Armut entkommen konnten, sogar mit Stolz ihre Herkunft betonen und wie weit sie es geschafft haben. Das würden wahrscheinlich viele machen, denn dadurch gewinnt die eigene Leistung an Wert.

„Sie möchten nicht wissen, was hinter vorgehaltener Hand über Kinder aus Sozialhilfe-Familien gesagt wird. Und das sind auch Kolleg*innen und Professor*innen.“

Daniela Schiek, Sozialwissenschaftlerin

Ob Jugendliche darüber auch gerne mit einer fremden Person wie mir reden würden, kann ich leider nicht sagen. Auf der Suche nach einem oder einer Protagonist*in bin ich gescheitert. Aber vielleicht ist genau das auch ein Zeichen. Die Angst vor gesellschaftlicher Verurteilung ist noch immer da und dafür verantwortlich sind wir, die Gesellschaft. Wir bevorzugen oft Leute, die uns ähnlich sind, mit denen wir uns gut vergleichen können. Das zieht sich von der Freundeswahl bis zur Personalrekrutierung. Kurz gesagt: Wir geben Menschen, die aus anderen Lebensverhältnissen kommen, oft keine Chance. Aber genau an diesem Punkt brauchen wir ein gesellschaftliches Umdenken. Man muss auch bereit sein, ein Stück vom Kuchen abzugeben.