Vergeben und vergessen?

edit.Relationshipspecial Corona Teil 2

Vergeben zur Coronazeit.. Was kann man tun? (Symbolbild)
13. Mai 2020

Vielen hat Corona das beschert, was man sich doch so lange sehnlichst gewünscht hat: Zeit mit seinem Partner / seiner Partnerin zu verbringen. Endlich mal Zeit. Viel Zeit. Zu viel Zeit?

Ela* und Simon* sind seit drei Jahren ein Paar, wohnen seit sechs Monaten zusammen, sind beide berufstätig und, wie viele andere, durch Corona dem Aufeinanderhocken im Home Office zum Opfer gefallen. "Ich liebe ihn, könnte ihn momentan aber genau so gut täglich aus dem Fenster werfen", erzählt mir Ela bei einem Skype-Call, als Simon mal kurz weg ist. Das ständige Zusammensein, keine wirkliche Abwechslung und, dass man sich nicht aus dem Weg gehen kann, sich nichts zu erzählen hat oder der Stillstand: daran sind sie nicht gewohnt. Die ohnehin schon strapazierten Nerven fordern ihre Beziehung heraus: Lieben sie sich wirklich noch? Funktioniert diese Liebe nur, wenn man sich nicht so oft sieht? Sollte man sich trennen, wenn man sich oft streitet? Ab wann ist es zu oft? All diese Fragen stellt sich Ela. Und auch ich frage mich, wie das eigentlich ist: Wie viel Streit ist in einer Beziehung noch gesund? Ab wann wird es brenzlig?

Klar ist, dass man den Partner / die Partnerin nochmal komplett neu kennenlernt, wenn man zusammenzieht. Wie er seine Socken faltet, wie ordentlich oder unordentlich sie ist, was man eigentlich zu Hause so tut, um zu entspannen oder sich vom Arbeitsalltag abzureagieren - vielleicht blieb einem die ein oder andere Sache bisher erspart und nach dem Umzug merkt man: Eigentlich ist dieser Mensch ein vollkommen anderer, als der, den man zu kennen glaubte. Komme ich damit klar?

Ist das ein neuer Mensch?

Jetzt, zu Coronazeiten, kann sich dieses Blatt nochmal auf ganz andere Art wenden. Mit manchen Eigenheiten des Gegenübers kam man klar, weil man selbst immer aus der Situation flüchten konnte, sich in der Zeit zum Sport begeben hat oder zu Freunden oder mit der Clique feiern ging. Doch jetzt ist man der Situation gänzlich ausgesetzt, keine Fluchtmöglichkeit, kein Ausweg. Als würde eine Stimme vom Himmel rufen: „Stelle Dich seinen Schwächen!“, „Komme mit ihrer Unordentlichkeit klar!“, „Findest Du es wirklich gut, dass er dauernd zockt?“ Die Trennungsrate steigt, Beziehungen gehen auseinander.

Meine Interviewpartnerin und sogenannte Liebeskummertherapeutin Juliette Boisson kann dazu nur sagen: „Es wird aber auch viele Corona-Babies geben!“ Eine Chance für die Beziehung, neu aufzuleben oder doch die Offenbarung, dass man die Zukunft nicht miteinander verbringen sollte?

Tipps für frischen Wind

„Man muss ja nicht direkt die Flinte ins Korn werfen“, sagt Boisson, als wir telefonieren, und ich stimme zu. Corona könne auch als Chance gesehen werden, sich als Paar schätzen zu lernen – oder dies eben nochmal auf ganz neue Weise auszudrücken. Hierbei sei es wichtig, nicht nur seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse im Kopf zu haben, sondern auch die Bedürfnisse des Anderen. „Sätze wie „Ich bin froh, mit Dir zusammen zu sein, alleine wäre das gerade echt nichts“ können hier eine echt gute Methode sein und könnten Wunder wirken“, erklärt sie überzeugt. Geborgenheit und Trost seien nämlich gerade das, was man in Corona-Zeiten bräuchte. Außerdem könne man versuchen, dem Partner auf diese Weise Ängste zu nehmen, sich nicht nur selbst als Opfer zu sehen und Wertschätzung auf neue Art in die Beziehung zu bringen. In drei Tipps fasste sie mir zusammen, was man in der strapazierten Corona-Situation machen könnte, um frischen Wind in die aktuell von Langeweile oder Trockenheit geplagte Beziehung zu bringen:

1. Wertschätzend miteinander umgehen (sich zum Beispiel für selbstverständlich erscheinende Dinge zu bedanken: „Danke, dass Du den Müll herausgebracht hast.“)

2. Toleranz gegenüber den Eigenarten des Anderen zeigen („Wenn es mich stört, dass Du abends zockst, gehe ich eben in ein anderes Zimmer und lese ein Buch, bis Du fertig bist.“)

3. Das Große und Ganze im Blick behalten (schöne Erinnerungen zum Beispiel stärker gewichten, auf die Zeit nach Corona warten und gemeinsame Pläne schmieden)

Wenn zudem beide im Home Office arbeiten, ist es oft günstig, sich in zwei verschiedenen Räumen sein Büro aufzubauen, um eine klare und vom Privatleben getrennte Arbeitsatmosphäre zu kreieren. Die Mittagspause dann miteinander zu verbringen, kann viel romantischer und erfrischender sein, wenn man sich den Vormittag über gar nicht gesehen hat - wie im normalen Leben eben auch. Solche "Dates" sind auch am Abend möglich, einfach mal gemeinsam spazieren gehen oder einen Film schauen, wie damals, als alles noch frisch und aufregend war.

Glück im Unglück möglich?

Doch ab wann weiß man, dass eine Trennung angebracht wäre? Warum wird es manchmal nicht besser, trotz des eigenen Bemühens und warum fühlt man sich immer noch unglücklich?

Tja, für manche ist leider nur eine Trennung die Lösung für das Problem – so hart es auch klingen mag. Manchmal liegt es daran, dass man einfach nicht zusammenpasst, manchmal daran, dass man sich entliebt hat oder auseinandergelebt, und manchmal auch an sich plötzlich ändernden Umständen wie Tod oder Betrug, erzählt mit Juliette Boisson aus ihrer Erfahrung. Die Frage, ob man sich trennen solle oder nicht, stelle sich Tag für Tag in ihrer Praxis.

Aber was passiert eigentlich bei einer Trennung und warum hat man Angst davor?

„Leiden ist sehr subjektiv“, antwortet mir Boisson, „manchen fällt es sehr schwer, vielleicht, weil die Entscheidung nicht selbst getroffen wurde, manchen „leichter“, weil es eine bewusste Entscheidung gewesen sein mag. Daher kann auch die Angst kommen, sich überhaupt zu trennen.“

Wenn man verlassen worden sei, sagt sie, sei das ja immer auch Ablehnung. Man habe es nicht beeinflussen können, kriegt quasi gesagt „Ich möchte mein Leben nicht mehr mit Dir verbringen“, fühlt sich im Selbstwert und -bewusstsein verletzt. Wie solle das Leben jetzt noch weitergehen? Ist man überhaupt noch liebenswert? Ist man nicht gut genug? Wie geht ein Leben ohne PartnerIn?

Bloß weg hier?

Man müsse zunächst seine eigenen Bedürfnisse erkennen und durchleuchten, rät Boisson. Manchmal sei eine Trennung laut ihr nämlich auch mehr als angebracht, wenn es sich zum Beispiel um physische oder auch psychische Gewalt handle. Es brauche immer Zeit und viel Kraft, die Beziehung in diesem Fall zu beenden, aber ja immer auch mit Ausblick auf Besserung – auch, wenn diese im Anfangsstadium der Trennung noch schwer vorstellbar sei.

Das dauerhafte Aufeinanderhocken kann auch mal zu brenzligen Situationen führen.. (Symbolbild)

„Wie lange dauert es denn, bis man vollständig übereinander hinweg ist?“, will ich wissen. Boisson beantwortet dies mit dem klassischen „Es kommt ganz drauf an.“ Darauf nämlich, wie lange man zusammen war, ob vielleicht Kinder aus der Beziehung entstanden seien, wie ungesund die Beziehung gelaufen sei und ob es in gewisser Weise auch eine Erlösung sei. Manche kämen auch nie über ihre Trennung hinweg, was aber daran liege, dass sie nicht wüssten, wie sie damit umzugehen hätten. 2-4 Jahre seien bei einer langen Ehe durchaus noch normal – bei einer kurzen oder längeren Beziehung sechs Wochen bis sechs Monate.

Ein großer Faktor, der in diese Dauer mit einspiele, sei der eigene Selbstwert. „Je stabiler ein Selbstwert ist, desto leichter kann es sein“, erzählt die Heilpraktikerin. Der Gedanke „Auch ohne (m)einen Partner bin ich wertvoll“ müsse oft erst erschaffen werden und wirklich geglaubt werden. Gestärkt werden könne dieser zum Beispiel durch neue Erfahrungen, sei es ein neues Hobby, neue Kontakte, einfach mal mit Fremden zu reden oder Dinge, an die man gewohnt ist, auch mal anders zu tun. Auch könne man sich für Dinge einsetzen, die Stimme erheben, Gutes bewirken und damit seinen Charakter zu dem Formen, der man werden wolle. Anderen Wertschätzung zeigen, was auch von Stärke zeuge. Boisson erzählt von einer Klientin, die nach ihrer Trennung zu ihr gekommen sei, immer sehr schüchtern und leise gewesen sei und der Besuch einer Schauspielgruppe, zu der ihr Boisson geraten habe, sie zu einem vollkommen neuen Menschen gemacht habe – beziehungsweise zu dem eigentlichen Menschen, der in ihr geschlummert habe. Denn oft verliere man in einer Beziehung den Blick auf das eigene Potenzial, das in einem oder dem Partner stecke.

Stark sein

„Hier muss man erst mal seine eigenen Bedürfnisse kennenlernen und verstehen, dass man sie niemals dem Partner zuliebe zur Seite legen sollte“, sagt Boisson. Und Recht hat sie. Denn in einer Beziehung geht es ja genau darum: Man selbst sein zu können und dafür genau so geliebt zu werden. „Man muss dazu stehen können, wer man ist, kommunizieren können und den Mut haben, Dinge anzusprechen, aber es ebenso auch aushalten, wenn der Partner oder die Partnerin es nicht so sieht.“ Denn keiner der beiden Parts sei verpflichtet, dem Gegenüber Wünsche zu erfüllen, wenn die eigene Vorstellung davon abweiche. Deshalb müsse man abwägen, ob man mit dieser Situation auf Dauer glücklich werden könne oder nicht. Die Entscheidung liege in der eigenen Hand.

Und wieder: Das Gespräch mit Juliette Boisson brachte mich zum Nachdenken: Genau so will man doch sein. Stark genug und selbstbewusst, seine eigenen Wünsche an die erste Stelle zu setzen. Denn nur dann kann man glücklich werden. Und wenn jemand zu einem passt, wird man diese Wünsche vermutlich teilen und sie nicht voreinander verstecken oder sie füreinander für weniger wichtig erachten. Ich glaube daran, dass beides möglich ist: Glücklich in einer Beziehung zu sein, auch wenn es mal schwierig ist, aber das absolute Unglück nicht auszuhalten, sondern sich gegebenenfalls zu trennen – für sich und sein eigenes Glück. Ela und Simon entscheiden sich übrigens dafür, weiterzukämpfen und sich ab und zu Zeit für sich selbst zu nehmen, wenn sie sie brauchen.

Wirklich gar nicht mal so einfach, die Sache mit der Liebe zu Coronazeiten. Und eigentlich auch außerhalb. Für mich allerdings ein interessanter Ausflug und gute Ablenkung für meine Gedanken.

 

*Namen wurden hier und im Folgenden von der Redaktion geändert

Die Suche nach dem Sinn macht uns beinah blind,

weil wir die Dinge, denen wir nachrennen, nicht erzwingen können.

Max Giesinger - "Die guten Tage strahlen"
Juliette Boisson ist ausgebildete Heilpraktikerin für Psychotherapie, hat eine Praxis für Beziehungsthemen in München und berät Paare, Singles und von Liebeskummer oder Beziehungsthemen Betroffene.