Zeugen Jehovas

Die Ungläubige

Bibeltexte zu lesen gehörte früher zu Hannahs Alltag. (Symbolbild)
24. Febr. 2019

Hannah* wächst bei den Zeugen Jehovas auf, bis sie sich mit 16 Jahren enscheidet auszutreten. Ihre Familie bleibt weiterhin Teil der Religionsgemeinschaft. Was waren die Gründe für ihren Austritt? Und wieso schafft sie es nicht, der Religion den Rücken zuzukehren? 

Wenn Hannah* von ihrer Kindheit erzählt, dann klingt sie glücklich. Sie erzählt davon, dass sie im Kindergarten, in der Grundschule und auf der weiterführenden Schule war. Sie erzählt davon, dass sie und ihre drei Geschwister auf nichts verzichten mussten.

Sie erzählt auch davon, dass ihre Familie weder Weihnachten noch Ostern oder Geburtstage gefeiert hat. Dass sie in der Schule den Religionsunterricht nicht besuchen durfte. Oder die Geburtstagsfeiern ihrer Freunde. Schlimm sei das nicht gewesen, es war normal so. Sie kennt es nicht anders.

Hannah ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen.

Christliche Feiertage, wie Weihnachten, Ostern oder Advent, werden von den Zeugen Jehovas abgelehnt. Das Abendmahl – oder auch die Feier zum Gedenken an den Tod Christi – ist das einzige religiöse Fest der Religionsgemeinschaft.

Hannah war Teil davon, bis sie sich mit 16 Jahren entscheidet auszutreten. Dennoch kehrte sie der Glaubensgemeinschaft nie ganz den Rücken zu.

Heute – sechs Jahre später – rührt Hannah gedankenverloren mit einem Löffel in der Tasse ihres Karamell-Kaffees herum. Donnerstagabend und Sonntagvormittag, sagt sie, haben sich die Zeugen Jehovas immer getroffen. Im Königreichssaal, dem Treffpunkt der Versammlung. „Versammlung“: So werden die Gemeinden der Zeugen Jehovas genannt.

Die Räumlichkeiten, ja alles bei der Religionsgemeinschaft wird hauptsächlich über Spenden finanziert. So auch der Verlag der Zeugen Jehovas, der die beiden Zeitschriften Der Wachturm und Erwachet produziert. Bethel, was so viel wie Haus Gottes bedeutet, wird die Produktionsstätte genannt, in denen alle Schriften der Wachturmgesellschaft hergestellt werden. Die Gläubigen, die für den Bethel tätig sind, werden nicht bezahlt – erhalten aber Unterkunft und Verpflegung. Von der Wachturmgesellschaft wird auch die Bibelübersetzung herausgeben, die nur von den Zeugen Jehovas benutzt und anerkannt wird. Die Neue-Welt-Übersetzung, wie sie genannt wird, soll eine einheitliche Schrift sein, die noch besser „zu einer genauen Erkenntnis der Wahrheit“ verhilft. Die Unterschiede zu anderen Bibelauslegungen liegen hauptsächlich in der Übersetzung: etwa einzelne Wörter, die anders interpretiert wurden oder, dass die Personen, die die Bibelauslegung übersetzt haben, nicht genannt werden.
Nach eigenen Angaben soll es in Deutschland rund 165.000 aktive Zeugen Jehovas geben, über acht Millionen weltweit. Viele Jahrzehnte galten sie daher als die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft der Welt.

Der Gottesdienst der Zeugen Jehovas, die Zusammenkünfte, dürfen nur von männlichen Zeugen geleitet werden – Frauen sollen sich anderweitig daran beteiligen. Grund dafür: Eine Bibelstelle, in der beschrieben wird, dass Frauen keine Gewalt über einen Mann ausüben sollen. Adam sei zuerst gebildet worden, erst danach Eva.

In der Wahrheit leben

Hannah musste mit zu den Zusammenkünften. „Meine Eltern wollten, dass ich in der Wahrheit aufwachse, sie wollten, dass ich das von klein auf mitbekomme“, erklärt Hannah ernst. In der Wahrheit leben – so wird das bei den Zeugen Jehovas genannt. Als Kind haben sie die Zusammenkünfte genervt, erzählt sie und fährt sich durch das offene, blonde Haar. Sie musste das Spielen mit ihren Freunden unterbrechen, zurück ins Haus kommen und sich umziehen, um zur Versammlung gehen zu können. Als Kind war das langweilig für sie, aber eben normal. Sie kennt es nicht anders. Später, als Jugendliche, ist sie nicht immer mitgegangen. Auch wenn ihre Eltern zu ihr sagten, dass sie mitkommen solle, dass ihr das guttue, dass es das Richtige sei.

Ausgegrenzt wurde sie nie, erklärt Hannah. Freunde hatte sie viele – auch außerhalb der Gemeinschaft. Statt Kindergeburtstage habe sie Kinderfeste gefeiert und dazu andere Kinder eingeladen.

Predigen – von Haustür zu Haustür ziehen, um die Wahrheit zu verkündigen – gehörte ebenfalls zu Hannahs Alltag. Für die Zeugen Jehovas gehört die Verkündigung der Botschaft zu ihrem Glauben dazu. Zusammen mit den Brüdern und Schwestern – so nennen sich die getauften Zeugen Jehovas – versuchte Hannah an Haustüren regelmäßig Ungläubige zu missionieren. Falls jemand kein Interesse hatte, wurde das schriftlich festgehalten, ebenso, wenn jemand nicht zuhause war. Wenn sie an einer Haustüre nicht klingeln wollte, erzählt Hannah, weil sie die Personen kannte, wurde darauf Rücksicht genommen. Sie hätte nicht mit predigen gehen müssen, aber es war normal für sie. Sie kennt es nicht anders. Hannah erzählt auch davon, dass darauf geachtet wurde nicht penetrant zu sein. Dass das Ziel ein lockeres Gespräch gewesen sei, um Menschen nahezubringen, woran man selbst fest glauben sollte. Um sie zu retten.

Die Zeugen Jehovas glauben, dass im „Harmagedon“ – im Gotteskrieg – alle Feinde Gottes vernichtet werden. Nur 144.000 „wahre Zeugen Jehovas“, so steht es in der Bibelauslegung, dürfen mit Christus im Himmel regieren. Die restlichen Zeugen Jehovas können für immer auf der, bis dahin paradiesischen, Erde leben. Der Rest der Menschheit wird im Gotteskrieg vernichtet. So der Glaube der Zeugen Jehovas. Bereits drei Mal wurde Harmagedon vorausgesagt: im Jahr 1914, 1925 und 1975. Als dieser nicht eintrat, kam es zu einer großen Zahl an Austritten.

Um die Bibel besser kennenzulernen, besteht die Möglichkeit, an einem Bibelstudium teilzunehmen. Auch Hannah nahm diese Möglichkeit wahr: Alle ein bis zwei Wochen traf sie sich mit einer Freundin ihrer Mutter – einer Schwester der Zeugen Jehovas. Gemeinsam gingen sie den Wachturm durch, beantworteten Fragen. Auch heute noch hat Hannah Kontakt zu ihr, kann sie bei Fragen jederzeit anrufen, auch wenn die Schwester nach wie vor Teil der Zeugen ist und Hannah nicht.

Ihre Jugend hat Hannah schön in Erinnerung. Sie hatte ihren ersten Freund – ihre Familie akzeptierte es. Ihre Mutter wollte aber, dass sie ihre Türe offenlässt, wenn er zu Besuch kam. Das hatte aber nichts mit der Religion zu tun, meint Hannah. Wenn Hannah heute zu Besuch bei ihrer Schwester ist – einer Zeugin Jehovas – darf sie sich mit ihrem Freund nicht das Bett teilen. Oder das Zimmer. Das liegt nicht daran, dass ihr Freund kein Zeuge Jehovas ist, sondern daran, dass Geschlechtsverkehr vor der Ehe als Sünde gilt. Ebenso der Gebrauch von Blut: Die Verwendung von Bluttransfusionen sowie Blut zu spenden wird nicht akzeptiert. Wählen oder zum Militär geht man als Zeuge Jehovas ebenfalls nicht – weil laut der Religionsgemeinschaft auch Jesus schon politisch neutral gewesen sei.

In pinker Strumpfhose zur Zusammenkunft

Mit 13 oder 14 Jahren fing es langsam an. Die ersten Zweifel kamen bei Hannah auf. Zeitgleich: ihre Rebellenphase, wie sie es nennt. Sie kommt zu spät zu den Zusammenkünften, trägt anstatt einer Hose oder eines Rocks eine pinke Strumpfhose.

„Bei der pinken Strumpfhose, ich weiß noch wie ich da reingetanzt bin. Die Leute haben nichts gesagt. Aber meine Mama meinte dann: Das muss jetzt nicht unbedingt sein“, erzählt Hannah schmunzelnd.

Sie geht immer weniger mit den anderen Zeugen predigen. Zieht sich langsam zurück. Es wird für sie immer unangenehmer, von Haus zu Haus zu ziehen. „Vielleicht öffnet ja dann doch mal jemand die Türe, den ich kenne“, sind Gedanken, die in Hannahs Kopf schwirrten. Sie wird zunehmend unsicherer.

Aber wieso ist einem etwas unangenehm, wenn man davon überzeugt ist?
„Wenn man davon überzeugt ist, ist es einem ja nicht unangenehm.“

Aber sie ist nicht überzeugt.

„Ich glaube, da hatte es sich immer mehr eingeschlichen, dass es eben nicht das Richtige für mich ist. Sonst wäre ich ja begeistert mitgegangen“, stellt Hannah fest.

Ihre Zweifel behält sie für sich. Sie geht weiterhin zu den Zusammenkünften, trifft sich weiterhin zum Bibelstudium, betet weiterhin mit ihrer Familie mit. Ihre zwei Jahre ältere Schwester tritt aus, auch sie hatte Zweifel. Hannah bleibt. Zu normal ist es, Teil der Religionsgemeinschaft zu sein. Und kommt daher nicht infrage. Sie kennt es nicht anders.

Zu ihren Zweifeln, ob die Religion das Passende für sie ist, ob sie das braucht, kommt hinzu, dass ihr Vater von der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen wird. Er hat Ehebruch begangen.  

Da die Ehe als heilig angesehen wird, ist Ehebruch ein schlimmes Vergehen, was – wie im Fall von Hannas Vater – zum Ausschluss führen kann.

Hannah erzählt, dass sich ihre Eltern aufgrund des Ehebruchs getrennt haben. Dass es der Familie trotzdem freigestellt war, ob sie Kontakt zu ihrem Vater halten möchte. Man sollte ihn spüren lassen, dass er einen Fehler gemacht hat, erklärt Hannah langsam. Ihre älteste Schwester entschied sich gegen den Kontakt. Die anderen Zeugen aus der Versammlung ebenfalls.
„Da habe ich gesagt, dass ich das nicht akzeptieren kann“, erklärt Hannah mit fester Stimme. Sie umfasst ihre Kaffeetasse mit beiden Händen. Auch heute noch geht ihr die Entscheidung nahe.

Sie versteht nicht, wieso ihr Vater bestraft werden soll und dabei noch mehr weggedrängt wird. Obwohl man möchte, dass er es bereut und zurückkommt. Obwohl er zurückkommen möchte. Obwohl sie möchte, dass er in die Religionsgemeinschaft zurückkommt. Sie fasst einen Entschluss.

Der Entschluss

An einem Frühlingstag vor gut sechs Jahren nimmt Hannah ihren Mut zusammen. Sie gesteht der Schwester, mit der sie die Bibel studiert: „Das ist nichts mehr für mich.“ Obwohl das Leben mit den Zeugen Jehovas normal für sie ist. Obwohl sie keine Regelungen richtig stören. Obwohl ein großer Teil ihrer Familie weiterhin Zeugen Jehovas sein werden – und sie nicht.

Die Schwester meint zu ihr, dass sich noch einmal gemeinsam einlesen, warten, ob es nicht nur eine Phase ist, schauen, was sie in ein paar Wochen denkt. Hannah möchte aber nicht, auch wenn es ihr schwerfällt. Sie weiß, sie braucht keine Religion. Sie weiß, dass das nichts für sie ist. Sie weiß, dass es nicht in ihr Leben passt. Sie weiß, dass sie nicht stark genug daran glaubt.

Sie weiß auch: Sie kann jederzeit zurückkommen, wenn sie möchte.

Ihre Eltern: bleiben ruhig. Waren aufgrund des Austritts ihrer Schwester schon darauf vorbereitet. Obwohl er kein Teil der Religionsgemeinschaft mehr war, belastet es den Vater stark, dass sie keine Zeugin Jehovas mehr ist. Er machte sich Vorwürfe, dass ihr Austritt seine Schuld sei. Erst war es nicht in Ordnung – dann irgendwann schon.
Und so änderte sich erst einmal nicht viel für Hannah. Sie ging nicht mehr zu den wöchentlichen Treffen. Genoss es, das Haus für sich allein zu haben. Niemand bricht den Kontakt zu ihr ab. Wenn ihre Familie betet, sagte sie am Ende „Amen“, aus Respekt. Mittlerweile nicht mehr. Mittlerweile sitzt Hannah einfach ruhig neben ihrer Familie, senkt ihren Kopf und hört zu. Aus Respekt. Ihre Familie: akzeptiert es. Aus Respekt. Und betet für sie mit.

Ein Teil der Religionsgemeinschaft ist Hannah nicht mehr. Richtig Abstand genommen hat sie aber auch nicht. Wegen der Familie, meint sie. Weil sie damit aufgewachsen ist.

Kann man überhaupt Abstand bekommen?
„Nein, weil es meine Familie ist. Ich würde meine Familie nie verstoßen, nur weil wir nicht die gleichen Ansichten haben. Sie genauso wenig. Ich habe Abstand gewonnen in meinem alleinigen Leben, ohne Familie. Aber ich würde niemals eine Art Gegnerin werden.“ Für sich Abstand gewonnen hatte sie durch einen Auszug in eine eigene Wohnung, erklärt Hannah. Dadurch bestimmen nicht mehr die Zeugen Jehovas ihren Alltag, sondern sie selbst. Sie kann Alkohol trinken, einen Freund haben und theoretisch sogar Blut spenden gehen.

Der Austritt – nur jugendlicher Leichtsinn?
„Nein“, ist sich Hannah sicher und rührt in ihrem mittlerweile wohl kalten Karamell-Kaffee.
Sie könne sich vorstellen, dass es etwas Größeres gebe. Aber sie müsse es nicht herausfinden. Sie interessiere es nicht.

Aber wenn eine Religion, dann die Zeugen Jehovas?
„Wenn eine Religion, dann die Zeugen Jehovas.“

 

*Name von der Redaktion geändert.