Musiktexte-Kolumne 3 Minuten

Bilder im Kopf – Eine Liebeserklärung an die Erinnerung

Alte Fotoalben und eine digitale Bildergalerie.
Früher: ein Klebestift. Heute: 128 Gigabyte Speicher. | Quelle: Amelie Ziegler
08. Juli 2025

Musik ist für uns alle ein Alltagsbegleiter – meist läuft sie einfach so mit, ohne viel Beachtung. Doch wenn man mal genauer hinhört, trifft sie oft genau ins Schwarze und legt den Finger auf einen wunden Punkt unseres Lebens. Sido rappt über Bilder im Kopf und trifft damit einen Nerv. Wie viel Speicherplatz braucht eine echte Erinnerung?

Das Licht geht aus, der Bass vibriert im Brustkorb. Der erste Akkord erklingt, die Menge jubelt und hundert Handybildschirme leuchten auf, wie Glühwürmchen in der Nacht. Ich sehe kaum noch die Bühne, nur Displays. Hände, die in die Höhe gereckt sind, aber nicht zum Mitfühlen, sondern zum Mitschneiden. Ich stehe da und frage mich: Für wen filmen die das eigentlich? Für sich? Für später? Für Leute, die gar nicht da sind? Und wer schaut sich das wirklich nochmal an, diese wackeligen Videos mit übersteuertem Ton? Der Moment rauscht an mir vorbei.

Ich muss an Sido denken und daran, wie er von Bildern im Kopf und einem schwarzen Fotoalbum mit ’nem silbernen Knopf rappt. Kein Handy, kein Social Media Profil. Sondern ein inneres Archiv, voll mit Momenten, die so wichtig waren, dass sie sich eingebrannt haben.

Leben durch die Linse

Wir fotografieren unser Leben. Jeden Sonnenuntergang, jede Vorspeise, jedes Erlebnis. Als wäre ein Moment nur dann echt, wenn er gespeichert wurde. Manchmal ist das schön. Erinnerungen zum Durchscrollen, zum Nachfühlen. Und jetzt ist es konserviert und archiviert, ich hab’s gespeichert. Paraphiert und nummeriert, damit ich’s leicht hab. Wenn die Erinnerung auch langsam verschwindet, weiß ich immerhin genau, wo man sie findet. Ja Sido, wo eigentlich? Auf dem Display oder findet man da nur die zehnte Version eines Sonnenuntergangs, der irgendwie eh immer gleich aussieht?

Wir sammeln Bilder wie früher Panini-Sticker. Nur dass man heute nicht mehr Ronaldo sucht, sondern das perfekte Bild von der Pasta. Es ist ein bisschen wie ein Zwang. Das Handy zückt sich fast wie von selbst. Ein schöner Moment? Klick. Noch einer? Klick. Ach, aus der anderen Perspektive auch nochmal. Klick. Und dann bitte noch ein Video fürs Gefühl.

Früher war das anders, aber nicht unbedingt ehrlicher. Da hat man den 24er-Film mit in den Urlaub genommen, überlegt, ob das Motiv das Bild wirklich wert ist. Und dann mit Spannung auf die Entwicklung gewartet, um festzustellen: Augen zu, Daumen vorm Objektiv, verwackelt. Aber hey, es war ein Moment und der wurde trotzdem ins Album geklebt. Heute löschen wir schon beim Entstehen, was nicht perfekt ist. Und die Bilder, die bleiben? Die landen in der Cloud, auf Festplatten, in digitalen Schuhkartons mit Dateinamen wie IMG_5837.jpg. Unsere Speicher sind voll, unsere Köpfe oft leer.

Gefühle statt Gigabyte

Trotzdem geht’s am Ende um dasselbe wie damals. Wir wollen festhalten, was uns bewegt. Ob auf Papier oder als Pixel. Es sind nicht die Bilder selbst, die zählen, sondern das, was sie in uns auslösen. Die Technik hat sich verändert, der Wunsch dahinter nicht. Erinnerungen sind unser Versuch, die Zeit anzuhalten, weil wir hoffen, ein Stück vom Gefühl bewahren zu können. Sie sind Fetzen von dem, was war. Manchmal falsch, oft ungenau, aber sie gehören uns. Ein schwarzes Fotoalbum mit silbernem Knopf. Es existiert nur in meinem Kopf und ist vollgestopft mit Gefühlen, nicht mit Fotos. Für mich ist das eine Liebeserklärung an die Erinnerung. Und vielleicht auch eine kleine Mahnung: Nicht alles muss festgehalten werden.

Also beschließe ich, während ich da stehe, inmitten der grellen Displays: Ich filme nicht. Ich singe mit. Ich spüre den Bass, die Menge, den Moment. Und als das letzte Lied verklungen ist, weiß ich: Ich hab kein Video, aber ich war wirklich da. Vielleicht reicht das manchmal schon. Und wenn nicht, dann hoffe ich, dass jemand neben mir gute Aufnahmen gemacht hat. Ich will mich ja schließlich erinnern.

Bilder im Kopf – Sido

Dieser Beitrag ist Teil des Kolumnenformats „Der Sound unserer Zeit". Weitere Folgen der Kolumne sind:

So gut, dass einmal hören nicht reicht – fanden zumindest unsere Redakteurinnen. Deswegen gleich zweimal: