Aktivismus

„Wir wollen die Tiere aus der Anonymität holen“

Mit Plakaten und Schildern wollen die Aktivist*innen auf das Leid der Tiere aufmerksam machen.
25. Febr. 2022
Schlachthöfe. Keine Orte, an die man gerne denkt und doch existieren sie. Mahnwachen erinnern daran. An einem Sonntagabend stehe auch ich auch ich mit einem Schild in den Händen vor einem Schlachthof. Um Abschied zu nehmen, aber vor allem, um den Tieren ein Gesicht zu geben.

„Warum steht die Frau da mit diesem Schild“? „Weil sie nicht möchte, dass Tiere sterben müssen“. Ein Gespräch zwischen Erwachsenen und Kindern auf der einen Seite der Straße. Auf der anderen Seite stehe ich. Mit diesem Schild in der Hand, auf dem steht „Ich bin jemand, nicht etwas“. Dazu das Foto einer Kuh. Neben mir stehen noch andere Menschen mit solchen Schildern, wir halten sie hoch wenn Autos vorbei fahren, wenn Menschen aus der gegenüberliegenden Tankstelle kommen, wenn Passanten vorbei laufen. Und wir halten sie hoch, wenn die Transporter ankommen. An der Straße aufgereiht stehen Kerzen, Blumen liegen auf dem Boden. Hinter uns ein Gebäude, dem man von außen nicht ansieht, was sich darin verbirgt. Mitten in Rottenburg liegt ein Ort, der im Bewusstsein der meisten Menschen nicht existiert. Hinter uns liegt der Schlachthof.

Das Schicksal der Tiere ins Bewusstsein rufen

An diesem kalten Sonntagabend bin ich Teil einer Schlachthof-Mahnwache. Alle zwei Wochen veranstaltet die Tierrechtsorganisation „Rottenburg Animal Save“ diese friedliche Demonstration vor dem Rottenburger Schlachthof. Die Organisation ist die örtliche Vertretung der globalen Tierschutzbewegung „Animal Save“, welche 2010 in Toronto gegründet wurde und mittlerweile über 560 Gruppen weltweit zählt. Mahnwachen (auch Vigils genannt) sind Zusammenkünfte von Aktivist*innen vor Schlachthöfen, um Tieren in ihren letzten Momenten beizustehen, sich zu verabschieden, sie zu betrauern und ihr Schicksal öffentlich zu machen, wie mir Marko, der Leiter der Rottenburger Organisation, erklärt. Denn viele Verbraucher*innen würden verdrängen, dass für die Fleischproduktion Tiere geschlachtet werden müssen. Die Aktivist*innen dokumentieren die Ankunft und das Ausladen der Tiere per Kamera. Dazu fordern sie die Fahrer*innen der Tiertransporter zum Stoppen auf und bitten um ein paar Minuten mit den Tieren. Die Fotos und Videos teilen sie in den sozialen Medien, zum Beispiel auf Facebook und Instagram. So soll ein Bewusstsein für das Leiden der Tiere geschaffen und eine Basisbewegung für Tiergerechtigkeit aufgebaut werden.

Aufnahmen wie diese teilen die Tierrechtsgruppen in sozialen Medien.

Wir sollen darauf achten, den Schlachthof nicht zu betreten, keine Kennzeichen oder Mitarbeiter zu filmen und die Einfahrt für die Transporter nicht zu blockieren, betont Marko. „The Save Movement“ hat den Grundsatz, allen gegenüber respektvolles Verhalten zu zeigen. An einem Tor des Schlachthofs steht ein Mitarbeiter. Schweigend und rauchend beobachtet er uns. Um 18 Uhr geht es schließlich los. Die ersten Landwirte fahren in den Hof, zügig und ohne kurz für uns anzuhalten. Wir fordern die Fahrer aber auch nicht dazu auf. Marko erzählt mir, dass das bei den ersten beiden Mahnwachen noch anders gewesen sei, hier wurden die Teilnehmenden zu den Transportern mit den Tieren gelassen. „Dann haben sie aber gemerkt, dass wir wiederkommen. Die wollen mit uns nichts mehr zu tun haben“, meint er.

Was sagen die Schlachthöfe dazu?

Der Besitzer des Schlachthofs will sich zu den Mahnwachen nicht äußern. Ich kann jedoch mit Harald Koneberg von der Emil Färber GmbH sprechen, die Schlachthöfe in ganz Baden-Württemberg besitzt. Auch vor diesen Schlachthöfen halten die Ortsgruppen der „Animal Save“-Bewegung Mahnwachen ab. Diese werden toleriert, solange die Aktionen koordiniert und friedlich ablaufen und den Betrieb nicht stören. In Freiburg und Balingen hat Koneberg bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Auf beiden Seiten müssten gewissen Spielregeln eingehalten werden. Dazu zählt zum Beispiel auch, die Fahrer*innen der Tiertransporter nicht zu behindern. Laut Koneberg sei es an anderen Standorten auch schon vorgekommen, dass Tierschützer*innen vor ein Fahrzeug gesprungen und die Fahrer*innen so zum Anhalten gezwungen hätten: „Wenn man vor einen Lkw springt oder Zufahrten blockiert, kann man auch nicht erwarten, dass die Fahrer Verständnis haben und anhalten.“ Er betont, dass dies aber nicht an der Organisation, sondern an einzelnen Aktivist*innen liege. Ich spreche auch mit Sonia Lühring, Mitglied im Landesvorstand Baden-Württemberg der Tierschutzpartei. Sie hat schon an vielen Mahnwachen teilgenommen, war im Süden Deutschlands, unter anderem in Freiburg und bei einem großen Tönnies-Schlachthof dabei. Bei diesen Mahnwachen kam es bisher nicht dazu, dass Aktivist*innen eigenmächtig Fahrer*innen stoppten, berichtet sie. Sie habe aber schon beobachtet, dass Transporter Gas gaben, anstatt für die Aktivist*innen zu stoppen. Körperliche Auseinandersetzungen habe es bisher aber nicht gegeben. „Wir werden eher belächelt, als „Spinner“ abgetan und nicht ernst genommen.“

Bei einer Mahnwache vor dem Freiburger Schlachthof bitten die Aktivistinnen und Aktivisten mit Schildern die Fahrer*innen der Transporter, kurz für sie zu stoppen.

Mehr als zwei Millionen Tiere pro Tag

Ein Tier-Transporter nach dem nächsten rollt auf den Hof. Es breitet sich ein seltsamer Geruch aus. Es riecht nach Stall und Schweinen und irgendwie habe ich das irrationale Gefühl, dass es auch nach Angst riecht. Noch sind keine Tiere zu sehen, nur ein Grunzen ist zu hören. Dann fährt der erste Landwirt an den Eingang des Schlachthofs, die Laderampe wird heruntergelassen. Morgen ist Schlachttag. Der Rottenburger Schlachthof ist der letzte Schlachthof im Kreis Tübingen und zählt zu den kleinen Schlachthöfen. Geschlachtet wird dreimal in der Woche, am Tag 30 bis 40 Tiere. Zum Vergleich: Das Fleischwerk Tönnies in Rheda-Wiedenbrück schlachtet bei voller Auslastung 22 000 bis 25 000 Tiere pro Tag. In ganz Deutschland werden laut Statistischem Bundesamt pro Tag im Schnitt mehr als zwei Millionen Tiere geschlachtet. 

Als Erstes werden Schafe ausgeladen. In den weiteren Anhängern befinden sich Schweine. Die meisten sind ruhig, doch eine Gruppe scheint gestresst zu sein. Wir hören ihr Quieken und Grunzen und wir hören Schreie, ich halte die Kamera drauf. Viel filmen können wir allerdings nicht, die Mitarbeitenden stellen sich als Sichtschutz auf. Ein Tier nach dem anderen verschwindet in dem Gebäude. Manche zögern, wollen die Transporter nicht verlassen, andere laufen freiwillig raus. Ich blicke ihnen nach und frage mich, ob sie ahnen, was sie in wenigen Stunden erwartet.

Erfolgt die Anlieferung der Tiere abends, so verbringen die Tiere die Nacht bis zur Schlachtung am nächsten Morgen in einer sogenannten Kurzzeitbestallung im Schlachthof. Diese ist in separate Buchten gegliedert, sodass Tiere von einem Landwirt, die sich kennen, zusammen in einer Bucht untergebracht werden. So würden Rangkämpfe zwischen den Tieren verhindert, erklärt mir Harald Koneberg von der Emil Färber GmbH. Grundsätzlich sei es ihm aber lieber, wenn die Tiere direkt nach der Ankunft geschlachtet würden, schließlich bedeute die Versorgung der Tiere personellen und finanziellen Mehraufwand. Bei Schlachtungen frühmorgens oder nachts lasse sich dies aber nicht vermeiden. In den Ställen seien die Tiere ruhig, sie würden Futter bekommen und dann schlafen.

Tabu-Orte

Schweigend stehen wir nun mit unseren Schildern an der Straße. Ein Auto nach dem anderen fährt vorbei, manche fahren langsamer, schauen skeptisch oder zustimmend, andere rauschen vorbei. Menschen beäugen uns von der anderen Straßenseite, stehen bleibt jedoch niemand. Manche Autofahrer*innen zeigen uns den erhobenen Daumen, andere hupen einfach nur. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das als Zustimmung oder Ablehnung werten soll. Der Rottenburger Schlachthof stellt mit seiner zentralen Lage an einer belebten Straße eine Ausnahme dar, die meisten Schlachthöfe liegen in Industriegebieten. „Die Mahnwachen vor den Schlachthöfen geschehen meist unbeachtet von der Öffentlichkeit“, so Sonia Lühring, Mitglied in der Tierschutzpartei.  Schlachthöfe seien eine Art „Tabu-Ort“ für die meisten. Vor Ort sei es deshalb oft schwer, die Menschen zu erreichen. Umso wichtiger sei es deshalb, die Aktionen zu dokumentieren und in den sozialen Medien zu teilen, um so die Tiere aus der Anonymität zu holen und den Menschen zu zeigen, dass ihr Steak einmal ein fühlendes Wesen gewesen ist.

Ein Problem bestehe jedoch darin, dass auf den Seiten, auf welchen die Videos und Fotos geteilt werden, hauptsächlich Menschen unterwegs seien, die sich sowieso schon mit der Thematik beschäftigen. Man bewege sich sozusagen in einer „Blase“. Lühring wünscht sich deshalb eine größere Öffentlichkeit für die Thematik und die Aktionen der Gruppen. Und dass jeder einmal in seinem Leben an einer Mahnwache teilnimmt.

Der Rottenburger Schlachthof liegt an einer belebten Hauptstraße. Hier bekommen Autofahrer*innen und Fußgänger*innen die Mahnwache direkt mit.
Am Zaun des Schlachthofs lehnen weitere Schilder, die auf das Leider der Tiere aufmerksam machen sollen.

Es wird immer größer und globaler

Neben der Mahnwache an Schlachthöfen veranstaltet die Tierrechtsorganisation „Rottenburg Animal Save“ auch noch weitere Aktionen. So stehen die Aktivist*innen bei sogenannten Metzgerei-Mahnwachen direkt vor den Orten, an denen sie Konsument*innen erreichen. Bei ihren Ampelaktionen stellen sich die Teilnehmenden während der Grünphasen der Fußgänger*innen auf die Straße oder den Überweg und halten Plakate und Schilder hoch. Die Mahnwachen vor dem Rottenburger Schlachthof sind allerdings gezählt, genau wie die Tage des Schlachthofs selbst. Der Schlachthof soll schließen, statt eines Neubaus will sich Rottenburg am Schlachthof in Gärtringen beteiligen.

Auch andere kleine regionale Schlachthöfe schließen. Es zeigt sich eine Entwicklung weg von kleinteiligen Strukturen zu der großen Masse. Dies bedeutet für die Landwirt*innen, die meistens aus der Umgebung stammen, längere Anfahrtszeiten zu den nächsten größeren Schlachthöfen. Können sie diese nicht auf sich nehmen, sind sie gezwungen, ihre Tiere dem Großviehhandel mitzugeben. Die langen Fahrten, die durch viele Stopps unterbrochen sind, bedeuten jedoch erheblichen Stress für die Tiere. Für kleinere Landwirt*innen sei das „katastrophal“, meint Koneberg. Für die meisten würde diese Entwicklung das Ende der Tierzucht bedeuten. Meine Frage, ob Aktionen wie die Mahnwachen mit den Schließungen zusammenhängen könnten, verneint er. Er sehe den Grund in der fehlenden Wirtschaftlichkeit der kleinen Schlachthöfe, die im Vergleich zu den Großschlachtereien im Preiswettbewerb verlieren. Diese Großbetriebe stehen jedoch unter anderem für „ertragsoptimierte“ Massentierhaltung, endlose Transportwege und fabrikmäßig getaktete Schlachtvorgänge. Nicht nur die Politik, auch die Verbraucher*innen stehen somit in der Verantwortung, sich mit der Herkunft ihres Fleisches auseinanderzusetzen.

„Meine Mama isst auch kein Fleisch mehr“, erwidert das zweite Kind auf der anderen Straßenseite. Die Mahnwache macht etwas mit einem. Sie macht bewusst, dass kein Tier tot gestreichelt wird. Tierrechtsgruppen wie „Animal Save“ wollen den Fleischkonsum und Schlachthöfe beenden. Regionale Landwirt*innen kämpfen durch Initiativen wie „fair und regional“ für den Erhalt kleiner Schlachthöfe und kurze Transportwege. Aktionen wie die Mahnwachen können dazu beitragen, ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen, dass ein Tier hinter der Wurst steckt, die man gerade günstig im Supermarkt gekauft hat und einen Anstoß dazu geben, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen.