Wer bringt der Taube den Frieden zurück?
Eine schmale, steinerne Wendeltreppe steigt man nach oben. Ganz bis unters Dach der Stuttgarter Leonhardskirche. Von dem weitläufigen, hallenartigen Dachboden, in dem man nun steht, führen zwei kleine Türen zum Zuhause von rund 600 Stadttauben. Die beiden Taubenschläge gehören zu den 24 Taubeneinrichtungen, die das Stadttauben-Projekt Stuttgart betreut. Das Ziel, erklärt Projektmitarbeiterin Julia Bischoff, habe sich seit der Entstehung des Projekts im Jahr 2008 nicht geändert. Man möchte Frieden zwischen Stadttauben und Stadtmenschen schaffen.
Gerade die Taube, das eigentliche Symbol für Frieden, gilt heute als Problemvogel der Stadt. Doch warum stören sich Menschen an Stadttauben? So sehr, dass man sie auch als Ratten der Lüfte bezeichnet?
Das Problem ist nicht die einzelne Taube, sondern die vielen
Die Gründe dafür sind vielfältig. Anwohnende beschweren sich über Taubenkot auf ihren Balkonen und Gehwegen oder über Nester in Gebäudefassaden. Besonders die Gastronomie stört sich an pickenden Schwärmen von Tauben, die immer dort auftauchen, wo es etwas zu essen gibt. Stuttgart ist nicht die einzige Stadt, die von Problemen einer zu hohen Stadttaubenpopulation betroffen ist. Sowohl Metropolen als auch Kleinstädte suchen nach Möglichkeiten, ihre Taubenpopulation zu verkleinern.
„Auch ich als Taubenfreundin finde, dass es zu viele Stadttauben gibt. Und denen geht es sehr schlecht“, bestätigt Bischoff. Denn nicht nur Menschen stören sich an den Tieren. Vor allem die Tauben selbst leiden unter ihrer Lebensweise in der Stadt.
Eines der größten Probleme ist der Mangel an artgerechtem Futter. Die Stadttauben verhungern oder erkranken, weil sie die Lebensmittelreste, die sie finden, nicht vertragen. Auch die Nistverhältnisse sind nicht einfach, denn Stadttauben brüten gerne in felsenartigen Nischen. Davon finden sie in der Stadt viele. Sicher oder erwünscht sind sie in den Nischen von Parkhäusern, Dachböden und Brücken jedoch nicht. „Stadttauben wird heute oft nicht mehr als das reine Überleben zugestanden“, fasst Bischoff die Situation zusammen.
Beide Parteien brauchen also eine Lösung. Abwehrspikes, Netze und Futterverbote lösen das Problem nicht, sondern verlagern es nur. Den Tauben wird so vor allem zusätzliches Leid zugefügt. Da Stadttauben sehr standorttreu sind, lassen sie sich auch nicht umsiedeln.
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Wie funktioniert das Konzept des Stadttaubenprojekts Stuttgart?
Stuttgart folgt, wie viele andere Städte, dem Augsburger Modell. Das Konzept soll verhindern, dass mehr Küken schlüpfen, und die Stadttauben räumlich von den Menschen trennen.
Dafür werden in der Nähe von Schwärmen betreute Taubenschläge, Taubenhäuser oder Nistwände gebaut. Nicht alle sind so groß, wie die Taubenschläge in der Leonhardskirche, aber in allen werden die Tauben gefüttert und bekommen kleine Nischen zum Brüten.
Jeden Tag säubern ehrenamtliche und angestellte Mitarbeitende des Stadttaubenprojekts den Schlag und entfernen jedes frisch gelegte Taubenei. In den Eiern entwickeln sich dann keine Küken mehr. Um den Brutinstinkt der Tauben trotzdem zu decken, werden die entfernten Taubeneier mit Kunststoffattrappen ersetzt. Da keine neuen Tauben nachkommen, sinkt die Stadttaubenpopulation nachhaltig und tierschutzgerecht.
Das Konzept löst nebenbei weitere Probleme: Da die Stadttauben im Schlag gefüttert werden, müssen sie nicht mehr auf Futtersuche in die Stadt. Stattdessen verbringen sie rund 80 Prozent ihrer Zeit im Schlag. Das bedeutet, dass sich Mensch und Taube weniger begegnen. Cafés und Imbisse werden nicht mehr von hungrigen Tauben gestört. Der Taubenkot bleibt auch im Schlag, statt sich in der Stadt zu verbreiten. Er wird dort von Projektmitarbeitenden täglich entfernt.
Wie kam die Stadttaube zum Menschen?
Dass Stadttauben trotz ihrer prekären Lebenssituation so häufig brüten, liegt in ihrer Geschichte als Nutztiere des Menschen.
Da Tauben einen besonders guten Orientierungssinn haben, wurden sie schon früh als Brieftauben trainiert und gezüchtet. Aufgrund ihrer Anspruchslosigkeit und Treue zu ihrem Brutplatz und Partner, war es außerdem einfach, sie als Haustauben zu halten. Bei Bedarf wurden sie für Fleisch, Eier und Federn benutzt. Da sie dem Menschen gut zunutze kamen, züchtete man sie darauf, möglichst oft zu brüten. Als die Tauben nicht mehr gebraucht wurden, ließ man sie frei. Von da an vermehrten sie sich unkontrolliert weiter. Die ehemaligen Wildtauben waren aber bereits vom Menschen abhängig. Sie siedelten sich deshalb in den Städten an und es entstand die Stadttaube, wie wir sie heute kennen. „Sowohl die Stadttaube, als auch ihr Brutzwang sind ein Produkt des Menschen“, bestätigt Bischoff, „und genau dieser Brutzwang wird den Menschen und den Tauben heute zum Verhängnis.“
Brieftaubensport hält sich bis heute als Hobby. Tierschützer*innen kritisieren allerdings, dass viele der gezüchteten Tauben bei den Wettflügen durch Überanstrengung oder Verletzungen sterben. Verirrte oder schwache Brieftauben schließen sich außerdem den Stadttauben an und vergrößern so die bestehende Population.
Wohin soll es noch gehen?
Der Idealzustand wäre laut Bischoff, den Taubenbestand in Stuttgart zu halbieren. Eine Zielzahl lasse sich aber nicht festlegen. „Fixzahlen hätte ich auch gerne. Aber in einer so großen Stadt, wie Stuttgart, lässt sich das nicht so einfach festmachen“. Messbar ist der Erfolg des Projekts aber trotzdem, und zwar an den Zahlen der ausgetauschten Taubeneier. 2024 hat das Stadttauben-Projekt Stuttgart rund 9.000 Eier getauscht. Das bedeutet deutlich weniger Nachwuchs und langfristig eine sinkende Population.
Auch die Praxis bestätigt den Erfolg. In Stadtteilen wie Stuttgart-Ost gibt es dank eines Taubenhauses kaum noch Meldungen über störende oder verletzte Stadttauben. Um einen idealen Zustand zu erreichen, brauche es aber noch mehr Taubenhäuser.
Gleichzeitig setzt Bischoff auf ein stärkeres Bewusstsein in der Nachbarschaft: Wer brütende Tauben auf dem Dachboden nebenan oder im Parkhaus bemerkt, sollte sich melden. Denn nur durch eine funktionierende Zusammenarbeit von Anwohner*innen oder Hauseigentümer*innen mit dem Projekt, kann das Problem langfristig gelöst werden.
Und auch im Alltag kann man unterstützen. Verletzte oder schwache Tauben sollte man am besten schnell selbst fangen und über das Kontaktformular beim Projekt Bescheid geben. „Sitzen geblieben ist noch nie jemand auf einer Taube, die er nicht wollte“, verspricht Bischoff.
Am Ende ist es ein gemeinsamer Prozess zwischen der Stadt, dem Projekt und den Stuttgarter*innen. Sich selbst überlassen kann man die Stadttauben zum Wohle aller nicht. Ein kontrollierter Taubenschlag nützt den Menschen und den Vögeln.
Während ein Projektmitarbeiter die Taubenschläge säubert, fliegen die meisten Tauben aus und sitzen nebeneinander, Flügel an Flügel, auf dem Dach der Leonhardskirche. Hier sind sie sicher, dürfen sein und stören niemanden. Echte Friedenstauben über der Stadt.