„Die Beklagte [HelloFresh, Anm. d. Red.] vertritt die Auffassung, dass es zu den Begriffen „Klimaneutralität“, „CO₂ Neutralität“ oder „CO₂ Kompensation“ kein einheitliches Verbraucher- oder Marktverständnis gebe.“
Wenn Nachhaltigkeit vor Gericht steht
Wer sich selbst als klimaneutral bezeichnet, muss die eigene Klimaneutralität auch beweisen. So entschied das Landgericht Berlin im Urteil gegen das Berliner Lebensmittelunternehmen HelloFresh. Das Geschäftsmodell von HelloFresh sind sogenannte Kochboxen, in denen das Unternehmen seinen Kunden vorbereitete Rezepte mit abgewogenen Zutaten im Abonnementmodell bequem nach Hause schickt. Mit 7,7 Milliarden Dollar Umsatz und über 21.500 Mitarbeitenden im Jahr 2024 gilt das 2011 gegründete Start-Up als eines der erfolgreichsten und wachstumsstärksten der Lebensmittelbranche. Durch ihre große Präsenz in der Werbelandschaft ist HelloFresh vielen ein Begriff. Laut dem Geschäftsbericht investierte Hellofresh im Geschäftsjahr 2023 19,8 Prozent ihres Jahresumsatzes in Marketing und Werbung. Das Landgericht Berlin bewertete zumindest eine dieser Werbeaussagen als irreführend. Ein Urteil, das in zukünftigen Fragen zu Nachhaltigkeit und CO₂-Ausgleich richtungsweisend werden könnte.
Wenn Nachhaltigkeit vor Gericht steht
Im Oktober 2022 bezeichnete sich HelloFresh auf der offiziellen Firmenwebsite in einem großen Banner als „das erste globale klimaneutrale Kochbox-Unternehmen“. Zusätzlich war zu lesen: „Wir kompensieren 100 Prozent unserer direkten CO₂-Emissionen.“ HelloFresh gab an, ihre direkt verursachten CO₂-Emissionen durch die Unterstützung „Grüner Initiativen“ über „Partner“ zu kompensieren, um so ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren und umweltfreundliche Projekte weltweit zu fördern. Der deutschen Umwelthilfe DUH war diese Erklärung jedoch nicht stichhaltig genug. Ihrer Meinung nach seien die Werbeaussagen irreführend nach §5 des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb. Sie reichte Klage vor dem Landgericht Berlin ein. HelloFresh hielt dagegen, der Fall ging in die Verhandlung.
Die deutsche Umwelthilfe DUH ist ein eingetragener Umwelt- und Verbraucherschutzverein. Als beim Bundesamt für Justiz (BfJ) gelistete, qualifizierte Einrichtung darf sie nach § 4 Unterlassungsklagengesetz Unterlassungs- und Widerrufsklagen im Interesse von Verbrauchern erheben.
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Dieses Zitat aus der Urteilsabschrift bringt die grundlegende Problematik gut auf den Punkt. Denn tatsächlich existieren bis heute nur lückenhafte Regelungen zur Definition des Begriffs „klimaneutral“. Dadurch entsteht ein potenzieller Spielraum für unterschiedliche Auslegungen und Interpretationen. Genau diese Unsicherheiten machen es schwer zu erkennen, ob ein Unternehmen tatsächlich klimaneutral agiert oder lediglich entsprechende Begrifflichkeiten nutzt. Das Landgericht Berlin war der Meinung, dass die Formulierungen „klimaneutral“ und „Wir kompensieren 100% unserer direkten CO₂-Emissionen“ den Eindruck vermitteln, HelloFresh habe die eigenen direkten Emissionen vollständig und nachvollziehbar ausgeglichen. Gerade die Nennung von konkreten Klimaschutzprojekten, wie im Fall von HelloFresh das Waldschutzprojekt „Kasigau Corridor“ in Kenia, impliziere nach Meinung des Gerichts dem Verbraucher Transparenz und einen authentischen Beitrag zum Klimaschutz. „Kasigau Corridor“ stand jedoch bereits seit längerem in der Kritik. Das Gericht stellte in Frage, welchen Wert das Projekt für den Klimaschutz hat. Die geplante Laufzeit von nur 30 Jahren sowie die mögliche Abholzung der Waldfläche nach Ablauf der Projektzeit ließ am wirklichen Nutzen des Projekts zweifeln. HelloFresh war nicht in der Lage, die notwendigen Nachweise für eine vollständige Kompensation der eigenen CO₂-Emissionen zu erbringen, weshalb das Gericht die Werbung als unlauter im Sinne des §5 Abs.1 UWG interpretierte. Das Gericht lehnte CO₂-Kompensation als Methode hierbei nicht pauschal ab, verlangte jedoch eine klare und nachvollziehbare Darlegung darüber, wie die Wirkung erreicht wird und wie dauerhaft sie ist.
§5 Abs.1 UWG (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb)
Unlauter handelt, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt. Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über folgende Umstände enthält (…) und geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.
Verletzung von Informationspflichten
Einen weiteren Verstoß sah das Gericht in der Verletzung der Informationspflicht. Das Verbraucherinteresse für Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaneutralität sei groß, weshalb bei aktiver Werbung mit diesen Begriffen besondere Anforderungen gelten sollten. So sei aus den von HelloFresh getätigten Aussagen nicht klar hervorgegangen, ob es sich bei den erwähnten Emissionen um „eigene direkte Emissionen“ handelte oder auch indirekte Emissionen mit einbezogen wurden. Über das Greenhouse Gas Protocol (GHG-Protocol), dem weltweit am häufigsten verwendeten Standard zur Erfassung von Treibhausgasemissionen von Unternehmen und Organisationen, können solche direkten oder indirekten Emissionen genau angegeben werden. Dort werden Emissionen in drei Kategorien, sogenannte Scopes, eingeteilt, um ihre Quellen genau nachvollziehen zu können. Scope eins schließt hierbei beispielsweise alle direkten Emissionen ein, die aus Quellen entstehen, die ein Unternehmen besitzt (wie Fuhrpark oder Heizkessel). Scope zwei fasst hingegen die indirekten Emissionen zusammen, die aus eingekauften Strom oder Wärme entstehen. Ein dritter Scope berechnet dann zusätzliche Emissionsquellen mit ein, wie Dienstreisen oder Lieferanten. Diese transparente Darstellung der Emissionen konnte HelloFresh nicht liefern. Auch wurde aus der Werbung nicht klar, nach welchen Zertifizierungsstandards die CO₂-Kompensation erfolgte, was das Gericht insgesamt als Verschweigen von Informationen wertete. Damit lag ein Verstoß gegen §5a UWG vor– der Informationspflicht gegenüber dem Verbraucher. Die Entscheidung der Richter: Die Deutsche Umwelthilfe bekam recht. HelloFresh wurde auf Unterlassung verurteilt und musste neben einer geringen Zahlung an die DUH auch die umstrittenen Werbeaussagen aus ihrem Internetauftritt entfernen.
Ein Signalfall für die Zukunft der Klimawerbung
Das Urteil setzt ein klares Statement gegen Greenwashing und für strengere Nachweispflichten bei umweltbezogener Werbung. Unternehmen müssen in Zukunft tatsächlich und glaubhaft nachweisen, dass ihre Aussagen zu Klimaneutralität und CO₂-Kompensation zutreffen. Laut dem Landgericht Berlin haben Verbraucher einen Anspruch auf nachvollziehbare Informationen, besonders bei Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz, die immer wichtiger werden.
Denn CO₂-Kompensation ist nicht die einzige Methode, die Unternehmen haben, um Klimaneutralität zu erreichen. Um die Möglichkeiten von unternehmerischem Klimaschutz zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die zwei großen Wege, die Unternehmen zur Klimaneutralität gehen können: Carbon Insetting und Carbon Offsetting.
Klimaschutz auf zwei Wegen: Was wirkt wirklich?
Carbon Offsetting ist das Prinzip, nach dem HelloFresh versucht hatte, Klimaneutralität zu erreichen. Das Konzept ist simpel: Egal ob durch Produktion, Logistik oder Transport, Unternehmen erzeugen Emissionen, deren Ausstoß dem Klima direkt schadet. Um diesen Schaden auszugleichen, kaufen Unternehmen CO₂-Zertifikate, die versprechen sollen: Irgendwo anders auf der Welt wird die gleiche Menge CO₂ eingespart, die wir hier ausstoßen.
Ziel dieses Konzeptes ist es, eine „globale Nullsumme“ zu erzeugen. Jedes Zertifikat steht für eine Tonne eingespartes CO₂, das die Unternehmen bei diversen Klimaschutzprojekten „einkaufen“. Kontrolliert werden können diese Einsparungen beispielsweise durch den sogenannten Verified Carbon Standard (VCS).
Das System steht, seitdem es praktiziert wird, in der Kritik. Die DUH sieht in Carbon Offsetting hohes Potenzial für Greenwashing. Es gebe Unternehmen potenziell die Möglichkeit, ihren Kunden Nachhaltigkeit und Klimaschutz vorzutäuschen, ohne wirklich etwas gegen den eigenen CO₂-Fußabdruck zu unternehmen.
Der Verified Carbon Standard (VCS) ist ein internationaler Zertifizierungsstandard für handelbare CO₂-Einsparungen aus Klimaschutzprojekten. Er wird von der Non-Profit-Organisation Verra vergeben und soll die tatsächlichen CO₂-Einsparungen von Nachhaltigkeitsprojekten überprüfen und dokumentieren, wird jedoch oft dafür kritisiert, dass viele dieser Einsparungen überbewertet oder nicht dauerhaft sind.
Im kompletten Gegensatz dazu steht Carbon Insetting. Während beim Carbon Offsetting Zertifikate gekauft werden, um die entstandenen Emissionen irgendwo auszugleichen, setzt Carbon Insetting innerhalb der eigenen Lieferkette an. So werden beispielsweise Produktionsanlagen effizienter, Lieferanten stellen ihre Plantagen auf nachhaltige Methoden um, Materialien werden recycelt oder Firmen installieren Solar- oder Windanlagen auf ihrem Gelände. Die Wirkung von Carbon Insetting ist zwar geringer: Die Verbesserungen sind kleiner, wirken aber genau dort, wo sie entstehen. So können Unternehmen Verantwortung übernehmen und Emissionen direkt im eigenen Wirkungsradius reduzieren, anstatt sie durch Bezahlung an anderen Orten kompensieren zu lassen. Auch wenn durch Carbon Insetting nicht alle Emissionen kompensiert werden können, macht es Einsparungen authentischer und sichtbarer.
Laut Experten fallen über ein Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen auf die Lebensmittelproduktion. Es wäre also ein signifikanter Beitrag zum Klimaschutz, sollten hier in der Zukunft ernsthafte Einsparungen entstehen. Auch HelloFresh äußerte sich auf Anfrage zu zukünftigen Nachhaltigkeitsambitionen. Man habe sich bereits vor dem endgültigen Urteil von Carbon Offsetting komplett verabschiedet und setze in Zukunft auf Carbon-Insetting-Projekte zur Emissionsreduktion innerhalb der eigenen Lieferkette. Ob derartige Projekte das Klima wirklich schützen, bleibt nach wie vor im Einzelnen zu überprüfen. Die Entwicklung macht jedoch Hoffnung, dass unternehmerische Nachhaltigkeit künftig über reine Werbeaussagen hinausgeht.