Leben ohne Strom- und Wasseranschluss

Weniger ist mehr

Waltraud und Jörn haben sich entschieden: Gegen die Leistungsgesellschaft. Für ein Leben in der Natur.
16. Febr. 2019

Leben ohne Strom- und Wasseranschluss? Für die meisten Menschen in Deutschland unvorstellbar. Für Jörn und Waltraud ist das Alltag. Die beiden haben sich vor 20 Jahren bewusst für den Ausstieg entschieden. Heute leben sie in einer Holzhütte wie Menschen vor einhundert Jahren. Wie funktioniert das in der modernen Gesellschaft?

In der schiefen Holzhütte riecht es süß und klebrig nach Quitte. Im rostigen Ofen knistert ein Feuer, darauf brutzelt Hirse, daneben brodeln Bohnen im Topf. Ansonsten: Stille.

Hier durchdringt nie das schrille Läuten eines Telefons die Ruhe. Hier quetscht nie der gehetzte Postbote ein Päckchen durch den Briefkastenschlitz. Denn hier gibt es weder Telefon noch Briefkasten. Hier gibt es weder Strom- noch Wasseranschluss. Hier leben Waltraud und Jörn.

„So zu leben ist ein Gewinn. Kein Verzicht. Man hat mehr“, sagt Waltraud. Die 69-Jährige hat sich ein meerblaues Tuch am Hinterkopf zusammengebunden, wie man es von Bäuerinnen auf alten Fotos kennt. Zweihundert Meter entfernt leben Menschen in einer anderen Welt: Menschen, die wie 99,8 Prozent der deutschen Haushalte ein Telefon besitzen. Menschen, die Fernseher, Elektroherd und Waschmaschine nicht mehr aus ihrem Leben streichen könnten. Waltraud und Jörn haben das schon vor über 20 Jahren getan.

Ihre etwa 20 Quadratmeter große Hütte steht irgendwo im hintersten Winkel eines Schrebergartens im Welzheimer Wald. Wo genau das ist und wie die beiden aussehen – das möchten sie nicht preisgeben. Zu groß ist die Furcht, man würde ihre Ruhe stören. Mit technischen Geräten wie Kameras wollen sie nichts mehr zu tun haben.

Selbstversorgung: Wie geht das?

1998 hat Jörn das Grundstück von seinem Vater geerbt, seitdem lebt der 49-Jährige dort gemeinsam mit Waltraud. Die beiden sind kein Paar, eher eine Zweckgemeinschaft, sagt Jörn. Gemeinsam führen sie ein Leben wie vor einhundert Jahren: Wasser zum Trinken und Waschen schöpfen sie aus der Quelle, die an ihrem Grundstück entspringt. Auf einem Holzofen kochen Waltraud und Jörn Kartoffeln, Bohnen, Kürbis und Mais – alles, was im Sommer auf dem Grundstück sprießt. Was die beiden im Frühling, Sommer und Herbst ernten, ernährt sie das ganze Jahr über. Fleisch essen sie nicht. Auch keine anderen tierischen Produkte, außer Honig von den eigenen Bienen. Öl, Getreide, Hirse und Seife ist alles, was Jörn hin und wieder mit seinem Fahrrad im Bio-Laden besorgen geht. Für die minimalen Ausgaben reicht Waltrauds Rente. Ansonsten leben sie vollkommen autark, also selbstständig und unabhängig vom Rest der Gesellschaft.

Halb zwölf – Zeit für Mittagessen. Mit eingezogenem Kopf stapft Jörn die Stufen in den Keller hinab. „Hier hat es gerade etwa null Grad“, meint er, „das geht gerade noch, aber kälter wäre schlecht.“ Im Keller ist es stockfinster. Bretter und alte Möbel verhindern, dass Licht und Kälte von draußen in den Raum dringen. Sie wären tödlich für die Schätze, die hier im Dunkeln ruhen. Als Jörn die Bretter von den Lichtschächten nimmt, fluten Sonnenstrahlen den Raum. Sie lüften einen Blick auf das Ergebnis harter Gartenarbeit: Mindestens fünfzig Kürbisse stehen in Reih und Glied in den Regalen und warten darauf, gekocht zu werden. Daneben türmen sich Kisten voller Äpfel und Quitten bis an die Kellerdecke. In einer Sandgrube im Eck lagern Karotten, Rote Bete und Schwarzer Rettich. „Der Sand hält kühl und feucht“, erklärt Jörn und beginnt nach dem Gemüse zu graben.

Lebensmittel lagern ohne Kühlschrank – eine Wissenschaft für sich. Jörn und Waltraud möchten so leben.

Warum steigen Menschen aus?

Der Psychotherapeut Wolfram Klein versucht zu erklären, weshalb Menschen aussteigen: „Menschen tun das, weil sie in einem Konflikt mit der Gesellschaft oder dem vorherrschenden System stehen.“ Klein hat in Amerika Psychologie und Psychotherapie studiert und sich in Stuttgart auf Verhaltenstherapie spezialisiert. Psychologisch betrachtet müsse man zwei Arten von Aussteigern unterscheiden: „Es gibt Menschen mit einer schwachen Persönlichkeit, die in der Gesellschaft etwas vermissen. Sie suchen Geborgenheit in einer kleineren Gemeinschaft und befolgen darin die Gruppenregeln. Es gibt aber auch Menschen mit einer starken Persönlichkeit, sogenannte Gründer, die eine andere Idee haben, wie sie leben möchten und sich das auch zutrauen.“

Waltraud und Jörns Idee: zurück zum Ursprung. Warum sie das machen hat Gründe, die in ihrer Vergangenheit und unserer Gesellschaft liegen. Jörn hat in Finnland Gesang studiert. Die Berufschancen waren gering, die Konkurrenz groß. Nach dem Studium hat er auf einem Demeterhof gelebt und gearbeitet – das Schlüsselereignis für seine Entscheidung zum Ausstieg. Waltraud war bis 1988 Lehrerin und hatte andere Vorstellungen vom Leben als ihr damaliger Mann: „Er war Unternehmensberater“, erzählt sie. „Er hat immer riesige Projekte geplant. Irgendwann hatte ich darauf keine Lust mehr.“

Leben mit mehr Lebensqualität

Vor mehr als dreißig Jahren hat Waltraud ihr Leben dann umgekrempelt. Erst kam sie bei Freunden unter, lebte in Wohngemeinschaften. Zehn Jahre später hat sie sich mit Jörn zusammengeschlossen, den sie durch seinen Vater kennenlernte. Zwischenzeitlich haben die beiden auf einem Grundstück mit Meerblick in Portugal gelebt. Die Selbstversorgung dort ist zu hart gewesen, erzählen sie. Im Sommer sei es zu heiß und trocken für den Gemüseanbau. 

Jörn und Waltraud wollten ein Leben mit mehr Lebensqualität. Selbstbestimmt und aus sich heraus leben nennen sie es. Ein Leben ohne das, was einen selbst und die Umwelt zerstört. Für sie ist es auch ein Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft.

Gedankenverloren blicken Waltrauds blaue Augen in die Ferne. Dann sagt sie:

„Viele Menschen lassen sich lieber eine neue Lunge transplantieren, anstatt mit dem Rauchen aufzuhören. Wir hören mit dem Rauchen auf.“

Waltraud

Auch mit materiellem Konsum haben die beiden abgeschlossen. Darauf sei kein Verlass, sagt Jörn. „Der Mensch ist zu schwerfällig, sich von bestimmten Dingen zu lösen“, findet Waltraud.

Wieso Verzicht so schwerfällt

Psychotherapeut Klein weiß, wieso Verzicht vielen Menschen schwerfällt: „Jeder hat Bedürfnisse und das ist auch menschlich. Der Grundstein dafür, was für uns unverzichtbar ist, wird schon in frühester Kindheit gelegt.“ Ein Stück zartschmelzende Schokolade nach dem Abendessen oder eine Zigarette – es gibt viele Dinge in unserer Gesellschaft, deren Konsum ein positives Gefühl in uns auslösen. Das Belohnungszentrum in unserem Gehirn wird durch bestimmte Stoffe angesprochen. Deshalb fühlen wir uns durch deren Konsum scheinbar besser. „Das ist ein sehr starker Mechanismus“, sagt Klein, „der letztlich aber auch dazu verwendet wird, um die Konsumgesellschaft am Laufen zu halten.“ Allein durch Werbung werden in uns ständig Bedürfnisse geweckt – oft unbewusst. Das Problem: Meistens sind das keine Bedürfnisse, deren Befriedigung für uns Menschen lebensnotwendig sind.

Das hat sich mit der Zeit verändert. Früher hatten die Menschen keine Wahl zwischen einer Lungentransplantation und Zigaretten. Die Medizin war kaum erforscht und Zigaretten konnte sich kaum einer leisten. Es gab nichts, worauf man noch verzichten konnte. Heute sind die Grundbedürfnisse der meisten Menschen befriedigt, deshalb kommen andere dazu.

Schon vor mehr als einhundert Jahren gab es Menschen, die viele moderne Bedürfnisse für überflüssig hielten. Einer von ihnen: der Amerikaner Henry David Thoreau. 1845 baute sich der Lehrer ein Haus am See in der Nähe von Massachusetts und lebte dort für zweieinhalb Jahre. Danach verfasste er das Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“, in dem er seine Erfahrungen schildert. Darin schreibt er:  

„Das meiste von dem, was man unter dem Namen Luxus zusammenfasst, und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechtes.

Leben ohne Luxus

Jörn und Waltraud brauchen diese Art von Luxus nicht. Ihr Luxus hat die Form von kleinen Vitaminbomben und liegt im Keller.

Jörn wühlt weiter mit den Händen im Sand – nach und nach erblicken drei kurze dicke Karotten, ein Schwarzer Rettich und zwei Rote Rüben das Licht. Quellwasser befreit sie von Sand und Schmutz. Zur Vorspeise gibt es Salat. Vom Teller leuchten einem die kleinen Geschöpfe der Erde entgegen: Dunkelrote Beete und der saftig grüne Rucola zeigen sich in ihrer schönsten Farbenpracht.

Während der Hauptgang – Bohnen, Kartoffeln und Hirse – auf dem Ofen brutzelt, lädt Waltraud zum Zuhören ein. Aus einer Schublade kramt sie einen kleinen Zettel hervor, den sie irgendwann aus einem Mitteilungsblatt ausgeschnitten hat. Der Text aus Patrick Süskinds „Der Kontrabass“ beginnt und endet mitten im Satz.

Seit sieben Tagen liest sie den Text jeden Tag beim Kochen vor. Einige Wörter sind mit bunten Holzstiften markiert. Beim Vorlesen hält Waltraud die Augen immer wieder über mehrere Sätze hinweg geschlossen – den Text kennt sie fast auswendig. Derselbe genüssliche Gesichtsausdruck wie beim Essen, huscht über ihr Gesicht. Sie liest:

„Wenn ich denke, dann holt mich meine Phantasie ein wie ein geflügeltes Pferd und galoppiert mich nieder. ‚Das Denken’, sagt ein Freund von …“

Partick Süskind, "Der Kontrabass"

„Hörst du überhaupt was da drinnen?“, ruft sie in Jörns Richtung. Er legt Holz nach. Kein Feuer – kein Mittagessen. Jörn nickt.

Literatur gibt Halt

Literatur ist sehr wichtig für sie, erzählen die beiden. Literatur ist etwas, worauf sie nicht verzichten möchten. „Dadurch wackelst du nicht mehr“, sagt Jörn. Bücher sind für die beiden ein Rückhalt. Das sieht man: Auf einer Kommode im Eck stapeln sich Bücher, auf dem Tisch liegen unzählige, akkurat ausgeschnittene Papierschnipsel mit kurzen Texten. Neue Bücher kaufen die beiden fast nie. Alle die in der Hütte liegen, seien noch aus der Zeit, in der Jörn das Grundstück geerbt hat. Ab und zu besorgen sie sich eine Zeitung, um auf dem Laufenden zu bleiben, erzählen Jörn und Waltraud. Bei einem typischen Tagesablauf steht das Lesen an vierter Stelle, direkt nach dem Einheizen, Waschen und Frühstücken. Danach fallen Arbeiten im Freien an: Holzhacken, Gartenarbeit, im Keller das faulige Gemüse aussortieren.

Dann: das Essen. Ein Festmahl, das zelebriert wird. Zubereitung und Einnahme dauern mindestens eineinhalb Stunden. Kein Vergleich zu einer Tiefkühlpizza, die in zwölf Minuten gebacken und nach weiteren fünf Minuten den gesamten Weg bis in den Magen zurückgelegt hat. Worauf Jörn und Waltraud nicht verzichten: Genuss.

Auch unentbehrlich: „Streichhölzer und der Ofen“, sagt Waltraud und grinst. Waltraud und Jörn sind zu den Grundlagen zurückgekehrt. Jörn sagt, er genießt das Erleben von Feuer, Wasser und Luft. „Hier kommt man zu sich selbst und kann seine eigene Existenz erfahren“, sagt Waltraud.

Worauf der Mensch nicht verzichten kann

Auch aus psychologischer Sicht gibt es etwas, worauf der Mensch nicht verzichten kann: soziale Kontakte. Psychotherapeut Klein erklärt: „Der Mensch ist ein Sozialwesen. Das soziale Zusammenleben hat ihn letztendlich zu dem gemacht, der er ist.“ Mit anderen Menschen aufzuwachsen und zu leben ist entscheidend für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, so Klein. Vor Hunderten von Jahren kann es für einen Menschen das Todesurteil gewesen sein, nicht in einer Gruppe zu leben. Außerdem gebe sozialer Kontakt den Menschen Input. Deshalb seien Beziehungen für die meisten Menschen das Entscheidende. Klein fasst zusammen: „Sozialer Umgang ist eine tiefe Sehnsucht, ein Grundbedürfnis des Menschen.“

Aus ihrer Ehe hat Waltraud zwei Söhne und eine Tochter. Ab und zu kommen sie zu Besuch – aber regelmäßig Kontakthalten ohne Telefon oder Postadresse? Schwierig. Jörn hat zwei Brüder, auch die sieht er nur selten. Immer wieder kommen Nachbarn oder ehemalige Schüler von Waltraud vorbei, erzählen die beiden. Viele Menschen interessieren sich dafür, wie sie leben.

Leben ohne Leistungsdruck und Konsum

Nach dem Mittagessen kehren die beiden wieder zum Tagesgeschäft zurück: Waltraud hackt Holz, Jörn schrubbt mit einer Schuhbürste backsteinfarbene Biberschwanzziegel. Er hat sie von einem Nachbarn geschenkt bekommen. Im Sommer will er damit das Dach neu decken.

Waltraud und Jörn sind unabhängig: materiell und geistig. Sie leben abseits vom Großteil der Bevölkerung und deren Einfluss. Ohne Telefon und Briefkasten, ohne Leistungsdruck und Konsum. Im Einklang mit der Natur.

„Menschen, die vorbeikommen schwärmen, wie schön es hier sei. Aber es macht eben auch nicht immer Spaß“, gibt Jörn zu, „das Leben ist eben kein Spaß.“