Überseegebiete

Vergessenes Paradies der EU

Die Kultur der Insel ist so vielseitig wie ihre Strände.
17. Mai 2018

Zwischen Vulkankratern, Traumstränden und kreolischer Kultur könnte man sich Europa kaum ferner fühlen: Doch das französische Überseedepartment La Réunion ist ein oftmals vergessenes Paradies der EU. Wie groß ist die Abhängigkeit zu Frankreich und sehen sich die Bewohner überhaupt als Europäer?

Eine Insel erscheint durch das Flugzeugfenster im Blickfeld. Eingebettet in den Indischen Ozean ragt sie aus dem Blau und lässt schon erste Eindrücke von steilen Talkesseln, Stränden und Vulkanlandschaften zu. Mit einem Ruck setzt das Flugzeug auf der Landebahn direkt am Wasser auf. Die Luft schmeckt nach Salz, die Sonne brennt vom Himmel  bienvenue au paradis!

Trotz vieler landschaftlicher und kultureller Unterschiede ist die Île de la Réunion, zu deutsch etwa Insel der Zusammenkunft, ein Teil des tausende Kilometer entfernten Frankreichs. Als Überseegebiet gehört die Insel zur Europäischen Union (EU) und ist sozusagen der südlichste Fleck Europas. Das heißt konkret: Man kann kinderleicht mit dem Personalausweis dorthin reisen und mit dem Euro bezahlen.

Dieser winzige Punkt auf der Weltkarte, gelegen zwischen Madagaskar und Mauritius, bietet rund 833 Tausend Menschen ein Zuhause. Mit etwa 2500 Quadratkilometern ist die Insel fast so groß wie das Saarland. Durch ihre vielfältige Natur, von der Teile UNESCO Weltnaturerbe sind, ist La Réunion nicht nur bei Sportlern ein Geheimtipp: Die Insel ermöglicht ein Eintauchen in die kreolische Kultur und den Indischen Ozean  allerdings nur an ausgewiesenen Lagunen, an denen keine Haigefahr besteht.

Sonnenuntergang in der Lagune.
Zwischen Litschi, Mango und Ananas treffen sich die Kulturen.
Endlose Strände, aber leider Badeverbot – wegen Lebensgefahr.
Wie auf dem Mond: Der Vulkan „Piton de la Fournaise” bricht regelmäßig aus.
Köstlichkeiten wie in Frankreich.
Der Strand von „Boucan Canot” erinnert fast an die Nachbarinsel Mauritius.
Diese niedlichen Bewohner findet man an Land und im Wasser.
Grüne Steilhänge und gleich dahinter das Meer: Das macht La Réunion aus.
Unzählige in Wäldern versteckte Wasserfälle locken Besucher.
Ob im Rum oder dem Nationalgericht „Cari”: Überall findet man die weltbekannte Vanille.

Eine Bewohnerin der Insel ist Peggy Leperrier. Aufgewachsen im Paradies, wo man zum Frühstück frische Litschis verspeist und abends noch kurz eine Runde schwimmen geht. Dass La Réunion ein Teil Frankreichs ist, behält man dabei ständig im Hinterkopf. Doch fühlt sie sich überhaupt zugehörig zu einem so weit entfernten Kontinent? „Durch die große geographische Abgeschiedenheit spürt man die Verbindung zu Europa kaum”, erklärt Peggy.

„Was ich liebe und schätze, ist der Melting Pot: die Toleranz zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen, die in Berührung kommen.”

Peggy Leperrier

An politischen Entscheidungen teilnehmen können die Inselbewohner jedoch wie jeder Franzose in Form von Wahlen. „Als ich über zehn Jahre in Frankreich gelebt habe, fühlte ich mich doch in erster Linie reunionesisch. Ich weiß, wir gehören dazu, aber meine Kultur ist anders.” Den größten Unterschied zwischen der Insel und Europa mache für sie der Rassismus aus: „Denn hier auf La Réunion spürt man ihn nicht.”

Ärger im Paradies?

Besonders die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Insel und „La Métropole”, wie Frankreich hier genannt wird, sind schwierig. Grund dafür ist unter anderem die hohe Abhängigkeit zum Mutterland und damit zu Europa. Da La Réunion aufgrund geringer Ressourcen selbst nur wenig produziert, sind importierte Produkte sehr teuer. Laut einer Erhebung des staatlichen französischen Statistikamtes Insee im Jahr 2015 kosten Lebensmittel rund 37 Prozent mehr als in Frankreich. Ähnlich verhält es sich im Gesundheitswesen oder der Telekommunikation.

Politisch sorgen EU-Vorgaben für Konfliktpotenzial. Es werden Standards und Regeln verlangt, die auf die Insel nur schwer anwendbar sind, da sich La Réunion landschaftlich und kulturell stark von Europa unterscheidet. Die Bekämpfung struktureller Probleme wie der hohen Arbeitslosigkeit preist die französische Politik immer wieder an, aber realisiert sie kaum. Etwa ein Viertel der Bevölkerung war 2017 arbeitslos, wie Insee zeigt.

Wie alles begann

Schon lange bevor die Insel Teil Frankreichs wird, halten Seefahrer dort. Es sind aber Franzosen mit madagassischen Bediensteten, die die Insel zuerst besiedeln. Da sich die Angestellten auf La Réunion fortpflanzen, gelten Madagassen als die ersten Bewohner. Danach wird die Insel von einer Sklavenhalterschaft beherrscht, deren Arbeitskräfte aus Afrika und Madagaskar eingeschleppt werden. Im Jahr 1841 entdeckt ein junger Sklave eine Methode, mit der man Vanilleblüten künstlich bestäuben kann. Die Bourbon Vanille, die den Namen des Sklavenhalters trägt, verleiht der Insel einige Jahre lang den Namen Île Bourbon und ist heute noch weltbekannt. Sieben Jahre später wird die Sklaverei abgeschafft, weshalb die Kolonie neue Arbeitskräfte in Indien sucht. Seit 1946 ist die Insel offiziell ein Überseedepartment Frankreichs.

Die Politik versucht jedoch, den Nachteil der geographischen Abgelegenheit durch verbesserte Infrastruktur und das Schaffen von Arbeitsplätzen zu kompensieren. Da sich La Réunion in äußerster Randlage der EU befindet, wird die Insel als ultraperiphere Region bezeichnet. Sie gehört außerdem zum Schengenraum und die Bewohner profitieren von europäischen Sicherheitsstandards. Im EU-Parlament sitzen zudem fünf Vertreter der Insel.

Ein bisschen fühlt man sich also doch heimisch, wenn man auf der rechten Seite einer gut geteerten Küstenstraße entlang tingelt und Verkehrsschilder wie in Frankreich den Weg weisen. Man entdeckt Europa in kleinen Details, zum Beispiel in EU-genormten Steckdosen oder perfekten Croissants, als säße man in einer schnuckligen Boulangerie in Paris. In den Herzen der meisten Inselbewohner teilen sich wohl drei Identitäten den Platz: Kreole, Franzose und Europäer.

Europa in Übersee

Weltweit findet man viele Überseegebiete europäischer Staaten. Abgesehen von den aufgezeigten Beispielen gibt es auch Gebiete anderer Länder wie den Niederlanden.

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Die Farbe des Punktes steht für die Zugehörigkeit zum jeweiligen Land. | Quelle: Anna Germek