„Die Leute knabbern irgendwie alle am gleichen letzten Salatblatt und jeder will was abhaben.“
Mauer im Kopf
Ich komme aus Ostdeutschland. Aus Sachsen. Wenn mich jemand fragt, sage ich Leipzig, weil sich das besser anhört als „Naja, irgendwo aus dem Leipziger Land. Bin als Kind zwischen Dorf und Kleinstadt und wieder Dorf hin- und hergezogen. Dann irgendwann alleine nach Leipzig, nur um schließlich in Stuttgart zu landen. Obwohl meine Oma gesagt hat, ich soll nicht in den Westen ziehen.” Das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, war geteilt. Mir war klar, dass es ein großes Deutschland gibt, aber eben auch zwei kleine: den Westen und den Osten. Im Westen war es irgendwie anders, aber ich wusste nie so richtig warum. Ich wusste auch nicht, wo der Westen anfängt und wo der Osten aufhört, oder welches Bundesland „neu“ oder „alt“ ist. Ich wusste, dass es mal eine DDR gab und dass das schlimm war. Aber das ist schon lange vorbei, obwohl jeder Erwachsene in meinem Leben es noch miterlebt hat. Die waren aber auch schon alt (also um die 30).
Unterschiede in Politik und Wirtschaft sorgen bis heute dafür, dass sich die „Ossi“- und „Wessi“- Mentalität in hartnäckigen Vorurteilen festsetzt. Ossis sind einfach gestrickt und wählen rechts, während die Wessis rotweinschlürfend Porsche fahren. Wenn man sich die Wahlergebnisse des Jahres 2025 anguckt, scheinen sich diese Vorurteile durch eine schwarz-blaue Grenze mitten durch Deutschland zu bestätigen. Was man auf den ersten Blick jedoch nicht sehen kann, ist, dass Menschen ohne Tarifvertrag eher AfD wählen. Und dass bei der Wiedervereinigung das westdeutsche Tarifsystem nicht in den Osten übernommen wurde, weshalb die Tarifbindung und damit unter anderem finanzielle Benefits, wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, schlechter sind, als in Westdeutschland. Oder, dass große Industriestandorte nach der Wende einfach abgebaut wurden, was zu Massenarbeitslosigkeit geführt hat. Die Vermögensdifferenz zum Westen konnte nie aufgeholt werden und die Menschen in Ostdeutschland verdienen trotz höherer Wochenarbeitszeit um einiges weniger als die Menschen im Westen.
Hannah Lilly Lehmann ist Vorsitzende der Jusos (Jugendorganisation der SPD) in Leipzig, also als junge Frau im Osten politisch aktiv. Mit ihr habe ich ein Gespräch über die Verhältnisse von jungen Menschen in Ostdeutschland geführt. Sie sagte mir: „Es ist möglich gewesen, im Westen ein Vermögen zu akkumulieren. Das haben wir hier im Osten nicht.“ 35 Jahre nach dem Mauerfall ist es uns immer noch nicht gelungen, gleiche Chancen für alle Deutschen herzustellen, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Eine bessere Sozial- und Wirtschaftspolitik wäre ein Anfang, oder wie Lehmann sagt: „Wenn Deutschland gute Vermögenspolitik machen würde, dann würde die Vermögensungerechtigkeit natürlich sinken, weil es die meisten großen Vermögen in Westdeutschland gibt. Mehr Geld, mit dem man im Staat arbeiten, und mutiger Geld ausgeben kann, wäre ein Anfang. Wir sehen das in Dresden, da brechen die Brücken zusammen. Auf dem Land fährt dreimal am Tag der Bus – wie soll man sich da nicht ein bisschen vernachlässigt fühlen?“
Ossi sein - Was heißt das?
In meinem Freundeskreis waren alle ostdeutsch und mindestens ein wenig stolz darauf, egal aus welchem politischen Spektrum. Wobei der vermeintliche Stolz oft eher Trotz gewesen ist. Als müsste man sich rechtfertigen oder als wäre es etwas, wofür man als junger Mensch etwas könnte. Für uns war ostdeutsch sein: Kartoffeln und Quark, Nudeln mit Würstchen und Ketchup, Vita Cola und später Pfeffi, Rotkäppchen Sekt und Sterni am Späti mit Kippe und über den Wessi sinnieren, vor allem aber als Ossi stabil bleiben. Hakenkreuze an Bushaltestellen übermalen. Gute Freunde fragen, warum sie bei der Jugendwahl an der Schule die AfD wählen und keine Antwort bekommen. Sich in Chatrooms als Ostdeutsch betiteln und irgendwie dafür schämen. Für mich war es, in den Westen zu ziehen und zu merken, dass es irgendwie doch niemanden interessiert. Erklären müssen, dass Leipzig in den neuen Bundesländern liegt, dann erklären, was neue Bundesländer sind. Identitätskrise.
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Der Ursprung für diese Identität liegt bei der Generation, die noch hinter der deutsch-deutschen Grenze aufgewachsen ist. Frau Lehmann ist der Meinung: „Junge Menschen haben nicht so einen krassen Wessi-Hass, wie man das von unserer Elterngeneration in Teilen kennt, sondern der Hass geht dann gegen andere Leute, die ihnen etwas wegnehmen. Aber es geht immer darum, dass einem etwas weggenommen wird und ich glaube, das ist einfach weiter übergesprungen und gleicht sich heute an andere Dinge an. Wir fühlen uns ungerecht behandelt und wir werden auch ungerecht behandelt, das sorgt natürlich dafür, dass man diese Narrativen übernimmt und sie wieder anders ausbreitet.“ Es reißt eine Wunde, in die rechte Ideologien den Finger legen können. Der Ossi ist unzufrieden und wählt deswegen gegen seine Interessen und wenn es dann nicht besser wird, liegt es am Wessi oder am Staat und an den Ausländern, aber garantiert nicht an der eigenen Mentalität. „Die Leute knabbern irgendwie alle am gleichen letzten Salatblatt und jeder will was abhaben“, sagt Lehmann. „Eine Ungerechtigkeit wird wahrgenommen und dann ist die Frage, wer schafft die Antwort. Daher kommt auch die relativ leichte Anfälligkeit für autoritäre Strukturen, denn man hätte gerne leichte Antworten auf komplexe Fragen.“
Aber auch das linke Spektrum im Osten ist laut, das zeigen antifaschistische Aktivist*innen wie Jakob Springfeld. Er kommt aus Zwickau in Sachsen und ist Autor des Buches „Unter Nazis”. In der ZDF Doku „Links gegen Rechts: Der Osten als politische Kampfzone“ sagt er: „Auch linke Menschen zählen dazu, wenn wir über Ostdeutschland sprechen“. Immerhin hat die Linkspartei bei der Bundestagswahl 2025 in Ostdeutschland überall mehr als zehn Prozent holen können, in Berlin sogar fast 20 Prozent. Deutlich mehr als der westliche Durchschnitt. Aus meiner Erfahrung ist die linke Szene dort lauter, wo sie das sein muss. Wo einem „scheiß Zecke“ auf dem Schulhof hinterhergeschrien wird. Wo man Angst haben muss, und deshalb mutig wird.
Es hat sich immer ein bisschen danach angefühlt, als würde man die Debatte darüber, ob Aufwachsen in der Stadt oder auf dem Land besser ist, auf Bundesebene führen. Wobei die Ostdeutschen die Dorfkinder sind und die westdeutschen Jugendlichen aus der Stadt kommen. Natürlich ist nicht das eine besser oder schlechter, allerdings fühlt es sich als Dorfkind doch immer ein bisschen so an, als würde man etwas verpassen. „Der Osten ist irgendwie ein bisschen mehr Dorf“, sagt die Influencerin Stachel aus Gera, die auch in der Doku des ZDF zu sehen ist.
Mit Ausnahme von einigen Großstädten nimmt die Bevölkerung im Osten im Vergleich ab. Laut Deutschlandatlas liegt ein Bevölkerungsrückgang meist an ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklungen und schlechter Infrastruktur. Im Osten liegt es aber eben auch daran, dass Zuwandernde eher in den Westen gehen und junge Menschen immer noch wegziehen, weil die finanziellen Perspektiven im Westen besser sind, als in der Heimat. Dennoch werden Zugezogene aus dem Westen oft abgelehnt.
Hannah Lilly Lehmann sagt: „Für mich sind die Mieten hier gerade so bezahlbar, aber für [Studierende] aus Stuttgart sind sie halt super günstig und dann wird natürlich ein falsches Spiel aufgemacht. Es ist nicht richtig, dass diese jungen Menschen gegeneinander ausgespielt werden, weil sie beide von finanziellen Nöten betroffen sind.“ Sie schließt: „Ein Anfang wäre, dass man als Generation grundsätzlich mal ernst genommen wird, egal ob Ost oder West.“