„Langeweile lässt eine Entscheidung fällig werden.“
Keine Angst vor dem Nichts – Warum wir Langeweile zulassen dürfen
„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ Seitdem ich dieses Zitat von Astrid Lindgren gehört habe, lässt es mich nicht mehr los. Vielleicht, weil es allem widerspricht, was ich von unserer heutigen Gesellschaft zu spüren bekomme. Gute-Nacht-Geschichten von Pippi und dem kleinen Onkel liegen in meinem Leben schon so lange zurück wie der verregnete Nachmittag, an dem ich das letzte Mal „Mama, mir ist sooo langweilig!“ gequengelt habe. Mit dem Älterwerden werden die To-do-Listen länger und die Tage kürzer. Geburtstage, an denen man sich jedes Mal aufs Neue fragt: „Wie konnte ein ganzes Jahr wieder so schnell rumgehen?“ Da bleibt wenig Zeit fürs Nichtstun. Und zusätzlich existieren wir heute auch noch in zwei Welten gleichzeitig: online und offline.
„Durch euren Social-Media-Konsum erlebt ihr an einem Tag so viel, wie Menschen im Mittelalter in einem ganzen Jahr“, habe ich mal in der Schule gehört. Ob das stimmt, sei dahingestellt, aber Begriffe wie „Hustle Culture“, „Productivity Guilt“ und „FOMO“ kannte man damals bestimmt nicht. Noch nie war es so leicht, jede Leerstelle sofort zu füllen. Alles scheint auf Maximierung ausgelegt zu sein. Mehr Arbeit, mehr Konsum, mehr vom Mehr. Nur eins darf gar nicht erst aufkommen: die Langeweile. Aber warum eigentlich? Was fürchten wir in Momenten der Stille so sehr, dass wir sie reflexhaft übertönen?
Was steckt hinter den Hashtags?
#HustleCulture: Die gesellschaftliche Erwartung, ständig produktiv zu sein. Erfolg wird über Leistung, Tempo und Auslastung definiert. Pausen gelten als Schwäche.
#ProductivityGuilt: Das schlechte Gewissen, nicht „genug“ geschafft zu haben. Entsteht, wenn freie Zeit und Erholung als unproduktiv wahrgenommen werden.
#FOMO (Fear of missing out): Die Angst, etwas zu verpassen, beruflich, sozial oder online. Sie verstärkt den Drang, permanent erreichbar und beschäftigt zu sein.
Warum wir Langeweile meiden
Langeweile ist per Definition der Psychologie ein negativer Zustand. John Eastwood, Associate Professor für Psychologie an der York University Toronto, definiert sie als „das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können“. Dass wir versuchen, diese Situation zu vermeiden, klingt logisch. Dieses Muster nennt sich „Idleness Aversion“ – die Abneigung gegen Müßiggang: Wir tun lieber irgendwas als gar nichts. Dass sogar physische Schmerzen verlockender sein können, als das Gefühl der Untätigkeit, zeigt eine gemeinsame Studie der University of Virginia und der Harvard University: 42 Personen sollten 15 Minuten lang ohne Reize allein mit ihren Gedanken verbringen. Als einzige Ablenkung stand ein Gerät bereit, mit dem man sich Elektroschocks verpassen konnte. Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen schockten sich mindestens ein Mal, ein Ausreißer sogar 190-mal.
Zu sagen, dass Menschen sich lieber foltern lassen, als sich zu langweilen, ist vermutlich dennoch übertrieben. Trotzdem zeigt das Experiment, dass wir Reizarmut kaum aushalten. Und womit funktioniert das heutzutage am besten? Mit einem Gerät, das uns nicht gerade physische Stromschläge verabreicht, dafür aber unser Verlangen nach Stimulation mit nur einer Daumenbewegung im Sekundentakt befriedigt. „Scrollen auf Social Media hat den Aspekt einer belohnungsdichten Umgebung“, erklärt Oliver Schultheiss, Professor für Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Jeder Swipe ist ein kleiner Dopaminstoß. Wir fühlen uns aktiv, sogar produktiv und gleichzeitig immer unruhiger beim Warten auf den nächsten Reiz. Wer dieser „Popcornbelohnung“ dauerhaft hinterherjagt, verpasst zwar keine neuen Hashtags, dafür aber jede Möglichkeit zur Selbstreflexion. Überraschend, dass gerade auf TikTok ein Trend kursiert, der genau das Gegenteil fordert: eine Stunde langweilen. „Mein Albtraum“ oder „Ich würde verrückt werden“ heißt es überwiegend in der Kommentarspalte.
Wenn Reize wegfallen und wir unsere Aufmerksamkeit nach innen richten, wird im Gehirn das „Default Mode Network“ aktiv. Ein Netzwerk, das anspringt, wenn wir zur Ruhe kommen. Sabrina Krauss, Professorin für Psychologie an der SRH-Universität in Hamm, nennt diesen Zustand die „kognitive Küche“: Erst wenn äußere Reize ausbleiben, sortiert unser Gehirn alle Eindrücke, die wir den Tag über aufgenommen haben. Unsere mentalen „Einkäufe” wandern in die entsprechenden „Küchenschränke”. Gedanken ordnen sich, das Nervensystem beruhigt sich und plötzlich entsteht Platz für Ideen. Wie in einer echten Küche gilt: Wenn wir immer nur neue Tüten abstellen, ohne sie auszupacken, stapelt sich das Chaos und bevor Ordnung im Kopf entstehen kann, taucht oft erst das auf, was wir im Alltag lieber übersehen. „Langeweile lässt eine Entscheidung fällig werden“, sagt Krauss. Flucht oder Konfrontation?
Wenn Langeweile zu Arbeit wird
Im Alltag fällt es uns schwer, uns dieser Frage wirklich zu stellen. Dabei ist ein zunehmender Wunsch nach Ruhe und Achtsamkeit in den letzten Jahren zu verzeichnen. Laut einer Studie von Yoga Vidya meditierten im Jahr 2023 15 Prozent der Deutschen regelmäßig und 19 Prozent gelegentlich. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Personen, die jemals meditiert haben, noch bei sieben Prozent.
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Auch Michaela Müller beobachtet, dass die Sehnsucht nach Stille wächst. Sie hat mit ihrer Schwester „Wainando Travel“ gegründet und organisiert unter anderem Schweigeseminare. Drei Tage Schweigen klingt für viele nach „Nichtstun“. Tatsächlich ist es das genaue Gegenteil. Meditation ist innere Arbeit. „In der Stille kann sehr viel hochkommen“, sagt die Co-Founderin. Genau das mache die ersten Tage oft anstrengend: Sitzen, atmen, schweigen und nicht dem ersten Fluchtimpuls aus der Stille folgen. Wer bleibt, erlebe häufig einen Perspektivwechsel. Der reizarme Raum lenke den Blick wieder nach innen. Essen, Gehen, Atmen würden plötzlich bewusst wahrgenommen. Alles gewinne an Tiefe, wenn man es ohne Ablenkung tue.
Schweigeretreats seien allerdings kein Schweigen nach Vorgabe. Jede Person entscheide selbst, wie viel Stille sie zulasse und ob sie über das sprechen wolle, was hochkomme. Nicht nur die Stille sei das Zentrum, sondern auch das, was in ihr passiere. Es gehe darum, wieder Verbindung zu sich selbst aufzubauen und zu lernen, diese Verbindung auch im Alltag wiederzufinden. Sabrina Krauss betont, dass Schweigeretreats zwar keine psychotherapeutische Behandlung etwa bei Burn-Out oder Depressionen ersetzen – aber eine Ergänzung im Bereich Achtsamkeit und Meditation sein können. Zu mehr Entspannung im Alltag könnten auch kleine Meditationen und Achtsamkeitsübungen zu Hause beitragen.
Achtsamkeit und Reflexion steigern unsere Lebensqualität. Genau deswegen sollten wir Momente der Langeweile zulassen. Sie schaffen Raum für eine Begegnung mit uns selbst und wir entscheiden, ob wir diesen Raum zulassen oder sofort wieder füllen. Stille und „langweilige“ Pausen sind keine verschwendete Zeit, sondern kleine Auszeiten von einem Alltag, der immer schneller wird. Momente, die uns zeigen, dass draußen, jenseits von Deadlines und Displays, noch etwas passiert. Vielleicht haben wir die reale Welt ein wenig aus den Augen verloren. Und vielleicht ist Langeweile gerade deshalb so wertvoll: weil sie Dinge sichtbar macht, die sonst im toten Winkel verschwinden. Weil sie uns zwingt, den Blick zu heben und nicht nur auf die stark befahrene Spur vor uns zu starren, sondern auch den Schulterblick zu wagen.
Also schalte ich auf dem Heimweg das Handy aus. Ohne Kopfhörer höre ich die Musik eines Straßenmusikers, sehe, wie die Sonne durch die Herbstblätter fällt und plötzlich einen Sticker an der Ampel, der fragt, wann ich zuletzt ohne Handy durch die Stadt gelaufen sei – vermutlich lange bevor dieser nun abgeblätterte Sticker dort klebte. Ich muss schmunzeln. Sicherlich bin ich schon hundertmal an ihm vorbeigegangen. Wahrgenommen habe ich ihn erst jetzt – in dem Moment, in dem ich mich entscheide, auf meinem „langweiligen“ Heimweg einmal wirklich hinzusehen.