Antinatalismus

Eine Welt ohne Kinder

Der Antinatalismus wirbt um den Verzicht auf eigene Kinder. Was steckt dahinter?
17. März 2021
Verzicht auf Kohlekraftwerke, dreckige Verbrennerautos und Billigflüge zum Urlaubsziel – wir alle wissen, wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun. Aber sollte der Verzicht so weit gehen, dass wir zukünftig keine eigenen Kinder mehr bekommen? - Ein Essay.

„Mütter sind jetzt also die neuen Klimasünder, oder was?“, schrieb eine Twitter-Userin unter ein Video, das im Rahmen der ARD-Themenwoche Ende letzten Jahres veröffentlicht wurde. In diesem Film äußerten sich bekannte TV-Personen wie Carolin Kebekus, Ariane Alter oder Alice Hasters dazu, ob sie sich eher für Nachhaltigkeit oder eigene Kinder aussprechen würden. Die Welle der Empörung war groß, denn muss man sich wirklich zwischen dem Kinderkriegen und der Rettung des Planeten entscheiden? Kann man es heute überhaupt noch verantworten, Kinder bekommen zu wollen? Und ist das „kinderfreie“ Leben wirklich eine Option?

Die aktuelle Situation

Eigentlich sagen die meisten Statistiker*innen, es wäre schön, wenn die Geburtenrate vor allem in Deutschland wieder etwas steigen würde – gerade wenn wir in Zukunft mit einem überlasteten Rentensystem und einem Mangel an Fachkräften vor allem in handwerklichen Berufen rechnen können. Damit könnten wir die demographische Zeitbombe zumindest etwas verlangsamen. Die Lösung wäre eine steigende Geburtenrate in Deutschland oder die Zuwanderung aus dem Ausland. In Deutschland sank im letzten Jahr die Geburtenrate weiterhin. So wurden von Januar bis September 2020 in Deutschland 580 342 Kinder geboren. Das sind rund ein Prozent weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Die Graphik zeigt die Geburtenrate in Deutschland seit 2020. Quelle: Statistisches Bundesamt

Doch dieser Geburtenrückgang reicht den sogenannten Antinatalisten noch nicht aus. Ihre These: Alle ökologischen, politischen oder sonstigen Probleme auf der Erde werden irgendwann gelöst werden, wenn die internationale Geburtenrate konsequent unter zwei gehalten wird. Aus diesem Grund sollen sich weltweit immer mehr Erwachsene gegen die Elternschaft entscheiden. Jedoch kann der Verzicht auf Kinder nicht von der Verantwortung befreien, andere Maßnahmen gegen weltweite Problem in Angriff zu nehmen. 

Harmonisches Familienbild

Generell ist es nicht zeitgemäß, gegen die Elternschaft und das Kinderkriegen zu sein. Unschuldige Knirpse in die Welt zu setzen, sie zu behüten und zu umsorgen, ihnen die eigenen Werte zu vermitteln, mit ihnen Freude und Leid zu teilen, das alles hat für die Mehrheit der Deutschen einen sehr hohen Stellenwert. Darum sieht man in der Windel-Werbung spielende Kinder meist immer noch klischeehaft mit der Mutter auf einer Wiese herumtollen. Das alles eingefärbt in ein weiches, warmes Licht. Auch im Internet sieht man immer mehr YouTube-Mamis mit Thermomix und den Vater klassischerweise mit seinem neuen Spielzeug, dem Rasenmäher. Auch gleichgeschlechtliche Paare können mittlerweile das Elternglück genießen. In dieser Welt der positiven, sogar überhöhten Familienvorstellung, ist die Kinderfeindlichkeit einer der schlimmsten Vorwürfe. 

Eine philosophische Bewegung

Davor schrecken die Anhänger der Antinatalistischen Bewegung aber nicht zurück. Die Bewegung besteht aus drei Flügeln. Die Childfree-Bewegung steht dafür ein, dass niemand sich rechtfertigen muss, keine Kinder haben zu wollen oder kriegen zu können. Der politische Antinatalismus hingegen stellt die ökologischen und politischen Gründe für einen Verzicht auf Kinder in den Vordergrund. Laut Prognose der UNDESA 2019 wird die Weltbevölkerung bis 2100 auf 10,87 Milliarden Menschen ansteigen. Gleichzeitig steigt aber auch der weltweite Lebensstandard und somit werden insgesamt immer mehr Ressourcen für mehr Menschen benötigt. Jedoch sind unsere Ressourcen auf der Erde begrenzt. Der Publizist Tim De Chant erstellt seit 2012 eine Übersicht dazu, welche Landfläche sieben Milliarden Menschen (die momentane Weltbevölkerung) benötigen würde, wenn weltweit alle Menschen auf demselben Lebensstandard leben würden, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Auch das Netzwerk des ökologischen Fußabdrucks fand heraus, dass wir bei unserem momentanen Ressourcenverbrauch zwei Erden benötigen würden. Somit könnte sich in Zukunft der Ressourcenmangel bei einer steigenden Geburtenrate noch verstärken. Der Verzicht auf ein Kind oder zumindest das Leben in kleinen Familien soll laut einer Studie der Lund Universität einen größeren Effekt erzielen, als alle individuellen möglichen Beiträge gegen die Klimakrise. Damit wäre eine Art „Bevölkerungsreduzierung“ durch eine geringere Geburtenrate durchaus eine Lösungsmöglichkeit dieses Problems, so finden die Antinatalisten.

Auch bekannte Stars wie Miley Cyrus fühlen sich dieser Bewegung zugeneigt: „Wir bekommen einen zerstörten Planeten dargereicht und ich weigere mich, so etwas meinen Kindern weiterzugeben.“ Der letzte Flügel, der philosophische Antinatalismus, verkündet, warum das Leben prinzipiell niemandem zuzumuten ist. Stellvertreter dieser Bewegung sind vor allem Karim Akerma, Théophile de Giraud, aber auch ältere Philosophen wie Schopenhauer oder E. M. Cioran, mit seinem Werk Vom Nachteil, geboren zu sein. Die Begründungen dafür sehen diese Art von Antinatalisten darin: Erstens sei Schmerz immer intensiver und anhaltender als das Wohlgefühl. Zweitens sei Unglück präsenter als Glück. Drittens dehne Unglück die Zeit und Glück komprimiere sie. Daraus leiten philosophische Antinatalisten ab: Das Leben generell ist für sie nicht lebenswert.

Kinder kriegen aus Egoismus?

Ein weiterer Vorwurf der Bewegung: Die Eltern wollen Kinder nicht aus Selbstlosigkeit, sondern aus purem Egoismus. Dieser Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen, jedoch total an der Wirklichkeit vorbei. Das antinatalistische Gedankengut und die Argumentationsweise sind theoretisch zwar schlüssig, aber es ist und bleibt eine Kopfgeburt oder besser gesagt eine Kopf-Nicht-Geburt. Denn wie die momentane Geburtenrate in Deutschland beweist, steigt die Weltbevölkerung nicht aufgrund der Geburtenrate von „westlichen“ Ländern. Mit dieser Argumentationsweise würde man keinen richtigen Effekt erzielen, auch wenn der ökologische Fußabdruck in den industrialisierten Ländern pro Kopf größer ist. Dadurch wird insgesamt deutlich: Komplett zu Ende gedacht, ist das Konzept der Antinatalisten nicht.

Im schlimmsten Fall könnte man ihnen sogar rassistisches und menschenverachtendes Gedankengut vorwerfen, mit Worten wie „Überbevölkerung vor allem in Afrika“ oder der radikalsten Bewegung der Efilisten, die über einen roten Knopf nachdenken, mit dem sie in einer Art kollektivem Suizid den Planeten von der Menschheit befreien wollen.

Was muss passieren, dass Menschen denken, sie können keine Kinder in die Welt setzen, weil die Welt so schlecht ist. Sind es Begegnungen im Leben dieser Antinatalisten mit Gewalt, Umweltkatastrophen, psychischen Erkrankungen oder einfach einer Hoffnungslosigkeit, die sie dazu veranlasst das eigene erfahrene Leid den Nachkommen nicht mehr zumuten zu wollen? Und ist der Verzicht auf Kinder das Gefühl der Resignation, das letzte wirkliche Druckmittel, das diese Menschen sehen, um in unserem gesellschaftlichen System aufzubegehren?

Sollten wir nicht andere Möglichkeiten politischer Teilhabe verbessern oder leichter zugänglich machen, damit wieder mehr Hoffnung in die Gesellschaft eintritt. Dann müssen Probleme wie Gewalt in Familien, politische Konflikte und die Klimakrise nicht auf einer individuellen Ebene ausgefochten werden. Keine Kinder zu bekommen, um den Planeten vermeintlich damit zu retten, befreit uns sonst von der eigenen Verantwortung, etwas gegen die momentane Lebenslage zu unternehmen. Dabei könnte der Verzicht auf Kinder sonst eine Art Freifahrtschein werden – ich verzichte doch schon auf Kinder, jetzt kann ich regelmäßig mit dem Flugzeug durch die Welt reisen. Anna Sukenick, eine aktive Vertreterin des Antinatalismus, sagt: „Ich finde der Antinatalismus ist eine sehr elegante, einfache und brillante Methode, die Probleme der Menschheit zu bewältigen.“ Aber damit macht man es sich zu einfach diese globalen Probleme, wie den Klimawandel und politische Konflikte, zu bekämpfen. Sie sind komplex, schmutzig und keineswegs einfach zu lösen.

Denn was der antinatalistische Ansatz vergisst: Er ist und bleibt ein Versuch einzelner, etwas zu verändern, denn wie man beispielsweise an Fridays for Future erkennen kann, braucht es viele, um einen Umschwung zu bewirken. Der Verzicht auf Kinder ist der falsche Ansatz, ist eine Kopfgeburt und praktisch nicht umsetzbar! Wir sollten nicht an den globalen Problemen verzweifeln, sondern den Planeten wieder mit anderen Maßnahmen lebenswerter machen, damit wir mit gutem Gewissen und Zuversicht und Hoffnung weiterhin Kindern das Leben auf unserer Welt schenken können. Dann „lieber nachhaltig leben, als keine Kinder bekommen“, wie Alice Hasters im Video der ARD sagt.

„Das Schicksal des Menschen, ist der Mensch.“

Bertold Brecht