Pamhela Reumann beugt sich vor, so nah wie möglich an die ratternde Nähmaschine. Gleichmäßig zieht sie den Stoff durch. Ab und zu wippt sie im Takt zur Musik, die aus einem kleinen Lautsprecher kommt. Reggaeton. Die junge Modedesignerin sitzt in ihrem Arbeitszimmer in ihrer Mietwohnung in Stuttgart-Zuffenhausen und näht Stoffmuster für eine Weste ihrer kommenden Kollektion zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgt sie jeden Stich der Nadel. Schon immer, erzählt sie, sei es ihr Traum gewesen, Modedesignerin zu werden. Geboren und aufgewachsen in Caracas, Venezuela, begann dieser Traum mit Barbiepuppen, denen sie aus Kreppklebeband Kleidung bastelte.
In ihrer Heimat ist es üblich, in das Familiengeschäft einzusteigen – für sie wäre das die Autowerkstatt ihres Vaters gewesen. Doch Pamhela wollte einen anderen Weg gehen. Die wirtschaftliche Lage in Venezuela verschlechterte sich. Lebensmittel wurden knapp, Inflation und Kontrollen bestimmten den Alltag. Einkaufen durfte sie nur an bestimmten Tagen. Dann, wenn die Ziffer auf ihrem Ausweis mit dem Datum übereinstimmte. Zusammen mit ihrem Bruder und ihrem Cousin beschloss sie 2016, auszuwandern. In Deutschland wollte sie ursprünglich nur die Sprache lernen. Doch aus dem Plan wurde mehr. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Modedesignerin, arbeitete lange im Einzelhandel. Der Schritt in die Selbstständigkeit kam erst Jahre später, als ihr eine versprochene Stelle doch verwehrt wurde. „Scheiß drauf“, habe sie damals gedacht. Im November 2024 gründete sie daraufhin ihr eigenes Label: RMNN by Pamhela Reumann.
Gründen im Nebenerwerb
Pamhela führt ihr Unternehmen im Nebenerwerb. So wie viele in Deutschland, die neben einer Anstellung ein Unternehmen gründen, um Fixkosten wie Miete abzusichern. Solche Gründungen sind Teil eines schrumpfenden Feldes: Seit 2012 ist die Zahl der Selbstständigen in Deutschland um rund acht Prozent gesunken, vor allem unter den Solo-Selbstständigen, also Gründerinnen und Gründer ohne Angestellte. Heute sind es knapp 1,8 Millionen, genauso viele wie Selbstständige mit Beschäftigten. Die unter 30-Jährigen wie Pamhela bilden nur eine kleine Minderheit, etwa sechs bis sieben Prozent. „Wenn man gründen will, braucht man Leidenschaft", sagt sie, „denn es ist schwer.“ Das bestätigen auch die Zahlen: Solo-Selbstständige verdienen oft weniger als Angestellte und sind nur selten verpflichtend in der Rentenversicherung abgesichert. Nur etwa 31 Prozent zahlen automatisch in die gesetzliche Rente ein, der Rest muss selbst vorsorgen. Ob eine Versicherungspflicht besteht, hängt stark von der Tätigkeit ab: Künstlerinnen, Publizisten oder Handwerker in zulassungspflichtigen Berufen sowie Solo-Selbstständige mit nur einem Auftraggeber sind gesetzlich pflichtversichert. Alle anderen müssen selbst Rücklagen bilden. Bürokratie, schwankende Auftragslage und steigende Lebenshaltungskosten erschweren zusätzlich, vom eigenen Unternehmen zu leben – vor allem, wenn es noch jung ist. Ihre Kleiderstücke sind handgemacht und oft Einzelteile, die kosten kalkuliert sie, je nach Material und Arbeitszeit. Verkauft wird hauptsächlich über Instagram, wo sie Videos und Fotos postet, in kleinen Boutiquen und auf Messen in Stuttgart. Am Online-Shop wird gerade gebastelt. „Wie viele Aufträge im Monat reinkommen, ist total unterschiedlich“, erzählt Pamhela.
Zwischen Kartons und Klebeband
Ein paar Kilometer weiter, in einem Keller eines Einfamilienhauses, steht Nico Zerrer in einem Raum, der eigentlich nie als Arbeitsplatz gedacht war. Die Deckenlampe wirft ein warmes Licht auf ein einfaches Metallregal, ums Eck ein weißes Ikea-Regal. Es ist nicht dunkel, denn ein kleines Fenster wirft zudem Tageslicht in den Raum. Auf den Regalbrettern tummeln sich Playmobil- und Lego-Sets, fein säuberlich verpackt in Gefrierbeuteln. Kartons in allen Größen stapeln sich in einem Eck des Raums. Es riecht nach Pappe und leicht staubigem Plastik. Ein Geruch, der ihm inzwischen vertraut ist. Zack, zack – die Handgriffe sitzen. Routiniert greift er zu einem Playmobil-Schloss, bestehend aus zwei Türmen und zwei Figuren, legt es vorsichtig in einen Karton und holt unter dem Tisch ein Bündel alter Zeitungen hervor. „Die nehme ich zum Verpacken – nachhaltiger, und ich spare mir den Kauf von Füllmaterial“, sagt er, während er das Papier großzügig um die Teile legt. „Lieber zu viel reinpacken als zu wenig, damit nichts kaputt geht.“ Einmal mit dem Paketband herum, Ratsch – fertig. Auf dem Handy checkt er die Bestellung, schreibt den Namen des Käufers auf einen Zettel, klebt ihn mit Klebeband auf den Karton fest. Dann stellt er das Paket in den Flur, wo langsam ein Paket-Turm heranwächst, den er noch am gleichen Tag zur Post bringen wird. Das nächste Produkt wartet schon: ein Lego-Set, das über eBay bei ihm bestellt wurde. Er sucht zielstrebig die passenden Teile zusammen, wiederholt die Prozedur. So läuft es fast jeden Tag.
Der Vorteil, zu Hause zu starten
Nico studiert Digital Business und lebt in einer eigenen Wohnung im Haus seiner Eltern. Etwas Miete muss er trotzdem abdrücken. Das Studium ist für ihn Nebensache, sein Business ist sein Hauptjob. Ein Kellerabteil gehört ihm. „Platz ist das Wichtigste für mich. Ohne den Keller meiner Eltern könnte ich das Business nicht führen“, sagt er. Sein Geschäftsmodell: Reselling. Entweder kauft er Artikel, deren Wert seiner Meinung nach in den nächsten Jahren steigen wird – Sammlerware wie Pokémon-Karten oder limitierte Lego-Sets – und lagert sie, bis die Nachfrage wächst. Oder er kauft günstige Schnäppchen und verkauft sie zeitnah mindestens zum regulären Marktpreis weiter. Mit dieser Art zu arbeiten gehört er zu einer wachsenden Gruppe junger Menschen, die sich zunächst im Nebenerwerb ausprobieren. Laut GenNow-Studie 2024 denken 40 Prozent der 14- bis 39-Jährigen darüber nach, sich selbstständig zu machen. Der häufigste Antrieb: Unabhängigkeit und die Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Doch nur ein kleiner Teil setzt diesen Gedanken tatsächlich um. Die Hürden sind klar: fehlendes Startkapital, finanzielle Unsicherheit und der Aufwand, sich durch bürokratische Vorgaben zu arbeiten. Für Nico spielt das Risiko eine untergeordnete Rolle. Fixkosten wie Miete fallen weg, sein Lager ist kostenlos, Investitionen tätigt er nur, wenn er überzeugt ist, dass er sie wieder hereinholt. „Ich weiß, dass ich im Zweifel alles wieder loswerde“, sagt er und lacht. Manche reagieren skeptisch, wenn er erkläre, dass er gebrauchte Playmobil- und Lego-Kisten kauft, putzt und teurer weiterverkauft. Er erzählt: „Bei manchen gehen die Mundwinkel nach unten, wenn sie erfahren, dass ich die von ihnen gekauften Produkte teurer weiterverkaufe.“ Andere staunen, dass man damit Geld verdienen kann. Für ihn ist es längst Alltag – einer, der ihm erlaubt zu arbeiten, wann er Lust und Zeit hat und zu testen, ob aus dem Nebenjob eines Tages mehr werden kann.
Zwei Leben – eine Gemeinsamkeit
Pamhela blättert in ihrem Skizzenbuch. Sie muss später noch zur Arbeit. Zwischen Stoffproben und Kritzeleien liegen Entwürfe für Jacken, Kleider und Westen, von denen manche warten müssen. Sie fährt mit dem Finger über eine Skizze. Für sie beginnt eine Kollektion nicht mit dem Stoff, sondern mit einem Bild im Kopf, mit dem Gefühl, mit der Erinnerung, die sie teilen möchte, so wie die Luftblasen, die beim Schnorcheln an die Wasseroberfläche drängen. Nachmittags zur immer gleichen Zeit schließt Nico die Haustür hinter sich. Unter den Armen einen Stapel Pakete, den er mit Schwung in ein kleines, mittelblau lackiertes Auto befördert. Noch zweimal hin und her laufen, dann sind alle Pakete im Auto. Das Auto ist jetzt randvoll mit Päckchen. Zusammen mit seiner Partnerin fährt er zur Post im Ort, in dem er wohnt. In der Postfiliale, die mal eine Bäckerei war, sollen die Pakete über die ehemalige Bäckertheke wandern. Nur kurz grüßt ihn die Mitarbeiterin – sie kennen sich. Nico erklärt der Postfrau: „Ich habe eine Warensendung, was wollen Sie zuerst machen?" Die Postverkäuferin möchte ihn fragen, ob er dafür die Frankierung schon online gekauft hat, wird aber von ihm mitten im Satz unterbrochen. Er habe es noch nicht gemacht, das müsse sie jetzt machen. Eine weitere Kundin betritt den Laden. Nico gibt ihr den Vortritt: „Wollen sie vor, weil ich hab ein bisschen mehr“ und lacht. Er und seine Pakete warten um den Stehtisch, der im Raum steht. Die Frau beäugt seinen Stapel Pakete und meint: „Ja, das ist schon mehr“, lacht ebenfalls und nimmt dankend den Vortritt. „Das kommt schon öfter vor“ erklärt er der Frau. „Die Postverkäuferin weiß schon Bescheid.“ Schnell ist die andere Kundin fertig mit ihrer Versendung. Dann ist Nico dran. Zack, Paket für Paket wird gewogen und frankiert.
Nico arbeitet zwischen Vorlesungen und Abgabeterminen, verpackt und verschickt seine Ware. „Ich möchte einfach nur normal leben können – so wie ein Durchschnittsverdiener“, sagt er. Pamhela näht am Abend nach Ladenschluss, an freien Tagen, arbeitet sogar im Urlaub. Dann sitzt sie mit dem Laptop am Küchentisch, schneidet Videos, bearbeitet Fotos oder plant die nächsten Posts für Instagram. Sie ist eine One-Woman-Show: Entwürfe, Produktion, Social Media, Kundenkommunikation – alles läuft in Eigenregie. Ihr 35-Stunden-Job als Storemanagerin eines Schmucklabels sichert die Miete, die Fixkosten und die Stoffe, die sie für ihre Kollektion braucht. „Wenn ich jemanden für Social Media und fürs Nähen hätte, könnte ich mich endlich auf das konzentrieren, was ich wirklich machen will“, sagt sie. Ihr Ziel: In einem Jahr erste Angestellte einstellen. Aber etwas Gutes hat das Ganze, meint sie: „So sammle ich Erfahrungen für mein eigenes Business und lerne, wie man ein Unternehmen führt.“
Der Trend zum Nebenerwerb
Beide leben von dieser Balance: Arbeit für das, was die Rechnungen bezahlt – und Arbeit für das, was sie antreibt. Laut KfW-Gründungsmonitor 2025 haben 2024 rund 382.000 Menschen in Deutschland im Nebenerwerb gegründet – elf Prozent mehr als im Jahr 2023. Bei Vollerwerbsgründungen gab es dagegen einen Rückgang auf 205.000, minus acht Prozent. Für viele ist Nebenerwerb ein realistischer Einstieg in die Selbstständigkeit: geringe Fixkosten, überschaubares Risiko, aber auch die ständige Herausforderung, zwei Jobs unter einen Hut zu bringen. Weder Nico noch Pamhela haben Zuschüsse vom Staat in Anspruch genommen. Pamhela aus Angst, Schulden zu machen, falls das Geschäft nicht läuft. Nico, weil er sich nicht informiert hat – „Es läuft gut so, wie es läuft“.
Alltag zwischen Traum und Realität
In den Statistiken sind sie Teil eines Trends. Im Alltag jonglieren sie mit Zeit, Energie und der Hoffnung, dass aus dem Nebenerwerb eines Tages mehr wird. Pamhela sitzt wieder an der Nähmaschine, die Nadel sticht in raschem Rhythmus in den Stoff, im Hintergrund läuft Reggaeton. Nico hebt das letzte Paket über den Tresen der Post. Zwei junge Gründer*innen, die zwischen zwei Leben balancieren – und versuchen, ihren Traum festzuhalten.
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