Selbstbezogenheit

Ein Hoch aufs egoistisch sein!

Sich abzugrenzen fällt vielen heutzutage schwer. Warum eigentlich?
01. Sep 2020
Egoismus gilt in unserer Gesellschaft als verpönt und bleibt trotzdem im Alltag bestehen. Wie verhält man sich nun richtig? Ich finde: Einen gesunden Eigennutz entwickeln. Denn ein „Ja“ zu anderen ist zu häufig ein „Nein“ zu sich selbst - mit enormen Konsequenzen.

Bereits der amerikanische Pastor und Bürgerrechtler Martin Luther King wusste: „Jeder Mensch muss entscheiden, ob er sich im Licht des schöpferischen Altruismus oder in der Dunkelheit des zerstörerischen Egoismus bewegen will.“ Zack – ein solches Statement ist schnell gefallen. Was augenscheinlich erstmal nichts mit einem selbst zu tun hat, ist ein durchaus alltägliches Thema. Denn genauso blitzartig tauchen Fragen auf, die ich dem großen Gerechtigkeitskämpfer lieber nicht stellen möchte: Warum scheinen dann egoistische Personen mehr Erfolg im Leben zu haben? Warum zerbrechen manche an den Problemen anderer, während es den Rest kalt lässt?

In einer perfekten Welt gebe ich Martin Luther King gerne recht. Ich möchte es auch von ganzem Herzen, wirklich. Allerdings drängt sich bei dem Zitat ein Gedanke auf, den ich schon lange unterdrücke: Wie kleine, fiese Wanzen, die sich in Kolonien ihren Weg bahnen, kommt er sich aus dem tiefsten Inneren hervor, wird so laut und groß, dass er mir erst die Kehle zuschnürt, bevor er schlussendlich herausplatzt: Ich habe keinen Bock mehr, immer den Kummerkasten zu spielen!

Fest steht: Es ist gut, zu helfen. Die Corona Krise, leidende Tiere und alte Omis bezeugen, wie nahbar viele Menschen doch sind und wie viel Gutes in der Bevölkerung steckt. Das menschliche Gehirn ist zum Überleben auf Kooperation getrimmt und das ist auch gut so. Auch deshalb gelten Egoisten als vermeintlich schlechte Menschen. Fakt ist allerdings auch, dass es immer mehr von der Sorte gibt. Und ich finde: Das ist auch gar nicht schlecht. Zumindest, wenn es gesunder Egoismus ist.

Ichbezogenheit als etwas Gutes?

Es gibt sie einfach, diese gewissen Situationen, die die eigenen Grenzen testen: Der Chef, der einem noch mehr Arbeit aufhalst. Die Eltern, die einem vermitteln möchten, dass man sich doch bitte mal nährstoffreicher als nur von Nudeln ernähren sollte. Die Freundin, die kein „Nein“ versteht, auch wenn man es zum sechsten Mal sagt. Der Kumpel, der einem zwei Stunden lang von seinem Opa erzählt und wie dessen Angelgeschicklichkeit sich nun entwickelt. Ich schätze: Jeder von uns hat solche Situationen schon so oder so ähnlich mitmachen dürfen. Der große Unterschied in der Bevölkerung liegt im Umgang mit solchen Herausforderungen. Manche schaffen es, ein klares „Nein!“ zu formulieren und sind damit vielen anderen, mir eingeschlossen, einen Schritt voraus.

Denn das, was manch andere nun empfinden, kann die reinste körperliche und seelische Qual werden. Das Herz klopft. Der Schweiß rinnt. Die Atmung wird schneller. Ein einfaches „Nein“ kann zur größten Herausforderung werden. Manche nehmen sie an und wachsen daran, manche schweigen.

Und ja, natürlich kann ich Personen, die sich abgrenzen, als egoistisch bezeichnen. Immerhin haben sie andere sitzen lassen oder sie abgewürgt. Nicht gerade Mutter Theresa like. Allerdings spüre ich hier kein Gefühl der Genugtuung, weil ich meine, der bessere Mensch zu sein, sondern nur Enttäuschung. Ich bin ernüchtert, dass ich es nicht geschafft habe, egoistisch genug zu sein, um mich selbst zu schützen.

Egoismus ist nicht gleich Egoismus

Ichbezogenheit hat also viele Gesichter. Bei einer übersteigerten Art spricht man von Narzissmus. Das Gegenteil des eigennützigen Handelns ist der Altruismus. „In der Psychologie gibt es Forschung, die zeigt, dass manche Menschen wahrscheinlicher altruistisch handeln als andere. Wir handeln eher empathisch den Menschen gegenüber, in denen wir uns wiederfinden, also gegenüber den Gruppen oder Menschen mit den gleichen Charakteristika wie unseren eigenen“, erklärt Dr. Alexander Bodansky, Sozialpsychologe an der Universität Hamburg.

Wie sich der Mensch nun letztendlich aber bewusst verhalten sollte, kann so nicht pauschalisiert werden. Dennoch gibt es viele Punkte, die dafürsprechen, im Sinne der Gesellschaft zu agieren und damit seine eigenen Wünsche hintenanzustellen:

Wie eine Studie aus dem Vereinigten Königreich belegt, haben Personen, die altruistisch handeln, sowohl mehr Kinder als auch mehr Geld. Beeindruckend, oder? Das sind Argumente, die überzeugen. Doch es wird noch besser: Hilft man anderen, werden Hormone wie Opioide und Oxytocin ausgeschüttet, die gegen Stress wirken und für eine extra Portion Glück sorgen. Auf lange Sicht wird damit das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem gestärkt.

Neben den gesundheitlichen Faktoren gibt es außerdem überzeugende, soziale Vorteile: Personen, die gerne geben, sei es Liebe, Geduld, oder ein offenes Ohr, bilden nebenbei die Basis für eine bessere Welt. Ihr Ansehen steigt und sie werden fröhlicher. Mit ihren Handlungen inspirieren sie so manchen dazu, ebenso tätig zu werden und können so auf lange Sicht die Welt verändern. Nebenbei zum Weltverbesserer – klingt großartig, oder?

Die Selbstlosen leisten also einen wichtigen Beitrag, denn sie sind diejenigen, die etwas zurückgeben und an die man sich in verzweifelter Not wendet – der sichere Anker in schwierigen Zeiten. Wer wäre das denn schon nicht gerne? Das Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft funktioniert eben nur, wenn sich alle gegenseitig aufeinander einlassen – im Team. Und ganz nebenbei steigert das die eigene Dankbarkeit.

„You can’t pour from an empty cup”

Norm Kelly

Es ist schwer, gegen all diese positiven Argumente etwas Negatives zu sagen. Das muss ich auch gar nicht. Denn ich kann und will schlecht bestreiten, wie schön und lohnend es ist, zu helfen. Aber gerade deshalb, weil es eben so eine hervorragende Sache ist, bedarf es auch einem anderen Blickwinkel. Denn auch ein besseres Herz-Kreislauf-System bringt mir nichts, wenn ich mein Innenleben dabei vergesse. Kann es also sein, dass egoistisches Verhalten auch Vorteile hat? Ohja, und zwar eine Menge!

Jeder, der schon mal geflogen und den Sicherheitsanweisungen aufmerksam gefolgt ist, wird sich daran erinnern, im Falle eines Druckverlustes erst die eigene Sauerstoffmaske aufzusetzen, bevor man Kindern und hilfsbedürftigen Menschen zur Seite steht. Denn wie will man anderen helfen, wenn man selbst nicht genügend Luft zum Atmen hat (und das ganz wortwörtlich gemeint)?!

Der Punkt dabei ist nämlich folgender: Sobald Personen erkannt haben, dass man jemanden ausnutzen kann, besteht die Chance, dass sie es tun werden; manchmal auch gnadenlos und andauernd. Wie hungrige Kojoten stürzen sie sich dann auf die Hilfsbereitschaft und knabbern so lange an einem herum, bis man sich wehrt und abgrenzt.

Stopp zu sagen ist also eng mit Selbstrespekt verbunden. Wer dies nicht schafft, verliert nicht nur die Achtung vor sich, auch die anderen nehmen einen weniger ernst. Damit wird man noch eher ausgenutzt. Ein Teufelskreis tut sich auf. Klingt ziemlich hart, ich weiß.

Diese fehlende Kompetenz, Grenzen zu setzen, käme zu circa 50 Prozent aus der Genetik und zu 50 Prozent aus der Umwelt, sprich aus Kindheits- und aktuellen Erfahrungen, sagt Kay Brauer, Persönlichkeits-Psychologe an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Verschwendung des eigenen Potenzials

Zum einem Teil sind wir also Opfer, zu einem anderen  selbst verantwortlich. Wenn dem so ist, wieso ergreift man nicht die Initiative, anstatt stillschweigend, nett lächelnd zuzuhören, während man innerlich hofft, dass der andere doch auch endlich mal fragt, wie es einem selbst geht? Das ist scheinheilig. Es bringt niemandem etwas. Im Endeffekt wird nur das eigene schlechte Gewissen befriedigt, das sonst die ganze Zeit leise flüsternd nerven würde, wenn man sich eine Sekunde lang nicht um die Probleme der gesamten Welt kümmert.

Und außerdem: Ist es nicht gerade in einer Welt, die nach außen gerichtet ist, so wichtig, auch mal nach innen, nach sich, zu schauen? Denn immerhin, so der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, liegt es in der Natur des Menschen, so wie allen Lebewesen, sich eigennützig zu verhalten. Nur so kann ihr Überlebensinteresse gesichert werden. Könnte es also sein, dass das Leben für andere noch nie eine blendend gute Idee war und eigentlich eine Verschwendung des eigenen Potenzials ist? Denn würde man sich einmal trauen, sich klar abzugrenzen, würde sowohl die Beziehung zum anderen als auch das eigene Selbstbewusstsein profitieren.

Denn einen Punkt, den viele in ihrer inneren Rechnung vergessen, ist der, dass die meisten Egoisten nicht einmal merken, dass sie einen ausnutzen und auch nicht, wie sehr man sich für sie einsetzt. Oder wie viele Chefs haben von sich aus gemerkt, dass man überlastet ist und die Arbeit von allein zurückgezogen?

„Disease to please“

So absurd dieses Gedankenkonstrukt auch ist, kommt zu allem Übel auch noch ein hohes Gesundheitsrisiko dazu. Der ständige Druck, alles und jedem gerecht zu werden, kann auf Dauer zu viel werden und gefährliche, langfristige Folgen mit sich ziehen. Denn neben dem Fakt, dass solches Verhalten meist auf zu wenig eigenem Selbstvertrauen und -bewusstsein basiert und somit mental schaden kann, ist eine solche Hilfeaufopferung oft der erste Schritt in Richtung schwere psychische Krankheiten.

Um das zu definieren, wird deshalb in der Psychologie mit theoretischen Konstrukten gearbeitet, die Unterschiede bei Menschen definieren sollen. Eines davon ist der Attributionsstil. Dieser beschreibt, wie Ursachen in der Welt wahrgenommen werden. Bei einem ungesunden Attributionsstil schließe man negative Ereignisse immer wieder auf sich zurück. Bei positiven Erlebnissen tut man so, als ob der Erfolg nichts mit einem zu tun hätte, es reiner Zufall war und zeitlich auch nicht stabil ist, so der Persönlichkeits-Psychologe Brauer. Na, wer hat sich jetzt hier wiedererkannt? „Eine solche Denkweise kann über einen längeren Zeitraum zu depressiven Tendenzen führen, was aber nicht gleich zwangsweise eine klinische Depression bedeuten muss“, erklärt Brauer.

Was also tun?  

Wie enträtselt man also dieses absurde Konstrukt? Eine Lösung lasse sich auch hier nicht pauschalisieren, meint der Psychologe. Für mich ist es allerdings eindeutig: Öfter an sich zu denken ist kein schlechtes Attribut, sondern, wenn man es so nennen will, gesunder Egoismus, der in unserer hektischen Gesellschaft essenziell ist.

„Diesen halte ich absolut für notwendig, um unsere eigenen Ziele zu erreichen, aber zum Beispiel auch in Freundschaften oder Partnerschaften (die werden sonst nämlich langweilig!)“, erklärt Prof. Dr. Patrick Mussel von der Freien Universität Berlin.

Stopp zu sagen, wenn einem etwas zu viel ist, hat mit Selbstrespekt zu tun und sollte somit notwendiger Bestandteil eines gesunden Selbstbewusstseins sein.

Besondere Übungen bei Sozialpsychologen, in Form des sogenannten Sozialen Kompetenz Trainings, könnten helfen, die eigenen Anforderungen, Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren. Eine Therapie könne wiederum von Nutzen sein, um solche Denkmuster langfristig zu verändern, so Brauer. Doch auch ein reflektierender Blick in sich selbst kann schon viel bewirken: „Man sollte zwar nicht nur ‚aus sich herausschauen‘, sondern ‚auf sich schauen‘“, meint Dr. Alexander Bodansky. Es solle also unbedingt mitberücksichtigt werden, wem man hilft und ob es der helfenden Person überhaupt zumutbar ist, anderen zu helfen. „Das ist wegweisend, um sich selbst als Mensch wichtig beziehungsweise ernst zu nehmen. Denn oft vergessen die Personen, die helfen, dass sie eben diejenigen sind, die diese Hilfe geben und als solche auch selbst Ansprüche und Anrechte haben“, sagt er.

Schlussendlich muss ich damit also einem großen Denker widersprechen – Egoismus und Altruismus sind meiner Meinung nach miteinander vereinbar. Lieber Martin Luther King, du hast zwar recht, aber nur, wenn man sich vor lauter Uneigennützigkeit nicht selbst vergisst. Und um das und die ganzen resultierende negativen Folgen nicht zu riskieren, gilt für mich ab sofort: Ein Hoch aufs gesunde egoistisch sein!

 

 

Quellen:

https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/egoismus/pwiealtruismus100.html

https://www.springer.com/de/book/9783642553905

https://www.ruhr-uni-bochum.de/soc-psy/scholar/2004_Altruismus.pdf

https://www.das-burnout-syndrom.de/ursachen/helfersyndrom/

https://fehradvice.com/blog/2018/12/06/altruisten-sind-gluecklicher-haben-mehr-kinder-und-mehr-geld/

https://www.stefanklein.info/node/275                                    

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1467-6494.1982.tb00742.x