Genderidentität

In den Schuhen eines anderen

„Self-Made Man“ beleuchtet Gender-Rollen.
20. Jan. 2023
„Self-Made Man: One Woman's Year Disguised as a Man“ ist ein einzigartiges Experiment. Norah Vincent, Feministin, verkleidet sich als Mann, lernt die Welt aus männlicher und weiblicher Perspektive kennen, und offenbart so eine differenzierte Sicht auf Geschlechterrollen.

„Self-Made Man: One Woman’s Year Disguised as a Man“ von der amerikanischen Autorin Norah Vincent ist, obwohl es schon 2006 publiziert wurde, aktuell wie nie. Im Buch geht es um die Erfahrungen einer Feministin – als Mann verkleidet. 18 Monate lang schlüpfte Vincent in die Rolle des Mitte 30-jährigen „Ned“ und entwickelte sich dabei von einer radikalen Feministin zu einer Frau, die differenzierter denkt.

Wieso lohnt sich „Self-Made Man“?

Heutzutage ist der Kampf des Feminismus nicht weniger wichtig als damals. Aber die Fronten sind durch Ereignisse wie die #MeToo-Debatte verhärtet. Ohne beurteilen zu wollen, welche Seite recht hat, kann ein wenig Verständnis für die Gegenseite kaum schaden. Hier setzt Vincent an: Die Autorin rechtfertigt Männer und ihre Handlungen nicht, aber sie versucht, Verständnis aufzubringen und das Leben von Männern im Vergleich zu dem der Frauen zu analysieren. Dabei zieht sie auch überaus interessante Parallelen zwischen Männern und Frauen. Sie erzählt von Problemen, die bei Frauen und Männern ähnlich ablaufen.

Sie fasst zusammen: „Wenn Frauen im Hure/Madonna-Komplex gefangen sind, sind Männer gleichermaßen im Krieger/Minnesänger-Komplex gefangen.“ Damit ist gemeint, dass sowohl Frauen, als auch Männer, diesen beiden Extremen zugeordnet werden. Entweder sind Frauen begehrenswerte Huren oder geliebte Heilige, entweder sind Männer starke Krieger oder einfühlsame Minnesänger. Beides in einem kann nicht existieren.

Wenn Frauen im Hure/Madonna-Komplex gefangen sind, sind Männer gleichermaßen im Krieger/Minnesänger-Komplex gefangen.

Norah Vincent (Übersetzung des Autors)

Zwischen Extremen: Von Verkäufer-Job zu Kloster-Dasein

Die Kapitel des Buches sind in die Stationen unterteilt, die Vincent besucht hat. Am interessantesten fande ich dabei das Kloster und die Zeit als Verkäufer. Obwohl nichts in diesem Buch schwarz oder weiß ist, bilden diese beiden Kapitel für mich die Extreme ab: Männer von ihrer besten und schlechtesten Seite. Unter den Mönchen ist die Homophobie an der Tagesordnung, und doch schließt Ned hier seine innigsten und intimsten Freundschaften. Auf der anderen Seite das Arbeitsleben. Eine testosterongeladene, sexistische Macho-Kultur, in der das Scheitern mit Impotenz gleichgesetzt wird.

Für Vincent hatte das Experiment übrigens rein soziologische Zwecke. Sie sagt selbst: „Ich habe es selten genossen und empfand es nie als erfüllend, als Mann wahrgenommen und behandelt zu werden. Es war überhaupt nicht selbstverständlich für mich, und sobald er seinen Zweck erfüllt hatte, war ich froh, wieder ich selbst zu sein“

Zitate aus „Self-Made Man“
Zitate aus „Self-Made Man“
Zitate aus „Self-Made Man“
Zitate aus „Self-Made Man“

Aufnahme in die „Bruderschaft“

Das heißt aber nicht, dass sie keine positiven Erfahrungen als „Ned“ unter Männern gemacht hätte. Im zweiten Kapitel tritt Ned einer Bowling-Liga bei. Ein erster positiver Eindruck ist der Händedruck: Für Norah war die Begrüßung immer eine kalte Formalität gewesen. Für Ned dagegen war es ein Zeichen, dass ihn seine Teamkollegen akzeptierten. „Er hatte etwas Warmes und Verbindliches. Ihn zu erhalten war ein Rausch, eine sofortige Aufnahme in eine Kameradschaft, die sich sehr alt und sehr ausgeübt anfühlte.“

Ned macht jedoch auch negative Erfahrungen: Bei allen Stationen wird männlicher Berührung Irritation und Angst, sogar Panik und Ekel entgegengebracht. Im Kloster und in der Selbsthilfegruppe, wird dieser sprichwörtlichen Berührungsangst mit obligatorischen Umarmungen versucht entgegenzuwirken. Zum anderen scheinen nahezu alle Männer, denen Ned begegnet, Probleme zu haben, über ihre intimen Gefühle zu sprechen.

Dieser Händedruck hatte etwas Warmes und Verbindliches. Ihn zu erhalten war ein Rausch, eine sofortige Aufnahme in eine Kameradschaft, die sich sehr alt und sehr ausgeübt anfühlte.

Norah Vincent (Übersetzung des Autors)

Was sollte man aus „Self-Made Man“ lernen?

Meiner Meinung nach ist die Botschaft des Buchs ein Wort: Kommunikation. Vincent sieht eine grundlegend gestörte Kommunikation als Grund für Animosität und gegenseitiges Unverständnis. Auch deshalb ist „Self-Made Man“ ein gutes Buch. Es hat eine Botschaft, drängt sie jedoch nicht auf, fordert seine Leser*innen und erlaubt ihnen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.

Meine persönliche Schlussfolgerung ist dieselbe wie Vincents: miteinander reden. Dafür ist nicht einmal ein so ausgedehntes und aufwendiges Experiment nötig. Man muss nur einen Schritt zurücktreten und Verständnis zeigen.

Und sich vielleicht mal überlegen, wie es wäre, ein paar Schritte in den Schuhen des anderen zu gehen.