Kunst

Stuttgarts nackter Wahnsinn

Die Künstler fordern eine saubere Stadt.
30. Jan. 2019

Nackte Körper fläzen sich auf polierten Motorhauben – was zunächst wie ein Porno in der Öffentlichkeit  aussieht, hat in Wahrheit gar nichts mit Sex zu tun. Es ist ein Bild, das entsteht, wenn in Stuttgart Kunst und Politik aufeinandertreffen.

Es ist ein ganz normaler Nachmittag im Kessel. Auf die Weinberge scheint die Septembersonne, der Neckar plätschert vor sich hin, der Musterschwabe fährt seinen Porsche Cayenne nach Hause und im Schwabtunnel lecken nackte Menschen den Feinstaub von der Wand. Moment. Nackte Menschen, die den Feinstaub von der Wand lecken? Steht es um Stuttgart wirklich schon so schlecht? Justyna Koeke und Marie Lienhard von der Kunstakademie Stuttgart denken schon. Seit drei Jahren lassen die Künstlerinnen für politische Themen die Hüllen fallen. Bei Nacktshootings in ganz Stuttgart entstehen Fotos, die sie zu einem Kalender zusammenfassen. Dieses Jahr ist das Thema „Auto statt Stuttgart“. Seit Jahren hält der Feinstaub Stuttgart in Atem, doch nichts ändert sich. Muss man sich jetzt dafür ausziehen?

Aufmerksamkeit als Währung

Nacktheit zieht halt immer! Nicht gerade die kreativste Form, ein Thema zu beleuchten. Ist es nicht immer wieder traurig, wenn man sieht, wer sich alles auf das Niveau der Assi-TVs begibt? Da merkt man, dass nicht mal professionelle Künstler unserer Konsumgesellschaft entkommen, in der Nacktheit mittlerweile aus den Medien nicht mehr wegzudenken ist. Wenn in unserer Click-and-Like-Gesellschaft Aufmerksamkeit die neue Währung ist, verkaufen diese Künstler dann ihre Körper? Und überhaupt, ist das Ganze nicht einfach nur billige Selbstdarstellung, die vom eigentlichen Thema ablenkt? Wer interessiert sich denn noch für den Feinstaub, wenn fünf nackte Menschen ein Auto einschäumen? Ob die Leute gucken, weil sie es erotisch finden oder nicht, ist egal. Nackt ist nackt.

Stuttgarter ziehen blank für einen Kalender.
Marie Lienhard (links) und Justyna Koeke (rechts) sind für den nackten Wahnsinn verantwortlich.
Die Künstler zeigen vollen Körpereinsatz.
Sie scheuen keinen Kontakt mit Stuttgarts Autos.
Die Theo wird neu inszeniert.
Auch Neuwagen werden nicht verschont.
Weg mit den Autos.

Das Natürlichste der Welt

„Es ist so, dass Nacktheit in der Gesellschaft immer noch ein Tabuthema ist. Man akzeptiert sie nur in einem sexuellen Kontext. Sobald man nackt ist, denken alle, das ist jetzt Sex.“ Die Künstlerinnen aber meinen, dass es das Natürlichste der Welt sei, nackt zu sein. Es ist nicht einmal verboten, in der Öffentlichkeit blank zu ziehen. Also wer sich jetzt ermutigt fühlt, kann sich ja mal im Adamskostüm zeigen. Das Körpergefühl soll einzigartig sein. „Es ist so viel angenehmer nackt zu sein. Es ist total befreiend und es gibt mehr Frischwind.“, schwärmt Marie. Also Leute, stellt euch nicht so an.

Selber Schuld

Denn sind wir doch mal ehrlich. Dass Nacktheit überhaupt noch so viel Aufmerksamkeit zieht, ist unser eigenes Verschulden. Richtig, unser Verschulden. Auch Du, lieber Leser, hast doch nur auf den Artikel geklickt, weil Du nackte Menschen gesehen hast. Und vielleicht heiligt ja auch der Zweck die Mittel. Welcher Stuttgarter macht sich denn überhaupt noch Gedanken über den Feinstaub? Man freut sich höchstens noch über die billigeren Bahnpreise. Der Kalender wirft da mal einen neuen Blick auf das Thema und die verstaubte Stadt. Man sieht ja nicht täglich, wie sich nackte Menschen auf Verkehrsinseln sonnen.

Und der Erfolg der Kalenderaktion spricht für sich. Laut Justyna und Marie hat sich sogar Cem Özdemir ein Exemplar gekauft. Für die Künstlerinnen ein zusätzlicher Motivationsschub. Nächstes Jahr geht es im Kalender dann um zu hohe Mietpreise. Und würde dafür nicht jeder Stuttgarter nackt auf die Straße gehen?