„Er war ein Mann des Volkes. Er ist unser. Er wird für uns kämpfen.“
Selenskyj: Ein Komiker im Kriegsmodus?

Es ist der 25. Februar 2022, die Nacht nach Kriegsbeginn. Im Dunkeln leuchtet das schwache Licht eines Handys. Er filmt sich auf einer Straße in Kiew, umgeben von seinem Führungsteam. Ohne Scheinwerfer, ohne Anzug betont er: „Ich bin hier. Wir sind alle hier. Wir werden unsere Unabhängigkeit verteidigen.“ Wolodymyr Selenskyj wurde durch die russische Invasion zu einem Kriegspräsidenten.
Doch ehe er Präsident wurde, war er vor allem eines: Komiker. Er tauchte in fast jeder russisch-ukrainischen Show auf, die bei uns zu Hause lief. Trotz meines damaligen fehlenden Verständnisses für die Witze blieb mir seine positive Ausstrahlung im Gedächtnis. Was früher unterhielt, berührt mich heute, da ich weiß, wie sehr sich sein Leben gewandelt hat und welche Verantwortung er inzwischen trägt.
Mit Satire an die Spitze
Seit 1997 war Selenskyj als Hauptdarsteller und Mitgründer in Showprojekten des Studios „Kvartal 95“ präsent. André Härtel, Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, gilt als Experte für die Ukraine. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich unter anderem mit der ukrainischen Innen- und Außenpolitik. Die besondere Laufbahn Selenskyjs kennt er gut. Laut ihm war Selenskyj einer der führenden Entertainer im gesamten russischsprachigen Raum, was solche Abendshows anging. Später spielte Selenskyj in der russischsprachigen Serie „Diener des Volkes“ (2015) in der Hauptrolle einen Geschichtslehrer, der durch ein virales Video einer Anti-Korruptionsrede unerwartet Präsident wird. Ein Amt, das später Realität wurde.
Kvartal 95 ist eine der größten Unterhaltungsproduktionen in der Ukraine. Gegründet wurde das Studio vom Comedy-Team „KVN Kvartal 95", benannt nach dem 95. Stadtviertel in Kryvyi Rih in der Ukraine. Das Studio vereint bekannte Schauspieler, Drehbuchautoren, Regisseure und Produzenten. Neben klassischer Unterhaltung ist Kvartal 95 bekannt für politische Witze, etwa über Petro Poroshenko, Wladimir Putin oder die Krim-Annexion. Bis heute hat das Unternehmen viele bekannte Serien und Filme gedreht. Darunter auch „Diener des Volkes (Sluga naroda)".
Vom Wahlsieg in den Krieg
In der Neujahrsnacht 2019 gab Selenskyj seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl mit der Partei „Diener des Volkes“ bekannt. Petro Poroshenko war davor bereits fünf Jahre Präsident. Eng mit ihm verbunden: unehrliche Reformversprechen. Laut den Länder-Analysen entpuppten sich beispielsweise viele der verabschiedeten Gesetze zur Justizreform als Fassade, die nur auf institutioneller Ebene stattfanden. Ebenso blieben informelle Anrufe von Politikern, die versuchten, Richter zu beeinflussen, bestehen. Alles Unfähigkeiten von Poroshenko, die Selenskyj mit 73 Prozent der Stimmen zum Sieg verhalfen. Er persönlich wollte die Wirtschaftslage verbessern und die Korruption bekämpfen.
Doch während große Erwartungen auf ihm lasteten, spitzte sich die Lage weiter zu. Seit 2014 kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Russland und der Ukraine, vor allem um Territorien. Im Februar 2022 eskalierte die Situation durch die Offensive der russischen Armee erneut, was letztlich zum Ausbruch des Krieges führte. Dieter Segert ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Osteuropa und Professor an der Universität Wien. Er sieht Selenskyj die Belastung deutlich an: „Der Krieg hat ihm Gesichtsspuren hinterlassen."
Laut dem Autor Gert Hellerich begründete Putin seinen Angriff mit der angeblichen NATO-Bedrohung und der Behauptung, die russische Bevölkerung werde unterdrückt. Ebenso ist laut der Tagesschau ein häufig genannter Grund Putins, dass in der Ukraine „Nazis“ regieren würden. Das wirkt allerdings fragwürdig: Präsident Selenskyj ist selbst jüdisch, mehrere seiner Angehörigen wurden im Holocaust ermordet. Ist Putins Argumentation also wirklich stichhaltig? Ich denke: sicherlich nicht.
Aus dem Volk, für das Volk
Für die ältere Ukrainerin Ludmila war Selenskyj schon immer mehr als nur ein gewöhnlicher Entertainer. Sie lebt in Czernowitz, einer Stadt im Südwesten der Ukraine, nahe der rumänischen Grenze. Bisher blieb der Ort von Bombenschäden verschont. Doch auch dort gehören Alarmsirenen zum Alltag und erinnern regelmäßig an den Krieg.
Sie und ihre Familie wählten Selenskyj damals nicht trotz, sondern wegen seiner Bühnenvergangenheit: „Er war ein Mann des Volkes. Er ist unser. Er wird für uns kämpfen“, dachte sie, als er zur Wahl antrat. Auch ich kann ihre Entscheidung nachvollziehen. In Zeiten, in denen viele Politiker distanziert wirken, zeigte mir Selenskyj durch seinen Humor, dass er versteht, was die Menschen in der Ukraine bewegt.
Eine Analyse des Centre for Eastern Studies zeigt weitere Gründe für Selenskyjs Beliebtheit: Inmitten von starken Enttäuschungen über Reformdefizite wurde er zum Hoffnungsträger. Als Neuling in der Politik griff Selenskyj das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten offen auf und kündigte Veränderung an. Später lud er seine Wähler sogar ein, ein gemeinsames Wahlprogramm zu entwickeln. Dieser Schritt verringerte die Distanz zwischen Politik und Volk und integrierte die Bürger. Auch Härtel bestätigt: „Es gab viel Potenzial für einen Frustkandidaten."

Selenskyj im Spannungsfeld
Oleg, ein Ukrainer mittleren Alters, stammt ebenfalls aus Czernowitz. Für ihn ist Selenskyj eine Fehlbesetzung. Satiren über die ukrainische Regierung wertet Oleg als Illoyalität. Noch größer war die Empörung, als er erfuhr, dass Selenskyj sich als Kandidat aufstellen ließ. Sein größter Kritikpunkt: Die versprochene Korruptionsbekämpfung sei gescheitert und unter Selenskyjs Führung noch stärker geworden. Doch der Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) der Ukraine zeigt eine minimale Verbesserung in den letzten Jahren. Transparency International bewertet Länder anhand der wahrgenommenen Korruption in Politik und Verwaltung. Je höher der CPI-Wert eines Landes, desto weniger korrupt gilt es. Schon ein Jahr nach Selenskyjs Amtsantritt 2019 betrug der CPI 33. Unter Poroshenko lag der CPI ein Jahr nach seiner Amtszeit, die 2014 begann, nur bei 27. Auch die weltweite Platzierung hat sich etwas gebessert.
Promi, Politiker, Präsident!
Selenskyj ist nicht der einzige, der vom Rampenlicht in die Politik wechselte – auch Ronald Reagan, Donald Trump, Beppe Grillo und viele mehr traten zunächst anders in Erscheinung. Reagan begann als Schauspieler bevor er politisch aktiv und schließlich Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Trump war lange als Unternehmer in der Reality-Show „The Apprentice“ bekannt, in der Kandidaten um den Titel seines „Lehrlings“ eiferten. Der Italiener Grillo wurde als Komiker populär und sorgte mit politischer Satire für Aufsehen. 2009 gründete er die populistische Partei „MoVimento 5 Stelle“, die ins Parlament einzog.
Was wie eine Erfolgsgeschichte wirkt, erfordere laut Härtel viel, damit eine Kandidatur außerhalb des etablierten politischen Systems gelingen könne. Das sehe man an Donald Trump. Während Trumps Aufstieg Ausdruck einer demokratischen Krise und gesellschaftlicher Spaltung sei, bezeichne Härtel Selenskyj als einen „guten Populisten“. Er habe populistische Mittel wie einfache, volksnahe Botschaften im Wahlkampf genutzt, sich im Amt jedoch als sachorientierter Demokrat erwiesen.
Zwischen Feed und Amt
Um solche volksnahen Aussagen zu verbreiten, setzt Selenskyj auf soziale Medien. Wenn ich die alten Beiträge in seinem Feed durchgehe, wird mir klar, dass er die mediale Präsenz von Beginn an beherrschte. Anfang 2019 zeigt er auf Instagram, wie er Slogans für die Wahl im Frühling auswählt und das Volk nach ihrer Meinung fragt. Manche davon zielen erneut auf die korrupte Elite: „Der Frühling wird zeigen, wer was geklaut hat.“ Laut einer Analyse des Reuters Institute war er der einzige Präsidentschaftskandidat, der mit informeller Sprache und Umfragen sein Publikum vor allem über Instagram einband – ursprünglich ein Kanal, um seine Bühnenkarriere zu bewerben.
Seit dem Krieg nutzt er soziale Medien intensiver, postet regelmäßig Bilder von Angriffen und verzichtet bei seiner Kleidung auf Anzüge und Krawatten. Ist das authentisch? Politikwissenschaftler Segert stockt. Klar sei ihm, dass hinter Selenskyj ein Medienteam stehe, das seine Wirkung in der Öffentlichkeit gekonnt beeinflusse.
Und wenn der Vorhang fällt?
Der Krieg hat Selenskyj zu einer zentralen Figur gemacht. Doch was passiert, wenn der Alltag zurückkehrt? Ich werde ihn als den Präsidenten in Erinnerung behalten, der das Land in der Krise geeint hat. Er blieb in Bedrohungslagen präsent und sprach der Bevölkerung regelmäßig Mut zu. Für mich ist Selenskyj deshalb zweifellos ein Hoffnungsträger.
Ob seine Volksnähe jedoch ausreicht, um die Ukraine dauerhaft zu verändern, bezweifle ich, denn persönliche Nähe ersetzt keine politischen Strukturen. Auch unter dem Einfluss von Amtsträgern mit politischer Vorerfahrung scheiterten Reformen in der Ukraine an Korruption, mangelnder Gewaltenteilung und dem Einfluss von Oligarchen. Wolodymyr Selenskyjs Kompetenz hat für mich deshalb wenig mit seiner Vergangenheit als Entertainer und Schauspieler zu tun.