Kindheitsspiele reloaded: Unterwegs auf Straßen und Schienen

Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist mit seinen 16 Gleisen, rund tausend verkehrenden Zügen und über 200.000 Fahrgästen täglich ein lebendiger Ort. Ob es Reisende sind, die mit ihren schweren Koffern zu den Gleisen eilen oder Studierende, die mit Kaffee und Backware auf die nächste S-Bahn warten. Die Züge werden mit einem klaren Ziel betreten. Es geht zur Schule, zur Universität, nach Hause oder auf Reisen. Doch nicht an jenem Morgen, an dem sich Lars, Robin, Lukas und Luisa im Zentrum der Klett-Passage treffen. Es wird Verstecken gespielt, mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof als Ausgangspunkt. Das klassische Versteckspiel aus der Kindheit bekommt allerdings neue Regeln und erfordert jetzt mehr Strategie. Die Freundesgruppe ist ausgestattet mit Mikrofonen, Kameras und Karten. Sie teilen sich in zwei Teams auf. Inspiriert ist diese Variante, genannt „Hide and Seek“, von der englischsprachigen YouTube-Serie „Jet Lag: The Game“.
Verstecken mal anders: Das System hinter „Hide and Seek“
Lars und Robin starten als die sogenannten „Hiders“. Sie haben 30 Minuten Zeit, um sich in Stuttgart und Umgebung zu verstecken. Dafür dürfen sie die U-Bahn, S-Bahn oder Regionalzüge nutzen. Nach den 30 Minuten machen sich die „Seekers“ Lukas und Luisa auf den Weg. Um dem Versteck näherzukommen, dürfen sie Lars und Robin per Handy Fragen aus einem vorgegebenen Fragenkatalog stellen. Dieser beinhaltet Fragen, die etwa einen Radius preisgeben oder Anhaltspunkte über Fotos liefern. Im Gegenzug für jede Frage dürfen die „Hiders“ eine Karte aus einem Kartenstapel ziehen, die ihnen beispielsweise einen Zeitbonus verschafft oder die „Seekers“ durch Challenges verlangsamt. Nachdem Lars und Robin gefunden werden, wechseln sie die Rollen. Das Team, das sich am längsten verstecken kann, gewinnt das Spiel.
Was in dem Video in weniger als einer Stunde dargestellt wird, erfordert in Wirklichkeit die Sichtung von insgesamt 16 Stunden Videomaterial. „Das waren schon 80 bis 100 Stunden Schneiden, aber es war mein spaßigstes Projekt bisher“, erzählt Lars in einem Gespräch. Das Video lädt er nichtsahnend auf seinem YouTube-Kanal hoch. In kurzer Zeit werden 100.000 Aufrufe erreicht. „Das hatte am ersten Tag schon über 10.000 Aufrufe. Ich hätte 10.000 nach einem Monat für realistisch gehalten“, sagt Lars. Das Video haben sie auf Englisch aufgenommen. Die Resonanz motiviert Lars. Die nächste Runde Hide and Seek findet in Karlsruhe statt. Dafür geht er noch einen Schritt weiter.
„Jet Lag: The Game“ als Inspiration
Den Fragenkatalog oder Kartenstapel für das Versteckspiel musste sich die Gruppe nicht selbst ausdenken. Diese wurden von den Gründern des YouTube-Kanals „Jet Lag: The Game“ für ein breites Publikum zur Verfügung gestellt. Der Kanal wurde 2022 von dem YouTuber Sam Denby und den Autoren Adam Chase und Ben Doyle ins Leben gerufen. Das Grundprinzip des Kanals beruht auf Wettkämpfen, zwischen Personen oder Teams, und dem Erreichen eines geografischen Ziels, bei dem sich die Teilnehmenden Transportmöglichkeiten zunutze machen. Durch Challenges oder limitiertes Budget bleiben die Spiele dynamisch. Die genauen Spielabläufe, Regeln und Standorte variieren dabei von Staffel zu Staffel. Neben den Gründern nehmen auch Gäste an einzelnen Staffeln teil.

Beliebtes Reiseziel Europa
Europa ist als „Spielplatz“ gern gesehen auf dem Kanal. So basiert das Versteckspiel in Stuttgart auf der neunten Staffel der Serie, in der Sam, Adam und Ben „Hide and Seek“ in der Schweiz spielen. Nicht nur das Kindheitsspiel Verstecken erlebt eine Transformation auf europäischem Boden. Mit „Tag Across Europe“ wird dem Fangspiel in insgesamt drei Staffeln ein neuer Anstrich verliehen. Die erste Folge beginnt in Frankreich. Sie ist das meistgeklickte Video des Kanals. Zuvor wurde jedem der Teilnehmer ein Zielort zugeteilt. Diese liegen in Deutschland, der Schweiz und Großbritannien. Die Fänger haben ein unbegrenztes Budget und Zugriff auf Standortdaten. Der Läufer hat einen Vorsprung und muss sich durch Challenges Budget erkämpfen. Derjenige, der seinem Zielort innerhalb von drei Tagen am nächsten kommt, gewinnt. Durch die Staffel wird auch Lars zu einem Zuschauer. „Das Spiel war gut durchdacht. Ein Kindheitsspiel wie Fangen als etwas groß Aufgezogenes. Fand ich spannend und originell“, betont er.
Auch die aktuelle Staffel „Schengen Showdown“ bedient sich des europäischen Verkehrsnetzes und zeigt, was Reisefreiheit in der EU bedeutet. In der Staffel gewinnt das Team, das die meisten Länder besucht. Länder können mithilfe länderspezifischer Challenges auch „erobert“ werden, sodass sie vom gegnerischen Team nicht mehr gestohlen werden. Auch Deutschland feiert in dieser Staffel ein Comeback. Die erste Folge zeigt einen Rückblick auf Momente, in denen die Deutsche Bahn den Teilnehmenden zum Verhängnis wurde. Beim Anblick eines ICEs witzelt der Gast dieser Staffel, der YouTuber Tom Scott: „Sam, das ist ein Zug der Deutschen Bahn. Ich habe Jet Lag beobachtet. Ich weiß, wie langsam und wie ineffizient die Deutsche Bahn in der Vergangenheit für dich war.“ Für die Pläne des Studenten Lars bleibt die Deutsche Bahn nicht nur ein wiederkehrender Nebencharakter.
Das nächste Projekt
Lars, Lukas und Luisa treffen sich Anfang Mai für eine weitere Runde „Hide and Seek“ in Karlsruhe. Es ist ein regnerischer Tag, was den Dreh um 30 Minuten verzögert. Am Eingang des Badischen Landesmuseums werden das neue Equipment gesichtet und ein paar Testaufnahmen durchgeführt. Das Filmen in der Öffentlichkeit regt neugierige Blicke auf die Gruppe. „Im Endeffekt hat man darauf gar nicht geachtet, weil man an das Spiel gedacht hat“, merkt Lars an. Sie laufen ein paar Meter, sodass das Schloss Karlsruhe im Hintergrund erkennbar ist. Der Regen hört auf und die erste Runde beginnt. Lukas rennt als „Hider“ mit seinem Handy auf sich gerichtet los. Lars und Luisa setzen sich auf eine Treppe und breiten eine Karte aus. Das Rätseln beginnt. Dieses Mal wird auf Deutsch gefilmt.

Das Ergebnis will Lars auf seinem neuen YouTube-Kanal „ortsfremd“ hochladen. Diese Runde stellt allerdings nur einen Testlauf dar. „So gesehen ist das ein Vorbereitungstest für ein größeres Spiel, was wir im August geplant haben“, verrät Lars. Dabei handelt es sich um ein eigenes Spiel, bei dem ganz Baden-Württemberg als Spielfeld dienen soll. Den noch leeren Kanal haben bereits knapp eintausend Personen abonniert. In der Kanalbeschreibung heißt es: „Wir machen den ÖPNV zum Spiel.“ Das Budget der „Jet Lag“-Gründer scheint es für das nächste Abenteuer vor der Haustür aber nicht zu brauchen.