Straßenzeitung 6 Minuten

Hinter roten Kitteln

Straßenzeitung Trott-war
Lia verkauft seit 1 1/2 Jahren Trott-war. Durch die flexiblen Arbeitszeiten kann sie für ihr Kind da sein. | Quelle: Leonie Helbich
11. Nov. 2025

Ralf läuft beim Verkaufen viel herum, winkt, spricht. Lia sitzt, schaut und wartet. Er seit 1997 dabei, sie erst seit kurzem, weil sie mit 19 Mutter geworden ist. Zwei sehr unterschiedliche Mensch, ein Job bei Trott-war. 

Es ist ein Samstag, 28 Grad und die Menschen in der Stadt laufen in schnellen, rastlosen Schritten durch die Gassen der Stuttgarter Innenstadt. Bei Ralf* läuft es heute schlecht. „Die Leute laufen an mir vorbei, als wäre ich Luft.“ Er hat heute erst wenige Zeitungen verkauft. Aus einer Musikbox in seinem Rucksack hört man spanische Musik, die sich mit Wortfetzen aus vorbeiziehenden Gesprächen vermischt. Über seinem roten Kittel trägt Ralf eine Adidas Bauchtasche. Eine ältere Frau bleibt stehen. „Hallo, Trott-war?“, fragt Ralf. Keine Antwort.

Zur gleichen Zeit sitzt Lia* einige hundert Meter entfernt an einem beschatteten Eingang eines Drogeriemarktes. Ihr Blick ist auf die vorbeilaufenden Menschen vor ihr gerichtet. Niemand spricht sie an. Vor ihren Sneakern liegt ein schwarzer Rucksack, darauf ordentlich gestapelte Zeitungen und eine silberne, leere Schale. Zuhause wartet ihr einjähriger Sohn. „Ich bin dankbar, dass es das hier gibt.“ Sie deutet auf die Zeitungen vor ihr. Bei einem schwachen Lächeln bilden sich kleine Grübchen auf ihrer Wange. „Es ist schwer, hier zu stehen, zu sitzen, zu warten.“ Lia ist vor ein paar Tagen 19 Jahre alt geworden.

Sichtbar aber unbekannt

Von weitem sind es rote Punkte, die bei sinkender Distanz zu roten Kitteln werden. Die Verkäufer von „Trott-war“ stehen an den beliebtesten Orten in Stuttgart und verkaufen die monatliche Ausgabe der Straßenzeitung. Herausgegeben wird Trott-war vom gleichnamigen gemeinnützigen Verein. Geschrieben wird die Zeitung von fest angestellten und freien Journalist*innen und behandelt vor allem sozialpolitische Themen. Verkaufen können alle, die über ein geringes Einkommen verfügen oder wohnungslos sind. Eine Ausgabe kostet 3,20 Euro, wovon die Verkaufenden 50 Prozent behalten dürfen. Abgesehen von dem roten Kittel mit der schwarzen Aufschrift „Trott-war“ haben Lia und Ralf aber wenig gemeinsam. 

Ralf läuft kleine Ein-Schritt-Kreise, er dreht sich nach links, dann nach rechts und wieder nach links, auf der Suche nach einem interessierten Blick. Ein Mann mit Fahrrad geht vorbei, sie erkennen sich schon von Weitem. Ralf winkt, der Mann bleibt stehen und sie klopfen sich auf die Schulter. Lachen, kurzes Gespräch und dann eine schnelle Verabschiedung. Solche kurzen Man-kennt-sich-Begegnungen kommen oft im Arbeitsalltag von Ralf vor. „Ich kenne auch den Oberbürgermeister persönlich“, erzählt er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich kenne hier auch viele Polizisten.“ Seit 1997 verkauft Ralf in seinem selbsternannten Traumjob Zeitungen. Seit 2011 ist er einer von aktuell zwei festangestellten Verkäufern bei Trott-war in Stuttgart. Er bekommt ein festes Gehalt für 500 verkaufte Zeitungen im Monat. Verkauft er mehr, bekommt er mehr. Laut Ralf schafft er 900 bis 1000 Zeitungen.

„Also montags, dienstags, mittwochs so zehn, fünfzehn. Samstags und freitags sind es dann mehr, so 20, 25.“ Lia streicht mit ihren Fingern eine Zeitung glatt. Sie kommt nicht wie Ralf sechsmal pro Woche in die Stadt zum Verkaufen. Bei ihr sind es meistens zwei bis drei Tage, an denen ihr fester Zeitplan etwas Luft für die Arbeit bietet. „Dann ruft mich meine Mutter an, sagt mir, dass das Kind mich gerade braucht und weint. Und dann muss ich halt nach Hause.“ Lias Augen werden ein wenig glasig, ihre Stimme bleibt fest. Mit 19 Jahren hat Lia einen einjährigen Sohn. In der achten Klasse wurde sie schwanger, ungeplant. Sie wollte das Kind behalten, musste dafür aber ihr altes Leben über Bord werfen. Mit dem Vater des Kindes hat Lia seit der Schwangerschaft kein Wort mehr gewechselt. Jetzt ist es die Straßenzeitung, die es ihr erlaubt, flexibel zu arbeiten. Lia kann selber entscheiden, wann, wo und wie lange sie verkauft.

Träume

„Ich habe mein Hobby zum Traum gemacht“, sagt Ralf, während sein Blick ohne Pausen die Gesichter der vorbeigehenden Menschen analysiert. Nach seinem Hauptschulabschluss hat sich Ralf nicht für Weiterbildungen interessiert. Nur das Verkaufen sei schon immer sein Ding gewesen.

„Ich wollte Ärztin werden.“ Lias Stimme wird höher, ihre Augen werden größer. „Das war mein Traum.“ Ihre Mundwinkel senken sich etwas, als sie beginnt, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Um Ärztin zu werden, braucht man in Deutschland das Abitur, ein Studium und vor allem eine Menge Zeit. Alles Dinge, die Lia nicht hat.

Ich wollte Ärztin werden. Das war mein Traum."

Lia

"Das ist doch keine Arbeit"

Eine Frau und ein Mann mittleren Alters laufen an Ralf vorbei. Ihre Blicke bleiben an dem roten Kittel hängen. Sie schauen nur, aber sprechen ihn nicht an. Ralf geht einen Schritt näher. „Ich habe in der ganzen letzten Stunde noch nicht eine einzige Zeitung verkauft“, witzelt er zu den beiden. In seiner Stimme eine Spur von ernsthafter Genervtheit. Die Frau bleibt stehen. „Was ist das für eine Zeitung?“ Wenig später hält Ralf eine Zeitung weniger in der Hand und hat einen Fünf-Euro-Schein mehr in der Tasche. Normalerweise spricht Ralf wenige Leute an, nur die, die interessiert wirken. Nicht jeder ist den Verkaufenden im roten Kittel gut gesinnt.

„Also ich wurde auch hier schon sehr, sehr, sehr, sehr, sehr oft verbal beleidigt“, erklärt Ralf. Er zählt auf: „Du bist scheiße, hau ab!“, „Assi, geh weg von hier!“, „Geh mal schaffen!“ Meistens Menschen, die nicht verstehen, was er tut. „Also ich habe es so ein bisschen gespürt in meinem Herzen drinnen, aber dann ist es halt wieder raus.“ Ralf steht breitbeinig, der Rücken gerade. Er trägt eine Camouflage-Hose im Bundeswehr-Style.

Lia zählt auf: „Warum arbeitest du nicht?”, „Geh mal arbeiten, wenn du Geld verdienen möchtest!” Beim Erzählen imitiert sie den Ton, eine Mischung aus aggressiv und genervt, als würde Lia den Leuten ihren Platz wegnehmen. „Ich habe dann auch keine Kraft mehr, um die Leute anzusprechen.“ Es gibt aber auch viele nette Menschen, die sich dafür interessieren, warum sie auf der Straße Zeitungen verkauft und ihr eine kleine Spende zustecken. Je nachdem wie gut der Tag lief und wie lange sie unterwegs ist, verdient Lia am Tag 50–100 Euro. Von einem Teil des Geldes kauft sie dann neue Zeitungen.

Andere Verkäufe gehen stumm vonstatten. Ein Mann geht auf Ralf zu, zeigt mit seinem Finger auf die Zeitung in seiner Hand. In der anderen ein Fünf-Euro-Schein, den er nun Ralf entgegenstreckt. Zeitung-Geld-Tausch und dann ist der Mann weg. „Danke“, sagt Ralf mit einem Lächeln hinterher.

Straßenzeitung Trott-war
Verkaufende von Trott-war behalten 50 Prozent des Verkaufspreises.
Quelle: Leonie Helbich

Freizeit aber nicht frei

„Ich bin sozusagen sein Bierfreund." Gegen 14 Uhr taucht Ralfs Bierfreund auf. Er will Ralf nach seiner Schicht abholen. Der Samstag lief nicht gut, er will gleich Feierabend machen. Spazieren gehen, drei oder vier Bier trinken und einen Horrorfilm gucken. Sein Lieblingshorrorfilm ist der Psychothriller Speak No Evil". Einen Ablauf, den Ralf laut eigener Aussage täglich wiederholt. „Wenn Leute sagen, ich bin Alkoholiker, ja dann bin ich halt Alkoholiker. Aber ich brauche meine drei, vier Bierchen am Tag, hilft mir beim Runterkommen.“

„Wer ist wohl reicher? Mark Zuckerberg oder Elon Musk?“, fragt Ralf. Seine Schicht ist fast zu Ende, seine Haltung wird lockerer, er lässt die Hände vor seinem Körper hin und her schwingen. Der Bierfreund googelt es. „Elon Musk“, antwortet er. „So viel Steuern wie der zahlt, kann man im Leben nicht mal verdienen.“

Ralf erzählt dem Bierfreund von seinem Tag. „Das ist echt ein harter Job, ich könnte das nicht.“ Ralf zuckt nur die Schultern. „Vor Corona war es mein Traumjob.“ Es wirkt wie ein Eingeständnis, so leise spricht Ralf den Satz aus. Er erzählt von der Zeit vor dem Lockdown. Nicht er hat Leute angesprochen, sie haben ihn gesucht. Die Leute standen Schlange für die neue Ausgabe von Trott-war. 100 Zeitungen am Tag hat er damals verkauft. „Die Leute wollen kein Geld mehr ausgeben“, sagt Ralf trocken. Kurz ist es still zwischen den beiden, als würde Ralf sich überlegen, ob er den kommenden Satz wirklich sagen soll. „Die Impfung hat den Leuten die letzten Gehirnzellen zerstört. Zum Glück bin ich nicht geimpft.“ Der Bierfreund bleibt still. 

Während der Corona-Pandemie sind die Verkaufszahlen von Straßenzeitungen in Deutschland gesunken. Leere Straßen statt volle Innenstädte sind ein Problem für das Konzept von Straßenzeitungen. Auch der Wandel zu digitalen Medien ist ein Hindernis für die Printausgaben von Straßenmagazinen. 

„Ich habe leider gar keine Zeit für meine Freizeit. Für mich selber habe ich auch keine Zeit.“ Ab und zu schaut Lia auf ihr Handy. Wenn ihre Mutter anruft, muss sie sofort nach Hause. Wenn Lia keine Zeitungen verkauft, dann kümmert sie sich um ihren Sohn, schläft und geht gerne spazieren. Sie trifft sich nicht mit Freundinnen. Heute hat sie den roten Kittel sieben Stunden getragen.

„So, ich habe kein Bock mehr“, sagt Ralf um 14:32 Uhr. Das rote Leibchen und die restlichen Zeitungen verstaut er in seinem Rucksack. „Sobald ich meinen Kittel ausgezogen habe, möchte ich meine Ruhe haben.“ Kurz darauf verschwindet er mit seinem Bierfreund in den Gassen der Stadt.

Sobald ich meinen Kittel ausgezogen habe, möchte ich meine Ruhe haben."

Ralf

Namen wurden geändert, der echte Name ist der Redaktion bekannt.