Borderline und Depression

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Risikobereitschaft am Steuer ist eines der Kennzeichen von Borderline-Patienten wie Aliya.
23. Febr. 2020

Die junge Frau, die hier Aliya* genannt wird, leidet an Borderline und einer depressiven Störung. Über ein Leben in Extremen und die Hoffnung auf Besserung.

„Nichts. Ich habe nichts, was ich mir selbst für meine Zukunft wünsche. Ich meine: Würdest du etwa deinem Feind etwas wünschen?“ Stille im Raum. Was soll man auf so eine Aussage erwidern? Doch Aliya schminkt sich einfach weiter. Nüchtern fährt sie fort: „Ich bin mein eigener Feind. Ich mag mich nicht, finde mich nicht wertvoll.“ Es ist Samstag, kurz vor 12 Uhr. Vor einer halben Stunde erst ist die 20-Jährige aus Bruchsal bei Karlsruhe aufgestanden. Das sei normal, denn sie ist nachtaktiv, gehe meist erst in den frühen Morgenstunden schlafen. Ihr Zimmer ist unaufgeräumt, auf dem Boden und Schreibtisch liegen Pinsel und Make-Up-Dosen, auf dem Bett vereinzelte Kleidungsstücke. Ein Chaos, das laut Aliya mit ihrem Inneren vergleichbar ist. In einer Jogginghose sitzt sie vor ihrem Kleiderschrank, betrachtet sich im Spiegel. Sie ist zierlich, brünett, gläubig. Ein Bild von Jesus hängt rechts neben ihrer Zimmertür. Als sie sich die Brille richtet, sieht man zwei Tattoos auf ihren beiden Unterarmen: Links ein großes Rosentattoo, rechts die Aufschrift „Saved by Grace“ — zwei Motive, die als Kraft und Stütze dienen sollen, denn Aliya hat Borderline und eine depressive Störung.

Ungefähr zwei bis drei Prozent der Deutschen leiden an Borderline. Typische Symptome der Persönlichkeitsstörung sind starke Stimmungsschwankungen, häufige Wutausbrüche, selbstzerstörerische Verhaltensweisen und ein fehlendes Identitätsgefühl. Oft geht Borderline zusammen mit einer Depression einher: Laut Umfragen leiden mehr als 80 Prozent der Menschen mit der Störung ebenfalls an einer depressiven Erkrankung. Der Stiftung für Deutsche Depressionshilfe zufolge sind in Deutschland etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann im Laufe ihres Lebens von einer Depression belastet. Betroffene verlieren nicht nur ihre Motivation und Lebensfreude: Abhängig vom Schweregrad ihrer Depression sind viele nicht mehr in der Lage, ihren Alltag zu meistern und neigen zu selbstverletzendem Verhalten. 

Depressive Trigger

Wir haben uns nach draußen auf die Terrasse gesetzt, denn Aliya möchte eine rauchen. 30 Zigaretten am Tag braucht sie. Gut zum Druckabbau sei das und eine Ersatzsucht für das Ritzen. Mit 15 Jahren bekam Aliya ihre erste Diagnose Depression. Kurz, nachdem ihre Mutter sie wegen ihrer Ritzsucht und einigen Selbstmordversuchen in die Psychiatrie eingewiesen hatte. Der Monat, den sie dort verbracht hat, war rückblickend aber eine schöne Zeit für Aliya: „Ich bin dort echt in mir total aufgegangen, habe viele Spiele gespielt mit den Anderen. Mir ging es gut, weil ich weg von meiner Familie war.“ 

Familiärer Druck von frühester Kindheit an — für Aliya der Hauptauslöser ihrer psychischen Erkrankungen: „Meine Eltern haben nicht aus Liebe geheiratet. Als mein Bruder und ich noch kleiner waren, haben sie sich mit Tellern beschmissen, sich geschlagen. Ich habe immer die Küchenmesser versteckt. Uns haben sie geschlagen und ich hatte als Kind Todesangst, dass meine Mutter mich umbringt. Ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, damals“, erzählt Aliya mit leiser Stimme, denn sie will nicht, dass ihre Mutter uns aus der Küche hört. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, eine eigene Wohnung kann sie sich nicht leisten. Ein weiterer Trigger ihrer Depression: Unerwiderte Liebe. Um Aufmerksamkeit von einem Jungen zu bekommen, hat sie ihm damals Bilder ihrer blutenden Arme geschickt.

Heute habe sie die Depression zu ungefähr 90 Prozent überwunden. Doch die 10 Prozent, die noch da sind, seien alles andere als nichtig: „Früher habe ich so Vieles gern gemacht, heute finde ich nicht mehr so viel Freude an den meisten Aktivitäten.“ Bestimmte Orte verbindet Aliya noch immer mit Suizidgedanken und meidet sie deshalb ganz bewusst — zum Beispiel den Bahnhof. Auch zuhause kann sie nie lange bleiben, weil sie sich schnell nach Abwechslung sehnt. Diese findet Aliya beim Autofahren: Ziellos fährt sie oft die Straßen der Innenstadt entlang, um Freiheit zu verspüren. Deshalb verlassen wir nun das Haus und steigen in ihr Auto.

Entweder Schwarz oder Weiß

Bevor Aliya den Motor startet, schließt sie ihr Handy an die Autobox an. Sie will mir einen Song zeigen, der ihre Krankheit und sie selbst sehr gut beschreibt: Borderline von Madeline Juno. Zarte Klänge eines Keyboards setzen ein, Aliya summt leise mit. Besonders angetan ist sie vom Anfang des Liedes: „Ich renne auf Zeit oder steh’ erst gar nicht auf. Ich sehe mich nur in Schwarzweiß.“ Borderline ist geprägt von Extremen. Anders als bei einer depressiven, bedrückten Stimmung, ändert sich die Gefühlslage von Borderlinern schnell: Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. 

Borderline von Madeline Juno ist einer der Lieblingssongs von Aliya.

Ein Zwischendrin, eine Art Mittelweg oder ein „So naja“-Gefühl gibt es für Aliya nicht. „Ich fühle mich manchmal extrem hübsch oder extrem hässlich. Ich empfinde sehr viel Liebe für jemanden oder hasse ihn im nächsten Moment. Mir macht etwas extrem Spaß oder nicht. Ich renne entweder da hin, mache was oder mache gar nichts und liege nur im Bett“, erklärt sie und hält an der nächsten Ampel. Vor zwei Jahren erst wurde die Persönlichkeitsstörung festgestellt und ist ihr dominierendes Krankheitsbild. Die Einschränkungen im Alltag sind enorm: „Besonders die Stimmungsschwankungen belasten mich. Ich bin oft sehr aggressiv, werde wütend. Wenn ich rausgehe, muss ich immer daran denken, dass ich niemanden verletzen darf, muss mich die ganze Zeit zurückhalten, um auf niemanden loszugehen. Es ist immer eine innere Spannung da“, schildert sie bedrückt. Sie habe sich noch nicht ganz angefreundet mit der Erkrankung, müsse Borderline immer besser kennenlernen, jeden Tag auf’s Neue.

Therapeutische Unterstützung

Auch eine Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder anderen Substanzen kennzeichnen diese Persönlichkeitsstörung. Mit 14 Jahren hat Aliya angefangen, Gras zu rauchen. Folgen davon waren starke Halluzinationen und Stimmen in ihrem Kopf. Einen Ausweg aus der Drogenszene hat sie durch ihre Psychotherapeutin gefunden: „Ich habe es ihr erzählt und musste versprechen, dass ich es nicht mehr nehme. Nur dadurch konnte ich aufhören, sonst hätte sie meine Therapie abgebrochen. Und das will ich auf gar keinen Fall“, erklärt Aliya und zeigt mir die Praxis, wo sie seit fünf Jahren regelmäßige Therapiesitzungen besucht. Für sie ist das ein großer Rückhalt: „Meine Therapeutin hat mir bei so Vielem geholfen. Ich habe eine sehr gute Bindung zu ihr und das ist das Wichtigste. Deshalb halte ich die Versprechen ein, die ich ihr mache.“ Eine Methode, die die Patienten anfangs in der Therapie erlernen, ist das sogenannte Skills-Training. Sie eignen sich dabei verschiedene Strategien an, die ihnen zwar ein ähnliches Gefühl geben, aber nicht so schädlich sind wie die Selbstverletzung an sich. Dadurch hat Aliya ihre Ritzsucht aufgeben können: „Ich habe stattdessen roten Lippenstift genommen und auf meine Arme geschmiert. Deshalb habe ich das sein lassen können.“ Außerdem werden in den Sitzungen die Problembereiche besprochen, die die Betroffenen belasten und erarbeitet, wie sie besser oder anders damit umgehen können. Für Aliya gibt es dazu meist am Ende jeder Sitzung eine Art Hausaufgabe. Beim nächsten Termin wird besprochen, wie gut deren Umsetzung geklappt hat. Anfangs hat sie sich wöchentlich mit ihrer Therapeutin getroffen, zurzeit nur noch alle sechs Wochen. In einem Dreivierteljahr soll Aliyas Therapie komplett abgeschlossen werden. Die Patienten sollen nämlich keine Abhängigkeit vom Therapeuten entwickeln und lernen, alleine zurecht zu kommen.

Furcht vor der Einsamkeit

Doch gerade dieses Alleinsein und Verlassenwerden ängstigt die meisten Borderline-Patienten. Aliya holt jetzt ihre beste Freundin Julia ab. Mit ihr verbringt sie die meiste Zeit, Tage ohne sie sind eine echte Ausnahme. Zusammen sind sie unterwegs, sitzen im Auto, reden, feiern und machen die Nacht durch — oder liefern Pizza aus, so wie heute. Ein schlecht bezahlter Aushilfsjob, auf den Aliya aber finanziell angewiesen ist. Ihre Ausbildung zur Behindertenpflegerin hat sie im letzten Jahr abgebrochen, obwohl das eigentlich ihr Traumjob wäre. Nervenzusammenbrüche in der Klasse, Leistungsdruck, Stress und Motivationslosigkeit waren die Gründe dafür. Zum Ausliefern kommt Julia freiwillig mit, denn Aliya möchte nicht allein sein. Sechs Stunden lang fahren sie mit dem Auto Bestellungen aus. Obwohl die Arbeit oft stressig für sie ist, mag Aliya den Job: „Man trifft immer neue Leute und kann herumfahren. Mein Chef und die Mitarbeiter sind wie eine Familie für mich.“ Während der Fahrten wirkt sie glücklich, lacht viel und singt ausgelassen, zusammen mit Julia. 

Sehnsucht nach Risiko und Ruhe

Ausgelassen ist auch Aliyas Fahrstil: Schnell und unvorsichtig fährt sie von einem Haus zum nächsten. An einer Kreuzung überholt uns plötzlich von links ein noch rasenderes Auto und fährt dicht vor uns auf die Spur. Das war knapp, doch Aliya hat die Show sichtlich genossen: „Wuhu“, ruft sie übermütig als wäre sie auf einer Achterbahnfahrt. „Es ist mir ziemlich egal, ob ich angefahren werde oder nicht. Ich bin einfach nicht in der Realität“, schildert sie schulterzuckend. Auch diese Art von Risikoverhalten ist Borderline bedingt: Bewusst ist den Betroffenen zwar, dass ihr impulsives Handeln sehr gefährlich sein kann. Jedoch brauchen sie unbedingt einen inneren Kick, weshalb sie keinerlei Rücksicht auf mögliche Gefahren nehmen. Noch hatte Aliya Glück: Unfällen konnte sie bisher immer ausweichen.

Auch heute beendet sie unbeschadet ihre Schicht. Unser nächster Halt ist jetzt bei Burger King. Fast jeden Tag fährt sie hier bis zu drei Mal in den Drive-In, denn ihre Essgewohnheiten sind depressionsbedingt: „Ich esse deshalb fast nur Fastfood und wenn mein Geld nicht reicht, manchmal gar nichts am Tag.“ Einer ihrer Lieblingsorte ist der Parkplatz daneben, wo Julia und sie immer ihre Burger verzehren. Besonders bei Nacht kommt sie gerne hierher. „Hier habe ich meine Ruhe und kann innerlichen Druck abbauen“, erklärt sie nur kurz. Daraufhin nimmt sie den Burger in die Hand und ihre beiden Tattoos kommen wieder zum Vorschein. Das Rosentattoo auf dem linken Arm habe sie davon abgehalten, sich weiter selbst zu verletzen. Doch Narben kann ich dort kaum welche erkennen. „Da habe ich Glück gehabt, dass die wieder weggegangen sind. Die waren nicht so tief“, erläutert sie knapp und betrachtet den Arm kurz weiter.

Hoffnung und Glaube

Ich muss wieder an unser Gespräch von heute Morgen in ihrem Zimmer denken. Hat Aliya keine Zukunftspläne? „Eigentlich denke ich nicht an meine Zukunft, aber auf jeden Fall wünsche ich mir eine Familie. Ich will eine gute Mutter sein, die zwar Regeln hat, aber Freiheiten lässt. Ich möchte ihnen etwas mit auf ihren Weg geben können.“ Motivierter und allgemein erfolgreicher würde sie ohne ihre psychischen Probleme sein, denkt sie weiter. „Ich glaube, ich würde irgendwas im Fitnessbereich machen und modeln, wenn ich mich akzeptieren würde.“ Ob sie daran glaubt, sich einmal komplett akzeptieren zu können? Sie überlegt kurz, schließlich antwortet sie entschlossen: „Ich denke, irgendwann schon.“ Generell hat Borderline eine gute Heilungsprognose: 40 Prozent der Betroffenen werden wieder gesund, weitere 40 Prozent können mit Hilfe ein erfülltes Leben führen. 

Aliya deutet auf das Tattoo an ihrem rechten Unterarm, auf dem „Saved by Grace“ steht, durch Gnade gerettet. „Mit Gottes Hilfe kann ich das schaffen. Seine Gnade hat mich schon oft vor noch Schlimmerem abgehalten.“ Ihr Blick wandert zum Rosenkranz, der an ihrem Rückspiegel hängt. Sie schluckt den letzten Bissen ihres Burgers herunter und öffnet ihre Zigarettenpackung. „Mein Glaube an ihn ist der Grund, dass ich heute noch lebe und auf Besserung hoffen darf.“

*Name geändert