Konflikte&Grenzen 6 Minuten

Wenn Familie nicht guttut

Eine Kollage aus mehreren Familienfotos. Über allen Bildern liegen Scherben, als wäre die Kollage gesprungen.
Familiäre Nähe kann auch Spuren hinterlassen. Spuren, die deine mentale Gesundheit gefährden und dich ein Leben lang prägen. | Quelle: Konstantina Papadopoulou
10. Dez. 2025

Was passiert, wenn Familie mehr weh tut als guttut? Und was, wenn Distanz kein Verrat ist, sondern Selbstfürsorge? 
Dieser Essay erzählt aus eigener Erfahrung, warum Blutsverwandtschaft nicht immer trägt und warum das Setzen von Grenzen manchmal der mutigste Schritt ist. 

Als kleines Mädchen habe ich oft geweint. Damals verstand ich nicht genau, warum. Ich wusste nur, dass meine Familie anders war, als ich es mir wünschte. Also sehnte ich mich weiterhin nach einem Onkel, der nicht nur wie ein Schatten am Rand meiner Kindheit stand. Ich hoffte, meine Tante irgendwann ohne heimliches Versteckspiel treffen zu dürfen. Ich trauerte einer Wunschvorstellung meiner Eltern nach. Und ich wünschte mir eine Familie, die ihre alten ungesunden Muster durchbricht. Man sagt, Familie soll Halt geben. Aber was, wenn sich dieser Halt mehr wie ein Griff anfühlt? Was, wenn Nähe zur Pflicht wird und nicht mehr guttut? Auf Dauer haben mich meine Erfahrungen emotional erschöpft und mental ausgelaugt. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass Blutsverwandtschaft allein nicht trägt. Und dass das manchmal heißt, sich aus Selbstfürsorge zu distanzieren. 

Ich bin nicht allein

Was ich damals nicht wusste: Ich war nicht allein und bin es auch heute nicht. Mit der Zeit merkte ich, dass viele Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Eine Untersuchung der Cornell University bestätigt dieses Bild: In westlichen Gesellschaften sind ernsthafte familiäre Konflikte weit verbreitet. In den USA sind rund 27 Prozent der Erwachsenen mit einem ernsthaften familiären Konflikt betroffen. 

Doch was zeichnet ernsthafte Konflikte aus?

Sie sind nicht einmalig. Sie wiederholen sich, überschreiten Grenzen, entziehen Kraft und hinterlassen Spuren, die bleiben. Und am wichtigsten: Sie können familiäre Bindungen zerbrechen. Dabei geht es nicht um kleine Alltagsspannungen, wie sie in jeder Familie vorkommen. Ich spreche von Wertekonflikten, Schuldumkehr, manipulativen und dysfunktionalen Mustern innerhalb der Familie.

Dysfunktionale Muster sind wiederkehrende Verhaltens- und Kommunikationsweisen, die Beziehungen belasten und gesunde Nähe verhindern. Dazu gehören: 

  • ungelöste Konflikte
  • Schuldzuweisungen 
  • dauerhafte Grenzüberschreitungen
  • emotionale Kälte oder Unausgesprochenes

Mehr dazu in der Studie von Cummings & Davies (2002).  

Auch ich und meine Familie sind von diesen dysfunktionalen Spannungen betroffen. Diese Art von Problemen hat meinen Onkel überhaupt erst zu einem Fremden für mich gemacht. Und sie machten jeden Besuch bei meiner Tante zu etwas Heimlichem. Die Schwierigkeiten mit meinen Eltern sind ebenso ernst, denn ich kämpfe seit Jahren gegen ungesunde Muster an. Muster, die sich wiederholen, statt sich aufzulösen. Dabei habe ich damit leben müssen, dass Worte zu Waffen wurden, Schweigen zu Mauern und Grenzen zu etwas, das oft übertreten wurde. Solche Erfahrungen legt man nicht einfach ab, sie begleiten einen weiter. Welche Spuren sie hinterlassen können, beschreibt die systematische Familientherapeutin Sarah Klein. Sie erklärt, dass belastende familiäre Dynamiken häufig zu „starker Erschöpfung nach Kontakt, Schuldgefühlen und wiederkehrenden Selbstzweifeln“ führen. Diese Beobachtung deckt sich auch mit der Forschung. Eine Langzeitstudie des US-Gesundheitsinstituts CDC zeigt, dass diese Konfliktmuster psychische Folgen haben können. Dazu zählen unter anderem depressive Symptome, Angstzustände, Bindungsunsicherheit, emotionale Erschöpfung und sogar traumatische Reaktionen. Und trotzdem bleibt es ein Tabu, Distanz zu den eigenen Verwandten zuzulassen. 

Familie ist eben unantastbar

In unserer Gesellschaft gilt Familie noch immer als etwas Unantastbares. Als etwas, das bleibt, egal wie schwer es wird. Das hängt auch damit zusammen, dass Loyalität mit der Geburt beginnt und dass wir mit der Vorstellung aufwachsen, dass Blut automatisch verbindet. Aus psychologischer Sicht beschreibt Sarah Klein Familie zudem als „erstes soziales System, in das ein Mensch mit der Geburt automatisch eingebettet ist“. Durch diese frühen Sozialisationsprozesse übernehmen wir Glaubenssätze, wie beispielsweise „Familie hält immer zusammen“, die tief in unserer Kultur verankert sind. Sie prägen ein gesellschaftliches Leitbild, das sich schnell wie eine eigene Überzeugung anfühlt. Distanz wirkt unter solchen Bedingungen oft wie Verrat und wer von Familie abweicht, muss sich erklären. Genau das zeigt auch eine Untersuchung der American Psychological Association: Menschen, die sich von ihrer Herkunftsfamilie distanzieren, stoßen häufig auf Fragen, Rechtfertigungsdruck und leise Vorwürfe. Die Befragten berichten darin, dass ein Kontaktabbruch schnell als „extreme“ Entscheidung gilt. Als etwas, das man rechtfertigen, verteidigen und irgendwie entschuldigen muss. Man wird von der Gesellschaft in Frage gestellt. Es wirkt so, als sei nicht der Konflikt selbst das Problem, sondern die Entscheidung, sich ihm zu entziehen. Und vielleicht ist es genau die Mischung aus Moral, Tradition und Angst vor dem Urteil anderer, die die Distanz so schwer macht.

Zwischen Zugehörigkeit und Selbstschutz

Das ist auch voll nachvollziehbar, denn schließlich ist Familie unser erstes Bezugssystem. Es ist der erste Ort, den wir kennenlernen. Ein Ort, an dem wir Schutz und Zugehörigkeit suchen. Und weil wir uns nicht aussuchen können, in welches Umfeld wir hineingeboren werden, versuchen wir, alles auszuhalten und alles zu reparieren. Doch hinter mir liegen Jahre, in denen ich mich stets bemüht hatte, Konflikte zu lösen, die größer waren als meine Kraft. Nach all den Tränen und der Wut, nach den ständigen Hinterfragungen und den Zweifeln, kam der Punkt des Eingeständnisses: Die Menschen, die ich liebe, entsprechen nicht dem Bild, das ich mir unter Familie vorstelle. Für mich ist Familie ein Ort, an dem man nicht kämpfen muss, um geliebt zu werden. Ein Ort, an dem auf deine Mühe und deine Liebe etwas Gleichwertiges zurückkommt. Wo Nähe kein Risiko ist. Wo Menschen sich umeinander kümmern. Familie bedeutet für mich, jemanden zu haben, der bleibt, wenn es drauf ankommt. Familie ist wertvoll und mehr als nur gleiches Blut. Ihr Mehrwert liegt darin, dass sie dich stärkt und nicht schwächt. Und sobald familiäre Nähe mehr wehtut als guttut, braucht es den Mut, Grenzen zu setzen. 

„Grenzen dienen meistens dem Selbstschutz und sind ein Ausdruck des Wunsches, sich selbst unabhängig entwickeln zu wollen.“ 


Sarah Klein, Familientherapeutin

Ich habe den Mut gefunden

Das Schwierigste an meinen Erfahrungen war der Versuch, mich gegen die ungesunden, festgefahrenen Muster meiner Eltern zu stemmen. Besonders die Beziehung zu meiner Mutter hat mich über die Jahre hinweg emotional sehr erschöpft. Immer wieder wies ich sie auf ihre toxischen Verhaltensweisen hin. Doch statt Veränderung gerieten wir in neue Eskalationen. Und hier wurde mir eines bewusst: Wenn nur eine Seite bereit ist, Verantwortung zu tragen und etwas zu verändern, verliert jeder weitere Versuch an Sinn. Warum also weiter die Last schultern? Ich sah es irgendwann nicht mehr ein, so viel mit mir herum zu tragen. Man kann nichts heilen, was nicht gemeinsam getragen wird. Also habe ich den Mut gefunden, Abstand zu schaffen, um mich selbst zu schützen. 

„Entscheidend ist: Selbstschutz geht vor.“

Sarah Klein, Familientherapeutin

Werde dir deinen eigenen Bedürfnissen bewusst

Wie Sarah Klein erklärt, wächst Mut genau in dem Moment, in dem man die eigenen Bedürfnisse über die familiären Erwartungen stellt. Dafür braucht es die Bereitschaft, genauer hinzusehen: Was tut mir gut? Was nicht? Erst dann gewinnt man die Freiheit, die eigenen Bedürfnisse wieder an erste Stelle zu setzen. Dieser Weg verläuft jedoch nicht geradlinig. Für mich war es ein längerer Prozess, bis ich benennen konnte, welche Grenzen ich brauche und bis ich überhaupt den Mut gefunden habe, sie zu ziehen. Ich begann damit, mich bewusst zurückzunehmen: Ich suchte weniger die Nähe zu meiner Mutter, reduzierte den Kontakt auf das Nötigste und beschränkte Gespräche auf sachliche Themen. Auf diese Weise schuf ich mir den Abstand, der notwendig war, um wieder Luft zu bekommen. Doch manchmal reicht das nicht aus. Dann bleibt als letztes Mittel nur die Beziehung ganz zu beenden. Grenzziehung bedeutet nicht zwingend, sofort alle Kontakte abzubrechen. Viel häufiger beginnt Selbstschutz mit kleinen Schritten. 

Traue dich

Dieser Prozess war gar nicht so einfach. Die Schuldgefühle meldeten sich sofort. Doch Schuld ist in solchen Momenten ein schlechter Ratgeber. Wie Sarah Klein betont, entsteht sie oft aus der falschen Vorstellung, Familie müsse um jeden Preis funktionieren. Diese Erwartung hält viele davon ab, überhaupt darüber nachzudenken, Grenzen zu ziehen. Doch niemand ist verpflichtet, in Beziehungen zu bleiben, die dauerhaft verletzen. Man darf sich distanzieren, auch wenn es sich ungewohnt anfühlt. Emotionale Distanz ist dabei kein Zeichen von Gleichgültigkeit, sondern eine Form der Selbstfürsorge. Grenzen setzen bedeutet, das eigene innere Gleichgewicht zurückzugewinnen. Und manchmal heißt Abstand nicht die Familie aufzugeben, sondern sich selbst endlich ernst zu nehmen.