Ein Nachmittag im Park – gemeinsam mit allen vier Kindern. Für Familie Viebahn ist das eine besondere Zeit. Dabei wird deutlich, wie die seltene Diagnose ihrer Zwillingssöhne, ihr Glaube und ihr Zusammenhalt das Leben prägen. 

Leana Kubitzki

Ein Nachmittag im Park – gemeinsam mit allen vier Kindern. Für Familie Viebahn ist das eine besondere Zeit. Dabei wird deutlich, wie die seltene Diagnose ihrer Zwillingssöhne, ihr Glaube und ihr Zusammenhalt das Leben prägen. 

Leana Kubitzki

Wenn eine Genmutation zwei Leben bestimmt

Ines Viebahn

Wenn eine Genmutation zwei Leben bestimmt

Ines Viebahn

Es ist kurz vor Weihnachten 2020: Ines und Sven Viebahn öffnen den Brief vom Klinikum Bethel in Bielefeld. Die Diagnose ihrer Zwillingssöhne steht darin schwarz auf weiß: STXBP1. Nach jahrelanger Ungewissheit, Gentests und Untersuchungen endlich eine Antwort – aber auch ein Moment der Angst. Nun wissen sie, was Piet und Jascha wirklich haben. 

Der Wunsch nach einem gesunden Kind ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Doch wenn die Realität anders aussieht, beginnt für viele eine Zeit voller Fragen und Unsicherheiten. Auch bei Familie Viebahn hat sich dadurch einiges verändert: ihre Routinen, ihre Prioritäten, ihr Blick auf das Leben. Inzwischen haben sie ihren Weg gefunden. Aber wie gelingt es der Familie, die Hoffnung zu bewahren und den Alltag trotz der Einschränkungen zu meistern – und das meistens mit einer Prise Humor?  

Ein langer Weg zur Diagnose

Ines und Sven sind die Eltern der dreizehnjährigen Zwillinge Piet und Jascha. Sie sind ausgebildete Krankenpfleger. Beide arbeiten im gleichen Dialysezentrum – aber nie zur selben Zeit. Denn einer muss immer bei den Jungs sein. Das Leben wird nach den beiden gerichtet. Termine, Treffen, Einkäufe – und immer wieder muss etwas spontan abgesagt werden. 

Das STXBP1-Syndrom ist eine seltene neurogenetische Erkrankung. Die meisten STXBP1-Mutationen sind nicht vererbt, sondern treten spontan und zufällig auf.  

Das STXBP1-Gen liegt auf dem langen Arm des Chromosoms neun. Dieses Chromosom sorgt für die Freisetzung von Neurotransmittern, wichtigen Botenstoffen, die an Synapsen im Gehirn den Informationsaustausch zwischen Nervenzellen regulieren. Eine Mutation im STXBP1-Gen bewirkt, dass die Gehirnzellen nicht mehr richtig miteinander kommunizieren können. Das führt zu weitreichenden Folgen für Entwicklung, Motorik und Verhalten.

Die betroffenen Kinder entwickeln oft eine schwere Epilepsie mit früh einsetzenden Anfällen oder Krämpfen. Viele von ihnen bleiben nonverbal, können nicht eigenständig gehen und weisen ausgeprägte motorische Einschränkungen auf. 

Nach aktuellem Erkenntnisstand gibt es weltweit 1.431 STXBP1-Patient*innen. 103 diagnostizierte Fälle gibt es in Deutschland. 

Jahrelang waren Untersuchungen im sozialpädagogischen Zentrum und Gespräche mit Neurolog*innen Teil ihres Lebens. Doch damals gab es nur die Diagnose: „globale Entwicklungsverzögerung“. Die Hoffnung bleibt: Das holen Piet und Jascha noch auf. Aber die Zeit zeigt: Das Gegenteil passiert. 

Immer wieder trudeln Briefe ein, die weitere Krankheiten und Syndrome als Ursache ausschließen. Ines erinnert sich daran, wie es war, diese Zeilen vor sich liegen zu haben: „Man liest das und denkt sich: Boah gut, das ist es nicht. Aber was ist es dann?“ Nach einem erneuten Gentest, Jahre später, dann die Erkenntnis. Die Jungs sind acht, als sie die Diagnose erhalten. Ein Tag, an dem der Schock tief sitzt. „Ich weiß aber noch, an dem Tag, als wir das dann erfahren haben, das hat mir in dem Moment einmal richtig Angst gemacht, weil ich plötzlich auch eine Art Prognose hatte“, berichtet Ines. Denn bislang gibt es keine Heilung für das STXBP1-Syndrom. Therapien und medikamentöse Behandlungen können jedoch dabei helfen, Symptome zu lindern und bei der Entwicklung zu unterstützen. 

Doch dieses Gefühl der Angst flacht bei beiden Eltern schnell ab und ist mittlerweile schon länger weg. Die doppelte Belastung bleibt. Mit der Diagnose leben, sie akzeptieren und im Pflegealltag Routine finden: Das ist nun Familie Viebahns neue Zukunft. 

6.30 Uhr: Ein neuer Tag beginnt. Der Treppenlift und die Rollstühle stehen bereit.

Leana Kubitzki

6.30 Uhr: Ein neuer Tag beginnt. Der Treppenlift und die Rollstühle stehen bereit.

Leana Kubitzki

Bei Familie Viebahn beginnt der Tag wie ein eingespieltes Ritual. Ines sitzt am Esstisch im Wohnzimmer und hält ihren Kaffee in der Hand. Während sie einen Schluck nimmt, blickt sie durch die breite Fensterfront hinaus in den Garten. Ein Moment der Ruhe, bevor der Morgen richtig startet. Denn die Jungs müssen versorgt werden, bevor das Taxiunternehmen, das sie zur Schule bringt, um 7.30 Uhr ankommt. Sie geht hoch ins Zimmer der Zwillinge und beginnt mit ihrer Morgenroutine. Zähneputzen, Haare machen, Windeln wechseln, umziehen – all das passiert direkt im Pflegebett. Im Zimmer stehen zwei Pflegebetten, in denen sie sicher die Nacht verbringen können. Das größte Problem hier zu Hause ist die Verschluckungs- und Erstickungsgefahr. Gegenstände, die einfach herumliegen, können schnell unbeobachtet in den Mund der Jungs geraten. Da gab es schon die ein oder andere brenzlige Situation. Doch nicht heute. Hedda, ihre jüngere Schwester, sitzt schon daneben, wippt mit Jascha in der Hocke vor und zurück. Sie hat sich bereits selbst fertig gemacht und wartet darauf, zur Schule zu gehen. Isa, die jüngste Schwester, huscht durchs Zimmer, setzt sich zu Piet ans Bett und hilft, wo sie kann. Für sie geht es später in den Kindergarten. Eine routinierte Choreografie am Morgen – eingespielt, vertraut. 

Die Schule kommuniziert mit dem „Step-by-Step“. Das ist ein Audiogerät für Mitteilungen zwischen Lehrer*innen und Eltern. Außerdem gibt es ein Kommunikationsheft.

Leana Kubitzki

Die Schule kommuniziert mit dem „Step-by-Step“. Das ist ein Audiogerät für Mitteilungen zwischen Lehrer*innen und Eltern. Außerdem gibt es ein Kommunikationsheft.

Leana Kubitzki

Die Förderschule beginnt um 8.30 Uhr. Neben klassischen Schulfächern wie Sachkunde haben sie auch zweimal pro Woche Physiotherapie. Auf dem Plan steht ebenfalls die kleinen Fortschritte im Alltagstransfer zu üben – vom Rollstuhl in den Stuhl, vom Sitzen ins Stehen. Das ist das, was Ines und Sven die alltäglichen Situationen später erleichtert. Ein Highlight im Monat: Reitstunde. Lieblingsfach? Ganz klar: Hauswirtschaft. Je nach Wochentag werden Piet und Jascha zwischen 12.30 Uhr und 16 Uhr wieder zuhause abgeliefert. Ines erwartet die beiden bereits an der Haustür, als sie zurückkommen. Auch Sven hat seine Arbeitsschicht beendet. Jetzt kann das Nachmittagsprogramm mit der gesamten Familie starten. 

15.00 Uhr: Es ist Zeit für einen Ausflug. Der moosgraue Mercedes-Sprinter steht bereit. Die Eingliederungshilfe hat den Umbau ermöglicht.

Leana Kubitzki

15.00 Uhr: Es ist Zeit für einen Ausflug. Der moosgraue Mercedes-Sprinter steht bereit. Die Eingliederungshilfe hat den Umbau ermöglicht.

Leana Kubitzki

Im Sprinter können Piet und Jascha rollstuhlgerecht transportiert werden – beide Rollstühle passen hier hintereinander. So sieht das System zum Befestigen aus. 

Leana Kubitzki

Im Sprinter können Piet und Jascha rollstuhlgerecht transportiert werden – beide Rollstühle passen hier hintereinander. So sieht das System zum Befestigen aus. 

Leana Kubitzki

An diesem Tag hat Familie Viebahn ein besonderes Ziel: ein Ausflug zum Affen- und Vogelpark. Hedda und Isa stürmen in die dazugehörigen Indoor-Halle. Sie toben im Kletterturm, während beide Jungs die Trampoline, auf denen sie gerne Zeit verbringen, neugierig betrachten. Später hält Isa die Tür auf, sodass Sven und Ines die Rollstühle in den Außenbereich schieben können. Mit einem Gewicht von etwa 60 Kilogramm ist das keine leichte Angelegenheit. Wenn man bedenkt, wie uneben und hügelig so ein Weg im Park sein kann. Der Bereich mit den Kohlraben fasziniert hier besonders: Nesthocker, Allesfresser, ein Paar fürs Leben. So steht es auf dem ausgehängten Schild. „Ein bisschen wie wir“, sagt Sven augenzwinkernd zu Ines.

Wieder zuhause

Jascha hört gerne Musik. Zuhause sitzt er im Wohnzimmer und „beschwört die Lautsprecher“, wie Sven es liebevoll sagt. Sobald die ersten Töne erklingen, wippt er in der Hocke vor und zurück, der Körper im Rhythmus. Er beginnt zu lautieren – seine Art zu zeigen, dass er sich wohlfühlt und die Geräusche gern hat. Piet sitzt währenddessen im Flur und blickt auf die Kommode gegenüber der Treppe. An der Seitenwand hängt ein Spiegel auf seiner Augenhöhe. Er grinst sich selbst an und freut sich über die Spiegelung. Ines und Sven haben vor einiger Zeit bemerkt, was Spiegel für eine Reaktion bei den Zwillingen auslösen. Seitdem findet man sie überall im Haus.

19.00 Uhr: Der Tag neigt sich dem Ende zu. Piet und Jascha werden bettfertig gemacht. Auch jetzt geht es nicht nur um Pflege, sondern um Nähe. Jascha liegt auf dem Boden, Sven beugt sich über ihn und kitzelt ihn liebevoll mit seinem Bart an der linken Halsseite – beide lachen. Dieses Necken funktioniert immer. Ines sitzt daneben und beobachtet die zwei: „Ich habe immer wieder so kleine Genussmomente, wo mir das Herz überläuft, weil das gerade so eine süße Situation war.“

Der Alltag endet für heute, doch wie entstand diese eingespielte Routine?

Ines und Sven brauchen unabhängig voneinander ihre Freiheiten, um den Alltag meistern zu können. Ines geht in ihrer Freizeit tanzen. Sven fährt Fahrrad oder geht laufen. Sie haben erkannt: Die Balance und die nötige Auszeit – das brauchen sie, um als Team zu Hause stark zu sein. Eine wichtige Erkenntnis, die vieles ändern oder zumindest erleichtern kann. Es gilt die unterschiedlichen Bedürfnisse zu verstehen und einander die Freiheiten einzuräumen, damit es ein ausgeglichenes Verhältnis gibt.

Von außen hören sie oft: „Krass, wie ihr das schafft.“ Darauf antworten Ines und Sven aber, dass es für sie mittlerweile Normalität ist, das alles zu schaffen. Die Beziehung der beiden ist mit den Herausforderungen gewachsen. Sie haben den Blick dafür geschärft, was im Leben wirklich zählt. „Wir denken, das ist so wichtig, dass wir nicht die Verbindung zueinander verlieren, um für unsere Kinder da zu sein. Sie profitieren ja am Ende.“ Denn sie sind ohne Zweifel das wichtigste Bindeglied ihrer Familie. Aber auch Momente in denen alles zu viel wird und die Anstrengung zu spüren ist gehören dazu. Doch sie haben einen Weg gefunden mit dieser Belastung umzugehen und mit positiven Gedanken den Tag zu bestreiten. 

Woher sie diese Kraft nehmen? 

Die kurze Antwort lautet: Glaube. 

Die lange Antwort lautet: Vieles loslassen, abgeben und sich besinnen. In anderen Worten sagt Ines: „Mit Gottes Hilfe. Und einfach positiv bleiben. Es kommt aus dem Inneren und ich glaube, das macht auch ganz viel mit der Atmosphäre hier zu Hause. Positives Denken.“ Ines ist christlich aufgewachsen. Für sie spielt das Thema Religion schon länger eine präsente Rolle im Leben. Sven war nicht religiös, bevor er Ines kennenlernte. Doch mit der Zeit fand er ebenfalls seinen Weg zum Glauben. Auch für ihn ist das nun der Teil, der vieles zusammenhält. Den beiden ist es wichtig, Gott immer wieder bewusst ins Zentrum zu rücken und daran festzuhalten. Dadurch wird ihr Glaube zur Kraftquelle.

„Mit Gottes Hilfe. Und einfach positiv bleiben. Es kommt aus dem Inneren und ich glaube, das macht auch ganz viel mit der Atmosphäre hier zu Hause. Positives Denken.“

Ines Viebahn, auf die Frage, wie sie den Alltag meistert.

Ines Lieblingsvers, der sie schon länger begleitet, steht in Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen."

Leana Kubitzki

Ines Lieblingsvers, der sie schon länger begleitet, steht in Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen."

Leana Kubitzki

Für Familie Viebahn ist klar, dass Gott einen Plan für sie hat. Seit der Diagnose sind sie im Glauben gewachsen. Vor allem haben sie gelernt: „Kleinigkeiten zu schätzen oder nichts mehr als selbstverständlich zu sehen. Und sich weniger Sorgen zu machen. Es gibt so viel Potenzial bei uns, sich Sorgen zu machen. Wir haben gelernt, das nicht zu machen." 

Liebe ohne Worte

„Wie gerne würde ich aus Piet und Jaschas Mund hören: 'Mama, ich hab dich lieb'. Oder dass sie kommen und einen einfach so drücken, wie die Mädels das machen.“ Trotzdem ist die Liebe, die sie durch Gesten statt durch Worte bekommen, etwas ganz Besonderes. Die Jungs kommunizieren mit ihrer Mimik oder Gestik. Wenn sich eine Hand auf den Oberschenkel legt, der Ausdruck in den Augen der beiden zu sehen ist oder sie einfach nur lächeln – ehrlich, direkt und zugewandt. Und das reicht vollkommen.

Die Jungs haben auch untereinander eine besondere Verbindung. Manchmal legt einer dem anderen einfach die Hand hin. Ein stilles „Ich bin da“.

Ines Viebahn

Die Jungs haben auch untereinander eine besondere Verbindung. Manchmal legt einer dem anderen einfach die Hand hin. Ein stilles „Ich bin da“.

Ines Viebahn

Geschwister von beeinträchtigten Kindern werden oft als sogenannte „Schattenkinder“ bezeichnet. Die Gefahr besteht, dass sie übersehen oder emotional vernachlässigt werden. Häufig passiert dies, weil beispielsweise viel Aufmerksamkeit auf die Pflege der Geschwisterkinder gerichtet wird. 

Familie Viebahn hat noch zwei weitere Kinder. Doch sie wissen die Zeit mit jedem Kind auf ihre eigene Weise zu schätzen, damit die Bezeichnung „Schattenkinder“ hier nicht zur Realität wird. Wie Ines sagt: „Ich denke, wir machen es so gut wir können natürlich. Das ist unsere Motivation. Wir geben unser Bestes.“ Sie wissen, dass die Pflege von Piet und Jascha zeitintensiv ist. In diesen Momenten müssen Hedda und Isa zurückstecken. Dafür gibt es später einen Ausgleich. Während die Jungs sich ausruhen, gehört die Zeit den Mädels. Exklusivzeit mit jedem Kind ist hier der Schlüssel, um die Balance zu schaffen. Das Besondere ist auch: „Für die Mädels sind Piet und Jascha ja normal. Manchmal erzählt Hedda von ihnen, ohne dass sie gefragt wird. Sie erzählt aber immer so stolz von ihnen. Das finde ich dann so süß“, erzählt Ines mit einem Lächeln im Gesicht.

Zwischen Pflegealltag und Routinen lebt Familie Viebahn ein außergewöhnliches Leben, mit der Fähigkeit alles so anzunehmen, wie es ist. Dabei bleibt ihnen immer der Blick nach vorne – auf kleine Auszeiten und gemeinsame Erlebnisse. Nun stehen die Ferien vor der Tür. Eine Zeit, in der sie Momente mit allen Kindern genießen können. Auch ein Familienurlaub ist geplant. Solche Reisen sind selten, aber bedeutsam. Ihr letzter Urlaub war eine Delfintherapie für Piet und Jascha auf Curaçao. 

Während all dem Alltagstrubel und der Freude auf Familienzeit im Urlaub vergessen sie nicht, was sie zusammenhält: „Diese Fröhlichkeit und Freude, die wir als Familie haben, ist einfach da. Und ich denke mir, wie schön, dass es so ist. Es könnte ja auch verbittert und traurig sein... Nein, wir sehen eher das, was wir haben.“ 

Ines Viebahn

Während all dem Alltagstrubel und der Freude auf Familienzeit im Urlaub vergessen sie nicht, was sie zusammenhält: „Diese Fröhlichkeit und Freude, die wir als Familie haben, ist einfach da. Und ich denke mir, wie schön, dass es so ist. Es könnte ja auch verbittert und traurig sein... Nein, wir sehen eher das, was wir haben.“ 

Ines Viebahn