Psychische Störungen

Wenn die Zeit nicht alle Wunden heilt

Die Gefühlswelt von Menschen mit schizoaffektiver Störung ist oft am Rande des Aushaltbaren, nicht nur für die Betroffenen.
07. Mai 2018

Vera leidet unter einer schizoaffektiven Störung und hat gelernt damit zu leben. Eine Geschichte von Wahn und Halluzinationen – und einem Paar, dessen Liebe stärker ist als die Krankheit.

Es ist kurz vor drei. Ihre Hände zittern, während sie den Kaffee einschenkt. Man sieht die gelbe Tischdecke kaum mehr vor lauter Süßigkeiten und Schokoladenkeksen. In der Mitte steht eine Torte aus dem Supermarkt. Alles ist vorbereitet, perfekt platziert. Das redet sie sich immer wieder ein. Alles ist gut, alles ist gut. Veras Leben verläuft seit einigen Monaten in geordneten Bahnen – so scheint es zumindest. Heute kommen ihre Eltern zu Besuch, oder vielmehr, um mal wieder nach dem Rechten zu sehen.

Vera ist 24 Jahre alt; eine junge Frau in einem Sommerkleid, schwarzweiß gemustert. Ihr Gesicht erscheint schmal und ein wenig blass. Vera wirkt kindlich, fast schon zerbrechlich; wären da nicht die Tattoos, verteilt auf ihrem gesamten Oberkörper. Die Bilder und Muster auf den Unterarmen verdecken ihre Narben. Auf den ersten Blick sieht man ihr die Krankheit nicht an; trotzdem ist sie real. Vera spricht offen über ihre Erlebnisse. Was sie in den letzten Jahren durchgemacht hat, wünscht sie keinem. Diagnose: Schizoaffektive Störung mit bipolarer Komponente. Das klingt schlimm und verstörend. Nach etwas, dass irgendwie unvorstellbar ist. Noch immer sind schizophrene Erkrankungen in der Gesellschaft stigmatisiert. Dabei sind sie gar nicht so selten, wie man annimmt. In Deutschland ist etwa ein Prozent der Bevölkerung betroffen.

Was Menschen wie Vera fühlen und denken bleibt Außenstehenden verborgen. Eine schizoaffektive Störung ist eine Störung des Denkens, Fühlens und Handelns. Dabei mischen sich schizophrene Symptome, abwechselnd oder gleichzeitig, mit Symptomen der Depression und der krankhaften Hochstimmung, der Manie. Die Betroffenen verlieren den Bezug zur Realität, leiden an Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Wie ein Film vor dem inneren Auge, laufen gespenstige, unvorstellbare Szenen ab. Es gab Zeiten, da hielt sich Vera für die heilige Jungfrau Maria. In ihren Psychosen begegnete sie Göttern. Sie kamen in Gestalt anderer Menschen, gaben ihr Zeichen und verkündeten Botschaften. Mittlerweile geht es Vera besser, vielleicht so gut wie noch nie, sagt sie. Jedenfalls solange sie ihre Medikamente nimmt. Morgens und abends jeweils drei Milligramm Risperidon und 450 Milligramm Quilonum für eine stabile Stimmung. Vor dem Schlafengehen 400 Milligramm Quetiapin. Und bei Anspannung und Unruhe 25 bis 50 Milligramm Opiparomol. Die Medikamente bremsen Vera aus, dämpfen ihre Fantasie, machen sie müde. Aber seitdem sind die Halluzinationen weg und die wechselnden Phasen von Manie und Depression im Gleichgewicht. Nur wenn Vera nachts nicht schlafen kann, liegt sie wach im Bett, und sieht noch heute hässliche Fratzen vor den Augen. Verzerrte Gesichter, die blitzartig auftauchen und genauso schnell wieder weg sind.

Vera erzählt ihre Geschichte in geübtem Tonfall, sie hat sie schon oft erzählt, ihren Freunden, Therapeuten in der Psychiatrie, ihrem Heilpraktiker. Sie sagt, alles beginnt im Sommer 2013. Vera hat gerade ihr Studium aufgenommen und wohnt in einem Studentenwohnheim. Oft geht sie aus, trinkt Alkohol und raucht Joints. Sie ist beliebt, hat viele Freunde und gute Noten. Von außen betrachtet scheint ihr Leben perfekt. Das soll sich ändern. Nicht schlagartig, sondern nach und nach. Die Krankheit schleicht sich langsam in ihr Leben. Vera fühlt sich unter Druck, durch die Anforderungen im Studium belastet. Sie stellt sich die immergleichen Fragen: Bin ich gut genug? Schaffe ich das überhaupt? Was ist, wenn nicht? Ständige Angstzustände überrollen sie, bestimmen ihr Leben. Irgendwann kommen Zwangsgedanken hinzu. Vera ordnet ihr Zimmer nach festgelegten Regeln, hält es penibel sauber. Bevor sie aus dem Haus geht, kontrolliert sie mehrmals, ob der Herd ausgeschalten ist. Der Zwang breitet sich fast unmerklich auf immer mehr Bereiche ihres Lebens aus. Die Kontrollschleifen werden endlos. Vera kann nicht mehr. Trotzdem lässt sie sich nichts anmerken. Sie schämt sich zutiefst.

Ich war monatelang total depressiv, habe es niemandem gesagt – habe es sogar vor mir selbst geheim gehalten.“

Vera

Viel zu spät, erst als die Angststörung ihren Höhepunkt erreicht, vertraut sie sich ihren Eltern an. Ihre Mutter fällt aus allen Wolken, vereinbart sofort einen Termin bei einer Psychiaterin. Die Angststörung wird fachlich diagnostiziert. Für Vera, die sich monatelang selbst angelogen hatte, wie ein Schlag ins Gesicht. Das Ende der Ungewissheit. Während die Psychiaterin über Therapiemöglichkeiten und die medikamentöse Behandlung spricht, hört Vera schon nicht mehr hin. Der Wunsch zu sterben wird immer größer. Noch am selben Tag, am Montag, den 2. September 2013, beschließt Vera ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Sie trinkt eine halbe Flasche Wodka und hinterlässt einen Abschiedsbrief. Dann schneidet sie ihre Pulsschlagader auf, sorgfältig darauf bedacht, ihr Tattoo nicht zu verletzen. Es ist ein Schriftzug in lateinischer Sprache: „Carpe diem“. Das heißt übersetzt „Genieße den Tag“. Der Musik lauschend, liegt sie auf dem Bett und wartet auf den Tod. 20 Minuten würde es dauern, bis sie verblutet. Das hatte sie in einem Forum gelesen. Doch soweit kommt es nicht. Ihr kleiner Bruder findet sie, in ihrem Blut. Er ruft einen Rettungswagen.

„Ich kann mich nicht erinnern, welche Gefühle ich gehabt hatte. War ich froh gefunden worden zu sein? Ich habe es ernst gemeint, mit diesem Suizidversuch.“

Vera

Vera überlebt und wird in die Klinik eingewiesen: Geschlossene Psychiatrie, Station B17. Ihr Zustand bessert sich schnell. Sie ist euphorisch und voller Elan. Kurz vor Weihnachten wird Vera schon entlassen. Dass sie eigentlich eine Manie durchlebt, ist den Ärzten zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Wenig später kommt der Schock. Im Januar 2014 versucht sich Vera ein zweites Mal umzubringen. Wieder schneidet sie ihre Pulsschlagader auf, dieses Mal am anderen Arm. Sie kommt zurück in die Klinik. Diagnose: Bipolare Störung. Charakteristisch für dieses Krankheitsbild sind extreme Gefühlsschwankungen zwischen Manie und Depression. Veras Gefühlswelt ist zu dieser Zeit völlig wechselhaft. In manischen Episoden schwebt sie auf Wolke 7. Sie sagt, es ist, als würde man Drogen nehmen. Man geht viel feiern, schläft kaum, ist aber auch total gereizt. Das liegt daran, dass der Körper zu viele euphorisch machende Botenstoffe wie Dopamin ausschüttet. In grenzenlosem Überschwang gibt Vera ihr ganzes Geld aus, macht große Pläne. Je intensiver und länger die Manie anhält, desto schlimmer wird die darauffolgende Depression, so wie auch bei einem größeren Feuer mehr Asche zurückbleibt. Immer wieder fällt Vera zurück in ein tiefes Loch. Sie ist tieftraurig, schläft tagelang und will niemanden sehen. Die Selbsttötungsgefahr bei manisch-depressiven Patienten ist wegen der großen Belastung enorm.

Es folgen Therapien, bis Vera irgendwann nach Hause darf. Besser geht es ihr nicht. Auf die ersten beiden Suizidversuche folgen drei weitere. Der dritte so schwer, dass sie nur knapp überlebt. Sie hat eine Arterie erwischt, muss notoperiert werden. Die Ärzte sagen, sie hat Glück, dass sie ihren Arm überhaupt noch bewegen kann. Geblieben ist eine 30 Zentimeter lange Narbe, die Vera jeden Tag daran erinnert. Heute verdeckt ein Tattoo die Stelle: Eine große Schlange, im Hintergrund Rosen. Für Vera ein Mahnmal. Sie ist weiter in Behandlung, aber scheinbar nicht in der richtigen. Keiner kann sagen, warum eine so junge Frau, die mitten im Leben steht, plötzlich krank wird. Vermutlich spielen psychische und soziale Faktoren eine Rolle. Aber auch Drogen können der Auslöser für eine schizoaffektive Störung sein. Im Schnitt sind die Betroffenen bei der Ersterkrankung älter als 30 Jahre. Doch können schizoaffektive Störungen auch bei jüngeren Menschen auftreten. Veras ist bei weitem kein Einzelfall. In der Klinik lernt sie Arthur kennen, mit dem sie lange Gespräche führt, alle möglichen Gespräche. Er ist so alt wie sie und auf der selben Station. Auch er leidet an einer schizophrenen Erkrankung: Paranoide Schizophrenie. Es ist die häufigste und bekannteste Form. Kennzeichnend für diesen Subtyp sind vor allem Symptome wie die Wahrnehmung von Stimmen und Verfolgungswahn. Von Tag eins an sind Arthur und Vera für einander da, sie verstehen sich. Weil sie wissen, was der andere fühlt. Sie erleben Höhen und Tiefen, wie Vera zwischen Manie und Depression.

Dass die Erkrankung auch schizophrene Züge annehmen wird, ahnen die Ärzte zu diesem Zeitpunkt nicht. Durch eine Überdosis Antidepressiva gerät Vera das erste Mal in eine Psychose. Ein Zustand, in dem Betroffene den Bezug zur Realität verlieren. Stimmen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen ergreifen Kopf und Gedanken. Arthur erinnert sich noch genau an diesen Tag: „Sie ist um 5 Uhr aufgestanden, hat geredet, ohne Ende. Ich habe mir Sorgen gemacht, hatte Angst sie könnte sich etwas tun. Vom Balkon springen oder so.“ Vera ist inmitten einer psychotischen Manie, wird in die Klinik gebracht. Dort wird sie in die Isolierzelle gesperrt. Sie erinnert sich an graue, niedrige Wände. Ohne Farben, ohne Hoffnung. Viele Tage verbringt sie in der Zelle, ist völlig auf sich alleine gestellt und überfordert. Arthur darf sie nicht sehen, nicht mit ihr sprechen.

„Ich war extrem verwirrt und meist auch nicht mehr ansprechbar. Ich goss mir Suppe über den Kopf, schmierte mich mit Essen voll und zerriss meine Kleidung. Ich habe geschrien, getobt und geweint.“

Vera

Vera ist kurz davor durchzudrehen. Die Energie ihrer Manie katapultiert sie in eine andere Welt, in der Wahngedanken und Realität ineinander verschwimmen. Sie halluziniert, sieht in einem anderen Patienten die Inkarnation des Todes. Vor Angst läuft sie weg. Paradox, findet sie, da sie sich den Tod schon so oft herbeigesehnt hatte. Die akute Phase der Psychose dauert etwa zwei Wochen und wird durch eine Überreaktion des Gehirns ausgelöst, basierend auf biochemischen Vorgängen. Vera hat plötzlich Ideen und Einsichten, die ihr im normalen Zustand nicht zugänglich waren. Sie schreibt und malt, geht immer intensiver in ihrer künstlerischen Arbeit auf. In ihren Bildern und Zeilen reflektiert sie Ihre Gedanken, unausgesprochene Worte. Es entstehen dunkle, zwiespältige Figuren, aber auch farbige, tänzerische Silhouetten.

Mit der Kunst kann Vera ausdrücken, wofür ihr sonst die Worte fehlen.

Vera erkennt neue Bedeutungen in den Dingen und fühlt sich wie erleuchtet. Mit einem Mal glaubt sie die Grundzüge des Buddhismus zu verstehen und stellt Gleichnisse auf, ohne sich jemals mit dieser Religion befasst zu haben. Eine solche psychospirituelle Krise ist typisch für das Krankheitsbild der Schizophrenie. Die Ursache dafür liegt im Dunkeln. Früher war Vera kein besonders gläubiger Mensch, meint sie. Doch seit ihrer Diagnose denkt sie viel über das Leben nach, fragt sich, wer darüber bestimmt.

Trotz all des Schreckens, beschreibt Vera die Psychose als etwas Magisches. Sie sagt, sie hat ihr die Augen geöffnet. Für die Ärzte war die Psychose ausschlaggebend, um die korrekte Diagnose zu stellen. Vera wird mitgeteilt, dass die schizoaffektive Störung zwar nicht heilbar, jedoch gut mit Medikamenten behandelbar ist. Fast zwei Jahre ist das jetzt her. Mittlerweile wohnt sie weit weg, hat sich von ihrem früheren Umfeld entfernt. Über 500 km liegen zwischen Vera und ihrer Familie. Obwohl ihre Eltern vor Angst und Sorge außer sich sind, akzeptieren sie diese Entscheidung. Vera ist emotional stabil und hat ihren Alltag im Griff. Alles geht seinem gewohnten Ablauf. Mit Arthur wohnt sie in einer kleinen 2-Zimmerwohnung. An den Wänden hängen Bilder von dunklen Gestalten, die sie während der Therapie gemalt hat. Sie wirken echt und unverfälscht, sind ein fester Teil von ihr. Die Kunst, sagt Vera, hat ihr schon oft geholfen. Ihr Ziel ist es Kunsttherapeutin zu werden, um anderen Mut zu machen. Irgendwann später möchte sie heiraten und Kinder haben. Vera ist sich bewusst, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Ein Weg, der schon viele Narben hinterlassen hat.

Kaum sind ihre Eltern weg, wird es still im Raum. Einen Moment lang tut Vera noch so, als wäre alles in Ordnung. Dann steht sie auf und räumt die leeren Teller ab. Die gekaufte Torte hat niemand angerührt.