Schauspiel

Ein Rodeo europäischer Vielfalt

Stefania Zora und Timos Papadopoulos in „After the Campsite – From Now On“.
02. Juli 2018

„6x20‘ – A Trip Through Europe“ behandelt aktuelle europäische Themen und dennoch behält der Abend eine gewisse Leichtigkeit. Die Furcht vor einer moralgetränkten Inszenierung ist unbegründet. Langeweile kommt keine auf, denn Europa zeigt sich von seiner abwechslungsreichen Seite. Eine Rezension.

Am dritten Tag des Festivals „The Future of Europe“ bringt das Schauspiel Stuttgart mit „6x20‘ – A Trip Through Europe“ eine Uraufführung auf die Bühne. Hinter dem scheinbar kryptischen Titel verbirgt sich ein Theaterabend, der sich aus vielfältigen Perspektiven mit Europa beschäftigt. Wie der Name andeutet, handelt es sich nicht um eines, sondern sechs Stücke á 20 Minuten. In Kooperation entwickelten sechs Theater aus sechs Städten und fünf Ländern sechs Stücke, die zusammen ein buntes Bild erschaffen. Die künstlerische Leitung übernahm der Stuttgarter Intendant Armin Petras und die Regie jeweils die lokalen RegisseurInnen.

Mehr als nur bunt

Eine Rodeo-reitende Europa im Glitzerbadeanzug, zwei Anzugträger mit Steinen im Mund und nassen Haaren, eine durch Uneinigkeit auf die Probe gestellte Liebe, die auch ein Basilikum-Busch nicht zu retten vermag, 13 von Papiersternen rezitierende Kinder, eine Ehefrau, die ihren Mann mit einer Tomaten züchtenden Deutschen fremdgehen sieht und drei stolzierende Gorillas. So pointiert hört sich „6x20“ nach heiterer unbeschwerter Unterhaltung an. Ist es aber nicht. Denn auch wenn die sechs Stücke an mancher Stelle zum Schmunzeln oder gar Lachen anregen, schaffen sie es, zentrale Probleme aufzugreifen.

Zwischen Sorge und Vision

Die beiden Anzugträger aus der Athener Inszenierung „Domestizierung – Eine Allegorie“ zeigen mit einfachen Mitteln wie einer Plastikfolie, Sand und Wasser das Kentern eines Schlepperbootes und seine katastrophalen Folgen. Die zu Anfang erwähnten Steine, die eine Zeit lang in den Mündern der Schauspieler stecken und die sie bereitwillig an die ZuschauerInnen verteilen, bieten Interpretationsspielraum. Geht es um die Last in Form von traumatischen Erlebnissen, die getragen wird? Um Menschen, die zum Schweigen gebracht werden oder deren Geschichte schlichtweg niemanden zu interessieren scheint? Alles plausible Ansätze.

Sobald die Schauspieler innehalten, werden kurze Interview-Ausschnitte eingespielt, in denen Geflüchtete von Ausgrenzung, Einsamkeit, dem Bedürfnis nach Verständnis und der Sehnsucht nach dem Alltag in ihrer Heimat berichten.

Kooperierende Theater und Zusammenfassung der Stücke

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Die teilnehmenden Theater mit kurzer Inhaltsübersicht in Hörform. | Quelle: Frederik Simon Möhrer

Im Verlauf des Abends werden europäische Klischees aufgegriffen und überzeichnet – zum Beispiel, dass Italiener schnell reden und kitschig-romantisch wären und man sich auf die „soliden“ Deutschen verlassen könne. Aber auch an Ernsthaftigkeit mangelt es nicht, denn es wird unter anderem auf die Flüchtlingskrise und deren gegensätzliche Resonanz bei der europäischen Bevölkerung eingegangen.< ß/>

Wie zum Beispiel in dem Stück „After the Campsite – From Now On“ aus Thessaloniki, das auf einem Workshop mit jungen Geflüchteten basiert. Der Weg eines jungen Paares von Griechenland nach Deutschland steht im Mittelpunkt. Es gibt Probleme an der Grenze. Und dennoch tanzen die SchauspielerInnen, singen und machen Musik. Aussichtslosigkeit scheint von Hoffnung abgelöst zu werden.

Nicht nur Ist-Zustände werden dem Publikum präsentiert. In „Die Sterntaler“ zeichnen 13 Stuttgarter Kinder im Alter zwischen acht und 13 Jahren eine positivere Zukunft Europas, indem sie ihre Erwartungen und Sorgen teilen. Die glitzernden Sternensänger, die die Inhalte ihres Stücks selbst entwarfen, gestalten ein erstaunlich differenziertes Bild Europas. Sie zeigen auf, wie es ist, wie es sein sollte und wie es sein wird, wenn Völkerverständnis und Umweltschutz fehlschlagen. Bei einer solchen Weitsicht stellt sich die Frage, ob es um die Welt nicht besser bestellt wäre, wenn sie von Kindern regiert würde.

Auch die Stücke aus Italien, Frankreich und Spanien hinterlassen Spuren. Sie eint eine humorvolle Herangehensweise mit teilweise Sitcom-ähnlichem Ausmaße, was das Publikum mit Lachern würdigt. Der französische Beitrag „Birgit – EU Garantie“ treibt das Ganze auf die Spitze. Denn die sich wiederholenden Dialoge des Ehepaars ziehen sich unnötig in die Länge.

Vielfalt als Gemeinsamkeit

Bei so vielen unterschiedlichen Vorstellungen von Europa fragt man sich, wo da die Gemeinsamkeiten, ja der rote Faden bleibt. Aber ist das nicht offensichtlich? Denn die Vielfältigkeit des Kontinents springt förmlich ins Auge. Viele europäische Länder verbindet eine gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Nähe. Der Tenor der Aufführung ist die Gemeinschaft europäischer Vielfalt in der Gegenwart, als auch in der Zukunft. Der Abend zeigt, wozu europäische Zusammenarbeit bereits im kulturellen Bereich fähig ist. Aber wie steht es um die Bühne der realen Welt?

Was die Stücke auf den ersten Blick verbindet, ist der Einsatz von Musik und Geschichten. Wie beispielsweise die Sage von Zeus und Europa, oder das grimmsche Märchen „die Sterntaler“. Was sie unterscheidet, ist die Sprache. Denn es wird in Muttersprache gesprochen und durch Übertitel ins Englische und Deutsche übersetzt. Obwohl dies die Vielfalt unterstreicht, lenkt der hilfesuchende Blick nach oben vom Geschehen auf der Bühne ab.

Die ungewöhnliche Kürze der einzelnen Stücke endete nicht in unabgeschlossenen Geschichten, sondern verleiht eine ganz eigene Dynamik. Für Theaterneulinge mag der Abend einen guten Einstieg bieten – für Menschen, die klassische Inszenierungen gewöhnt sind und herkömmliche Dramenstrukturen schätzen, mag sich das Ganze fremd anfühlen.