Echte Männer sind ... stark?!
1984 singt Herbert Grönemeyer die Zeilen „Außen hart und innen ganz weich […] Wann ist ein Mann ein Mann?“ und beschreibt damit ein Dilemma, von dem man(n) meinen sollte, es vierzig Jahre später überwunden zu haben. Doch die Realität sieht anders aus. Patriarchale Vorstellungen vom Mannsein erleben auf Social Media gerade ihr Comeback und sind gefährlicher denn je.
Zwischen Andrew Tate & Performative Males
Zentrales Gesicht dieser Entwicklung ist Andrew Tate. Mit elf Millionen Follower*innen auf X propagiert er eine Männlichkeit, die sich über viel Geld, Frauen und Stärke definiert. Er ist einer der bekanntesten Vertreter der sogenannten Manosphere.
Manosphere: Die Manosphere fasst verschiedene antifeministische Online-Communities zusammen. Sie definiert sich darüber, Machtansprüche über Frauen und Mädchen zu erheben und misogyne Werte zu propagieren.
Quelle: UN Women.
Warum ihre frauenfeindlichen und gewaltverherrlichenden Botschaften wirken? Weil Jugendliche mehrere Stunden am Tag auf Social Media verbringen und zugleich Gefühle wie Einsamkeit zunehmen. 63 Prozent der Männer zwischen 18 und 35 Jahren geben an, sich manchmal einsam zu fühlen. Die Manosphere nutzt diese digitalen und emotionalen Umstände: Sie schafft Gemeinschaft. Ihr Publikum wird immer größer, immer jünger und somit beeinflussbarer – leichtes Spiel für radikale Inhalte. Es ist zudem fast ausschließlich männlich.
Was sich seit Grönemeyers Hit verändert hat, ist das Hinzukommen neuer patriarchaler Vorbilder. Die „Performative Males“, die es verstehen, in den richtigen Momenten für Gleichberechtigung einzustehen, um auf dem heterosexuellen Datingmarkt weiterhin Erfolg zu haben. Ein Wolf im Schafspelz und ein weiteres schlechtes Vorbild für Jungs.
All das ist mehr Bestandsaufnahme als Vorwurf, wenn auch keine Entschuldigung. Denn der Ursprung liegt tiefer:
Das Patriarchat: die wahre „Krise der Männlichkeit“
In der Manosphere ist häufig von einer „Krise der Männlichkeit“ die Rede, angeblich ausgelöst durch den heutigen Feminismus, der Frauen bevorzuge. Die eigentliche „Krise der Männlichkeit“ liegt jedoch woanders, nämlich im Patriarchat. Im Sandkasten lernen Jungs bereits, dass Gefühle „für Mädchen“ seien: „Echte Männer weinen nicht!“. Aus solchen früh vermittelten Rollenstereotypen folgt später ein emotionaler Druck, der sich in erschreckenden Zahlen ausdrückt: Drei Viertel aller Alkohol- und Drogenabhängigen sind Männer und fast dreimal so viele Männer wie Frauen nehmen sich in Deutschland das Leben.
Warum das bis heute kein Weckruf ist? Weil einige wenige – zumeist weiße Männer – vom Patriarchat profitieren, indem sie andere unterdrücken. Ein Ansatz von männlicher Gegenwehr und Verletzlichkeit wird im Keim erstickt: „Unmännlich“.
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Don’t protect your daughter, educate your son – also wirklich
Gleichstellung gilt bis heute als „Frauensache”. Doch das ist nur Symptombekämpfung, denn die Auflösung patriarchaler Muster gelingt nur, wenn alle Geschlechter beteiligt sind. So würden langfristig auch Jungs und Männer davon profitieren. Natürlich ist es zunächst unangenehm, die eigenen Privilegien zu reflektieren, besonders wenn man(n) mitten in der Pubertät ist. Jedoch ist genau das der Schlüssel, um den Tates dieser Welt die Projektionsfläche zu nehmen.
Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Konzept zu neuen Männlichkeiten, und zwar früh genug, flächendeckend und verpflichtend. Dabei geht es nicht darum, mit dem Finger auf Jungs zu zeigen oder die Feminismus-Keule zu schwingen. Es geht darum, ins Gespräch zu kommen und Räume zu schaffen, in denen junge Männer Zugang zu Emotionen finden und Rollenbilder hinterfragen. Erste Ansätze hierzu gibt es bereits. In Großbritannien werden seit dem Serienerfolg von „Adolescence“ an Schulen Workshops mit achten Klassen durchgeführt, bei denen die Workshopleitenden mit Jungen über genau diese Themen sprechen. Ruhig und auf Augenhöhe. In Deutschland gibt es zarte Versuche dergleichen, etwa von den Landesarbeitsgemeinschaften der Bundesländer für Jungen*- und Männer*arbeit, doch bisher bleibt es ein Nischenthema.
Am Ende können genau solche Angebote die langersehnte Antwort auf Grönemeyers Frage liefern: Junge Männer müssen die Möglichkeit erhalten, sich von starren Rollenerwartungen freizumachen und gesunde Vorbilder zu haben, die nicht immer stark, sondern auch verletzlich sind. Dann ist ein Mann ein Mann.
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