Psychische Hilfe 7 Minuten

Grenzen der Psychischen Rettung

In einem PSNV Einsatzwagen sitzt ein Betroffener der von einer Einsatzkraft betreut wird. Die Einsatzkraft gibt ihm eine Flasche Wasser. Der Wagen gehört zur Johanniter Unfallhilfe und hat ein Blaulicht auf dem Dach.
Das KIT Stuttgart hat wie andere Rettungsdienste einen Einsatzwagen mit Blaulicht | Quelle: Juliane Pham

Hinweis: Dieser Artikel thematisiert psychische Krisen, Suizidalität und den Umgang mit traumatischen Ereignissen. Wenn du dich mit diesen Themen aktuell nicht wohlfühlst oder selbst betroffen bist, lies den Text bitte nicht allein oder überspringe ihn. Hilfsangebote und Anlaufstellen findest du am Ende des Artikels im Infokasten.

10. Dez. 2025

Wer in Deutschland die 112 wählt, vertraut auf ein Versprechen: Hilfe wird kommen. Zumindest gilt das für Notfälle körperlicher Art. Für Krisen seelischer Art sieht es nicht immer so aus. Hier kommt es darauf an, woran man leidet. Eine Analyse der psychischen Versorgungslage in Deutschland.

Stell dir vor, dein Leben gerät von einer Sekunde auf die Nächste aus der Bahn. Du hast vielleicht einen Unfall ansehen müssen oder eine Todesnachricht erhalten. Damit du in diesen Momenten inneren Chaos nicht alleine bist, gibt es in Deutschland die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV). Sie macht da weiter, wo die medizinische Versorgung aufhört und hilft, dich mental zu stabilisieren. Neben dem Rettungsdienst und der Feuerwehr ist sie inzwischen eine feste Säule des Bevölkerungsschutzes geworden. 

Erfolgsgeschichte: Erste Hilfe für die Seele

Die Einsatzkräfte der PSNV, oft bekannt als Kriseninterventionsteam (KIT) oder Notfallseelsorge, sind durch ihre lila Warnwesten zu erkennen. Michael Kloss, Leiter des KIT Stuttgart, beschreibt ihre Rolle als „Freunde auf Zeit“. Dabei leisten die Einsatzkräfte mehr als nur den mentalen Beistand. Sie bringen Struktur ins Chaos, aktivieren deine Familie oder Freunde und sorgen dafür, dass du wieder handlungsfähig wirst. Der Fachbegriff dafür ist psychosoziale Akuthilfe (PSAH).

Was ist eigentlich die PSNV?

PSNV (Psychosoziale Notfallversorgung) ist das Gesamtsystem aller Maßnahmen zur Prävention und Versorgung bei psychisch belastenden Notfällen. Sie ist Teil des Bevölkerungsschutzes und gliedert sich in zwei Bereiche:

  • PSNV-B (Betroffene): kümmert sich um Zivilisten (Angehörige, Hinterbliebene, Zeugen). Das sind die klassischen Teams der Krisenintervention (KIT) oder Notfallseelsorge. Sie leisten Psychosoziale Akuthilfe (PSAH).
  • PSNV-E (Einsatzkräfte): ist für das Personal von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst zuständig, um belastende Einsätze zu verarbeiten.

Quelle: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe

Das System zeichnet sich durch die enge Einbindung in die 112-Rettungskette aus. Bei Notrufen mit Stichworten wie „Person unter Zug” oder „Reanimation mit Kind”, ist klar: Ein so außergwöhnlich belastendes Erlebnis kann eine übliche Person wahrscheinlich nicht selber bewältigen. Dann alarmiert die Leitstelle nicht nur den Rettungsdienst, sondern parallel auch die PSNV. 

Ihr Anspruch an ihre eigene Arbeit ist hoch. Obwohl in der PSNV fast nur Ehrenamtliche arbeiten, sind bundesweit mindestens 100 Schulstunden Theorieunterricht Pflicht. In der Praxis ist das oft deutlich höher. Die Notfallseelsorge in Stuttgart verlangt laut Leiter Andreas Groll 320 Stunden. Das entspricht etwa sechs Wochen Vollzeitarbeit, gefüllt mit Theorie, Klinik-Praktika und begleiteten Einsätzen.

Die fachliche Abgrenzung: gesund vs. erkrankt

Doch das System hat klare Grenzen. Für die PSAH haben sich alle großen Hilfsorganisationen auf einen gemeinsamen Standard geeinigt. Darin wird festgelegt, wann eine Hilfeleistung erfolgen soll – und wann nicht. Die Akuthilfe sei für Menschen konzipiert, die eigentlich psychisch gesund sind und durch ein externes Ereignis, wie zum Beispiel einen Unfall oder Todesfall, in eine Ausnahmesituation geraten. Explizit ausgeschlossen sind in der Regel Einsätze bei akuten psychiatrischen Notfällen, Drogenproblemen oder wenn jemand unmittelbar suizidgefährdet ist.

Sebastian Hoppe, Forscher an der LMU München und erfahrener Kriseninterventionsleiter, erklärt das anhand von Schutz und Kompetenz: „Akute Suizidalität ist in der Regel ein Hinweis auf eine zugrunde liegende psychische Erkrankung. Entsprechend wäre eine Betreuung durch PSAH-Teams nicht ausreichend und auch nicht verantwortbar.“ Nachvollziehbar, denn ehrenamtliche Einsatzkräfte haben trotz hoher Ausbildungsstandards keine therapeutische Vollausbildung. In solchen Fällen würde eine Betreuung nicht nur Patienten, sondern auch die Einsatzkräfte selbst belasten.

Die Grenze der Zuständigkeit 

Die PSNV hilft bei:

  • Betreuung von Angehörigen nach Todesfällen
  • Betreuung von Augenzeugen nach Unfällen
  • Überbringen von Todesnachrichten (gemeinsam mit der Polizei)

Sie ist in der Regel nicht zuständig bei:

  • suizidalen Krisen
  • akutpsychatrischen Krisen
  • akutem Suchtmittelmissbrauch
  • Deeskalation im Zusammenhang mit polizeilichen Maßnahmen
  • medizinischen Notstände

Quelle: AG PSAH

Die strukturelle „Lücke“

Diese Abgrenzung ist in der Theorie sauber, trifft aber auf eine andere Praxis: Notrufe unterscheiden sich nicht nach Leitlinien. Wählst du in einer psychischen Krise die 112, greift die reguläre medizinische Rettungskette. Notfallsanitäterin Mira Meschenmoser beschreibt die Realität dieser Einsätze: Der Rettungsdienst ist auf körperliche Notfälle, Stabilisierung und Transport ausgelegt. Für eine stundenlange Betreuung vor Ort fehlt es im medizinischen System schlicht an Ressourcen und Schulung. Für Angehörige kommt die PSNV, die Zeit hat und bleiben kann. Für psychiatrische Patient*innen gibt es kein vergleichbares System. Sie sind „zu krank“ für die ehrenamtliche PSNV, aber nicht immer „krank genug“ für die Zwangseinweisung in eine Klinik.

Eine Grafik die zeigt welche Rettungsorganisation bei einem 112 Notruf von der Leitstelle alarmiert wird. Bei medizinischen Notfällen kommt ein Rettungswagen, Notärzt*innen, Notfallsanitäter*innen. Bei seelischen Ausnahmesituationen kommt die PSNV, meist das KIT oder die Notfallseelsorge und leistet PSAH. Bei akuten psychischen Krisen kann nur der Rettungswagen in Begleitung von Polizei kommen.
In verschieden Notfällen kommen verschiedene Helfende. Diese Infografik wurde in Canva erstellt.
Quelle: AG PSAH, aufgearbeitet durch Juliane Pham

Hoppe betont, dass es diese Lücke eigentlich nicht geben dürfte: „In solchen Situationen werden unverzüglich Fachkräfte hinzugezogen, die für den Umgang mit psychiatrischen Krisen ausgebildet und rechtlich befugt sind.“ In der Praxis versorgen diese jedoch meistens nur stationär oder telefonisch, im Gegensatz zu den mobilen Einsatzteams der PSNV. Das erschwert bei einem Notruf ihre Einbindung in die Rettungskette. Sven Lehmann, Leiter der Integrierten Leitstelle Stuttgart, bemüht sich in solchen Fällen um eine nahtlose Anbindung. Er behält Patient*innen in der Leitung und verbindet sie telefonisch direkt an einen Fachdienst, wie z.B. den Krisendienst Stuttgart. Bundesweit gibt es dazu noch keinen Standard.

Herausforderung Qualitätssicherung

Es stellt sich die Frage, wie gut dieses System funktioniert. Seit über 10 Jahren ist die Qualitätssicherung eine grundlegende Leitlinie in der PSNV. Das wurde in einem langen Prozess unter der Leitung des Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe festgelegt. Doch auch hier trifft die Theorie auf eine komplexe Realität. Forschung in diesem Bereich ist schwer, weil man extrem belastete Menschen aus ethischen Gründen eigentlich nicht befragen darf. In den wenigen zulässigen Fällen kann es zusätzlich zu einer Verzerrung der Daten kommen: „Es ist wahrscheinlich, dass Betroffene, die mit der erhaltenen Unterstützung eher zufrieden waren, überproportional an der Studie teilgenommen haben“, erklärt Hoppe über seine eigene Wirksamkeitsstudie. Wer unzufrieden oder psychosozial instabil ist, tauche in den Daten seltener auf. Dadurch ist es schwer objektiv einzuordnen, welche Maßnahmen wirksam sind und an welchen Stellen es noch Verbesserung braucht.

Ein spezialisiertes System mit Optimierungsbedarf

Was bedeutet das konkret für dich? Musst du dir jetzt Sorgen machen, dass dir eventuell nicht geholfen wird? Trotz aller fachlichen Abgrenzungen wirst du immer versorgt werden. Die PSNV wird dich betreuen, auch wenn du eine depressive Erkrankung hast. Rettungskräfte werden dir beistehen, auch wenn sie für medizinisches zuständig sind. Wenn der Notfall ruft, helfen sie immer so gut wie es ihnen möglich ist. Die Herausforderung für die Zukunft liegt darin, eine bündige Schnittstelle zu schaffen. Auch psychische Erkrankungen müssen zuverlässig und nahtlos versorgt werden. Sei es durch eine bessere Integration von Fachdiensten in die 112 oder durch spezialisierte Einheiten im Rettungsdienst. Am Ende zählt für Betroffene nicht die Zuständigkeit, sondern dass Hilfe kommt.

Wohin bei psychischen Krisen?

116 117: Ärztlicher Bereitschaftsdienst (Vermittlung von Hilfe, wenn Praxen zu sind).
0800 111 0 111: Telefonseelsorge (24/7, anonym).
Sozialpsychiatrische Dienste: Lokale Hilfsangebote (Suche: Krisendienst + Deine Stadt).
112: Bei akuter Lebensgefahr bleibt der Notruf immer die richtige Wahl.