Prokrastination

Was ich heute könnt' besorgen, verschiebe ich lieber auf morgen

„Nur noch eine Folge, dann erledige ich meine Arbeit“, denke ich und drücke nochmal auf den Play-Button.
02. Febr. 2022
Menschen gehen sich manchmal selbst auf die Nerven. Wir machen uns das Leben schwer, indem wir uns im Weg stehen. Ein Beispiel dafür ist das Prokrastinieren. Eine Kolumne.

Das Blätter-Chaos auf meinem Schreibtisch schaut mich verachtend an. Das Wäschestück, das mit einem Zipfel aus dem überfüllten Wäschekorb hängt, schreit: „Wasch mich!“ und meine To-Do-Liste bewirft mich zusätzlich mit Uni-Aufgaben. Shit, bis wann muss ich das abgeben? Ich habe noch zwei Tage Zeit. Na gut, ich mach‘ jetzt erstmal etwas anderes, das ich auf meiner Liste abhaken kann: Geschirr spülen. Und dann muss ich ja noch den Papiermüll wegfahren. Wie bei einer viel zu stark alkoholgetränkten Schwarzwälder Kirschtorte picke ich mir nur die obersten Kirschen herunter.

Aufschieben ohne Gewissensbisse

Wer prokrastiniert, schiebt sich die unangenehmen Aufgaben bis kurz vor die Deadline auf und wickelt – wenn überhaupt – derweil andere Aufgaben ab, die weniger unangenehm sind. Nach dem Motto: „Ich habe ja noch Zeit.“ Und schließlich hat man ja etwas gemacht. So kann man sich das Ganze schönreden und die Aufgabenbewältigung etwas angenehmer gestalten.

Aber das ewige Aufschieben hinterlässt Spuren: Zeitdruck, Ärger, Wut und Stress. Man beginnt, an sich zu zweifeln: Wieso kann ich die Dinge nicht einfach gleich erledigen? Stattdessen hebe ich mir lieber die schwerste Aufgabe bis zum Schluss auf. Dabei ist es doch sinnlos, sich nicht zuerst vom schwersten Ballast zu befreien. So wie bei der Eat-that-frog-Methode von Brian Tracy, einem Motivationsredner. Man hakt zuerst die aufwändigste Aufgabe ab und macht sich danach an die leichten To-Dos. Warum sie so heißt: Müsste man einen Frosch essen, würde man das lieber gleich hinter sich bringen und nicht damit warten. Doch ich sitze lieber mit meinem besten Freund Netflix auf dem Sofa und esse ein Stück Pizza statt einem Frosch.

Verleugnung und fröhliches Ignorieren

Ein Nebenprodukt von Prokrastination ist Verleugnung. Als hätte man eine rosarote Brille auf, die einem weismachen will, dass man heute einiges geschafft hat. Man konnte ja so viel von der Liste streichen und hat so viel erledigt – obwohl man genau weiß, dass man sich damit keinen Gefallen tut. Denn die Zeit, die man nicht nutzt, bekommt man nicht wieder. Ob früher oder später: Die Torte muss aufgegessen werden! Schließlich kann man das auch in kleinen Häppchen machen. Dann sind die gesetzten Ziele auch realistischer und greifbarer. Doch meistens möchte ich es nicht einsehen und es scheint, als mache ich mir gerne das Leben schwer.

Es gibt viele Methoden und Anleitungen, wie man mit diesem Problem besser umgehen kann. Zum Beispiel sollte man Ablenkungen vermeiden, indem man sein Handy stumm schaltet. Außerdem gibt es die ALPEN-Methode von Lothar J. Seiwert, einem Zeitmanagement-Experten. Sie steht für Aufgaben notieren, Länge einschätzen, Pufferzeiten einplanen, Entscheidungen treffen und Nachkontrolle. Die klingt mir aber zu anstrengend, sodass ich fröhlich meine Serie weiter binge-watche und den Fakt ignoriere, dass ich deshalb später sehr viel Stress haben werde.

Vielleicht können einige disziplinierte Nicht-Prokrastinant*innen hier gar nicht mitreden. Sie leben nach dem Motto: „Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen“. Doch ich verschiebe meine Aufgaben sehr gerne mal auf morgen. Oder auch auf übermorgen. Doch am Ende muss ich die ganze Schwarzwälder Kirschtorte essen, nicht nur die kleinen, süßen Kirschen.

In der zweiten Folge dieser Kolumne geht es um Perfektionismus.