Waldkindergarten

Kindheit unter Bäumen

"Natur entdecken. Entwicklung fördern. Freiheit erleben." ist der Leitspruch des Waldkindergartens Astrid Lindgren. | Quelle: Lena Wilhelm
26. Sep 2025

Was passiert, wenn Kindergarten ohne Wände gedacht wird? Ein Besuch im Waldkindergarten Rotenberg zeigt, wie Kinder hier zwischen Freiheit und Struktur aufwachsen.

Die Sonne bricht durch das Blätterdach und legt Flecken auf den Weg. In der Luft hängt noch der Geruch von feuchtem Moos. Ein kühler Wind zieht durch das Tal, als ich kurz vor acht an einem Freitag im August den Hang zum Waldkindergarten Rotenberg hinaufgehe. Auf dem Weg treffe ich Birgit und Kyoto. Birgit arbeitet seit zwei Jahren als Integrationskraft im Kindergarten. Kyoto kommt aus Japan, seit einem Jahr macht er hier seine Ausbildung als Erzieher. Sie wirken vertraut mit dem steilen Weg, sprechen über den bevorstehenden Tag, während wir gemeinsam die letzten Meter zurücklegen. Oben, auf einer Wiese, taucht ein kleines Holzhaus im Schwedenstil auf. Birgit und Kyoto öffnen die Türen, holen routiniert Bänke und Tische auf die Terrasse. Wenige Minuten später treffen auch die Erzieherinnen Susanne und Simone ein. Susanne nimmt die Liste der angemeldeten Kinder zur Hand, wirft einen schnellen Blick darauf. „Heute wird es ruhig“, sagt sie. Dreizehn Kinder statt den vollzähligen 24.

Ein Rundgang mit zwei Expertinnen

Die Terrasse ist vorbereitet, Listen sind geprüft, der Tagesablauf besprochen. Als die ersten Kinder eintreffen, ändert sich die Stimmung. Zwei Mädchen beäugen mich misstrauisch. Simone ermutigt sie, mir eine Führung zu geben, schließlich kennen sie die Wiese am besten. Wir starten am Sandkasten rechts neben der Hütte. Der Sand ist noch feucht vom Morgentau. Direkt daneben steht die Regentonne. Sie ist der Ausgangspunkt für Staudämme und Wasserspiele. Die Mädchen hüpfen durchs Gras zum Sitzkreis aus Baumstämmen. Daneben hängt eine Hängehöhle. Eine der beiden klettert hinein, die andere dreht sie schwungvoll im Kreis. Das Lachen, das durch den Stoff dringt, bricht die letzte Zurückhaltung. Von dort geht es zum kleinen Garten, in dem Beeren und Tomaten wachsen. Vor dem Beet stehen ein Vogelhäuschen und ein Insektenhotel. Mit jedem Schritt schließen sich mehr Kinder an, sie zeigen, deuten, laufen voraus. Aus zwei schüchternen Führerinnen ist eine ganze Gruppe geworden.

Das Beet im Kindergarten wächst dank kleiner Gärtner*innen. | Quelle: Lena Wilhelm
Im Sitzkreis starten und beenden die Kinder ihren Tag im Kindergarten. | Quelle: Lena Wilhelm
Hier wird gespielt und manchmal auch kurz Pause gemacht. | Quelle: Lena Wilhelm
Wenn das Wetter draußen nicht mitspielt, findet man in der Hütte einen Unterschlupf. | Quelle: Lena Wilhelm

Ankerpunkte im offenen Gelände

Die Kinder haben sich inzwischen über das Gelände verteilt, einige sitzen mit Stiften und bunten Wollknäueln an den Tischen, andere verlieren sich im Sandkasten. Auf der Terrasse setze ich mich zu Susanne und Simone. Die Erzieherinnen erzählen von den Unterschieden zwischen ihrem Waldkindergarten und Hauskindergärten. „Wir sind nicht die klassische Einrichtung“, sagt Susanne. Der Erziehermangel sei im Gegensatz zu Hauskindergärten weniger gravierend. Die Strukturen seien andere: kleinere Gruppen, keine geschlossenen Räume, ein anderer Personalschlüssel – höher als in vielen Hauskindergärten. Sie sprechen über Grenzen, die im Wald eine andere Bedeutung haben. Ohne feste Zäune lernen Kinder, sich selbst einzuschätzen. Eine Studie aus Minnesota beobachtete in mehreren öffentlichen Vorschulprogrammen, dass naturbasierte Aktivitäten wie Spielen im Freien die Selbstregulation der Kinder stärken. „Wenn wir dann ins Freibad gehen und besprechen, bis wohin sie gehen dürfen, dann halten sie das ein“, erklärt Susanne. Dennoch braucht es auch hier Strukturen. „Kinder brauchen Haltepunkte“, sagt Simone. Der Morgenkreis, das gemeinsame Vesper oder der Abschlusskreis seien feste Anker. Ein spitzer Schrei unterbricht uns. Auf der Wiese ist ein Junge gestolpert, hat sich das Knie aufgeschlagen. Sofort eilt Birgit zu ihm, nimmt ihn in den Arm. Andere Kinder kommen näher: manche aus Mitgefühl, manche aus Neugier. Während die anderen längst wieder davon gesprungen sind, liest sie ihm ein Buch vor.
 

Drei Gruppen, ein Ritual

Mittlerweile sind alle dreizehn Kinder eingetroffen. Simone erklärt, dass es im Waldkindergarten drei Gruppen gibt: die Jüngsten sind die Mäuse, die mittleren Kinder heißen Hasen, und die Ältesten sind die Füchse. Heute sind auch drei „rausgeworfene Füchse“ dabei – diese werden bald eingeschult, wollen den Kindergarten aber noch nicht ganz loslassen. Als das Klingelkind die Glocke schwingt, versammeln sich alle im Kreis. Das Klingelkind darf das Lied wählen, das gesungen wird. Heute ist einer der baldigen Schulkinder an der Reihe. Danach zählt er die Runde durch. Anschließend werden noch die Namen der Abwesenden genannt. Zum Schluss kommt die Monatskette: Holzkugeln für die Wochentage, kleine Äste für die Wochenenden. Mit Vergnügen stellen alle fest: Es ist Freitag. Nach dem Morgenkreis folgt das gemeinsame Frühstück. Statt eines Waschraums gibt es hier den Seifen- und Wasserdienst: die Kinder bringen Wasser und Seife von zu Hause mit. Nacheinander waschen sich alle die Hände, bevor sie sich auf die Terrasse setzen. Auf kleinen Kinderstühlen holen sie ihre Brotdosen hervor: Brote, Obst, Gemüse wechseln von Hand zu Hand, und währenddessen liest Simone eine Geschichte aus einem Kinderbuch vor. „Wir frühstücken bewusst später“, erklärt Birgit leise. „So sind die Kinder gestärkt, wenn wir gleich in den Wald gehen.“ Bald sind die letzten Bissen gegessen, die Trinkflaschen werden alle in eine Tasche gepackt, die Kappen zurechtgerückt. Hand in Hand laufen die Kinder den Waldweg hinauf. Sicher und selbstverständlich, so wie andere ins Gruppenzimmer gehen. Am Spielplatz stürzen sich einige auf die Schaukel, andere erklimmen das Klettergerüst. Susanne zieht mit den drei „herausgeworfenen Füchsen“ weiter ins Dickicht. Traditionell pflanzen sie jedes Jahr einen Baum, diesmal eine junge Tanne. Zwei Kanister mit Wasser schleppen sie mit sich, um den Baum zu gießen. „Viele Bäume hier mussten gefällt werden, weil sie nicht mehr verkehrssicher waren“, erklärt Susanne. Mit der Pflanzaktion wollen sie dem Wald etwas zurückgeben. Zurück am Spielplatz mischen sich die drei Füchse wieder unter die anderen. Vor dem Kletterhäuschen hat sich ein kleiner Wettkampf entwickelt: Wer springt am weitesten hinaus in den Sand? Kyoto steht daneben und misst Sprünge. Die Kinder jubeln bei jedem Versuch.

In der Weihnachtszeit möchte der Kindergarten den Baum schmücken.
Quelle: Lena Wilhelm

Von Norwegen nach Rotenberg: eine Idee reist

Susanne winkt mich zu einer der Bänke am Rand. Vor fünfzehn Jahren habe alles begonnen, erzählt sie. Die Erzieherin war frustiert, über die starren Konzepte, die den städtischen Kindergärten übergestülpt wurden. Materialien, die niemand nutzte, pädagogische Konzepte, die an den Kindern vorbeigingen. „Da standen Mikroskope, die nach zwei Tagen kaputt waren, und Bücher, die wir nicht einmal lesen konnten“, sagt sie. In Schweden begegnete Susanne dann einem Waldkindergarten und wusste: Das soll es sein. Zwei Jahre Planung folgten, und schließlich startete der Kindergarten. Sechs Wochen Dauerregen, minus zwei Grad am Morgen, und trotzdem 18 angemeldete Kinder. Aber auch jetzt, nach all den Jahren, ist nicht alles selbstverständlich. Wasser gibt es nur aus Kanistern, Strom nur über ein kleines Solarpanel. „Die Kinder sollen spüren, dass Ressourcen kostbar sind.“, erklärt Susanne. Wenn die Tonne leer ist, gibt es kein Wasser zum Spielen. Und wenn die Batterie alle ist, bleibt es dunkel. Laut Susanne sind das wertvolle Lektionen. 

Die Kinder sollen spüren, dass Ressourcen kostbar sind.

Susanne

Doch der Waldkindergarten stößt auch an Grenzen. Die Öffnungszeiten bis 14 Uhr lassen sich schwer mit Vollzeitjobs vereinbaren. „Wir haben ein eher elitäres Klientel“, sagt sie. „Nicht jede Familie kann sich das leisten.“ Auch die Outdoor-Kleidung für die Kinder gehe ins Geld. Und der Klimawandel stellt das Konzept zusätzlich vor neue Herausforderungen: längere Hitzeperioden, Unwetterwarnungen, Stürme. Immer öfter müssen die Kinder früher abgeholt oder Ausweichorte genutzt werden. Tatsächlich wächst die Zahl der Waldkindergärten seit Jahren: 1993 gab es bundesweit nur eine Handvoll, heute sind es über 2.000. 2021 wurden in Baden-Württemberg rund 9.500 Kinder gezählt, die in Waldkindergärten betreut wurden. Während Susanne noch erzählt, ruft Simone die Kinder zusammen. Rote Wangen, staubige Knie, die Stimmen heiser vom Lachen. Es ist mittlerweile Mittag, die Hitze liegt schwer über der Lichtung. Hände werden gewaschen, Simone hat in der Zwischenzeit Bananen halbiert, jeder bekommt ein Stück. Ein letzter Energieschub, bevor es zurück geht. 

Abschied im Kreis

Bei der Wiese angekommen, finden sich alle wieder im Kreis zusammen. Das Klingelkind darf sich ein Abschlussspiel wünschen und entscheidet sich für „kleine Bauern auf der Reise“. Ein Kind nach dem anderen schließt sich an, die Schlange wächst, das dazu passende Lied wird lauter, bis schließlich alle Kinder unterwegs sind. Dann rufen sie gemeinsam: „Schönen Samstag, schönen Sonntag und auf Wiedersehen.“ Am Waldrand stehen schon die ersten Eltern. Einige Kinder rennen erschöpft in ihre Arme. Nach und nach leert sich die Wiese, Stimmen verhallen, nur das rote Schwedenhäuschen bleibt zurück, still zwischen den Bäumen.