Er hat geschrieben, aber ich warte jetzt erstmal eine Stunde bevor ich antworte. Ich will nicht zu interessiert wirken, sonst verliert er bloß sein Interesse an mir.
Ich habe mal gehört, dass man heutzutage kein Interesse zeigen soll

Es war ein Samstagmorgen und ich war mit meiner Mutter in meiner Lieblingsbuchhandlung Thalia. Wir schlenderten in dem noch leeren Laden herum. Am Thriller-Regal blieb ich stehen, nicht wegen der Bücher – sondern wegen eines Gesprächs. Ein Mädchen sagte mit einem Grinsen im Gesicht zu ihrer Freundin: „Er hat geschrieben, aber ich warte jetzt erstmal eine Stunde bevor ich antworte. Ich will nicht zu interessiert wirken, sonst verliert er bloß sein Interesse an mir.“
Der Satz ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich ihn selbst schonmal gedacht habe, oder zumindest etwas ähnliches. Ich sitze beim Essen und sehe dabei immer wieder aufs Handy. Ich lese ein Buch, aber mein Handy liegt dicht daneben. Ich gehe spazieren, doch das Handy ist stets in meiner Jackentasche, nah genug für den Fall dass er schreibt. Dann spüre ich endlich ein vibrieren in meiner Jackentasche, wie ein kleines Versprechen. Endlich – eine Nachricht. Ein einziges Wort: Okay. Ich würde am liebsten sofort antworten. Alles sagen. Fragen. Fühlen. Stattdessen lege ich mein Handy weg und warte wieder. Diesmal auf keine Antwort, sondern darauf, dass ich antworten kann. Denn ich habe gelernt, je schneller ich antworte, desto weniger Interesse hat mein Gegenüber an mir.
Wir leben in einer Zeit mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten. Durch Dating-Apps muss man nicht mal mehr das Haus verlassen, um jemanden kennenzulernen. Ein einfacher Swipe genügt, um mit einer Person in Kontakt zu treten und wenn es mit der einen Person nichts wird, dann swiped man eben noch ein wenig länger. Ebenso ist es mit den Sozialen Medien, denn sie wirken wie ein virtuelles Schaufester voller potenzieller Partner. Und genau das macht es paradoxerweise schwerer eine Person wirklich kennenzulernen und eine Bindung zueinander aufzubauen. Denn wer weiß, vielleicht wartet die „Bessere Wahl“ erst hinter dem nächsten Swipe? Deshalb gilt die Faustregel: Bloß nicht zu viel Interesse zeigen. Unbeteiligt bleiben. Auf TikTok kursiert der Begriff „nonchalant“. Gemeint ist damit, dass man möglichst unbeeindruckt und distanziert wirken soll. Wahres Interesse zeigen gilt also als Schwäche, wer sich öffnet wird angreifbar, wer zuerst schreibt, hat verloren. Wie kann Nähe entstehen, wenn beide Seiten damit beschäftigt sind, sich fernzuhalten?
Zwischen den Zeilen
Die Wahrheit ist: Ehrliches Interesse ist kein Makel. Menschen, die es ernst meinen, laufen nicht davon, weil du zurückschreibst, bevor eine Stunde vergangen ist. Ganz im Gegenteil, jemand der wahrhaftiges Interesse hat wird eher davon abgeschreckt, wenn die andere Person möglichst „nonchalant“ und distanziert wirkt. Es gibt noch Menschen, die sofort antworten. Nicht, weil sie keinen besseren Optionen hätten, sondern weil du die bessere Option bist. Ich denke wir sind uns alle einig, dass dies um einiges anziehender ist als ein kurzes „okay“ auf das man zwei Tage warten musste.
Gelernt beim Zuhören fremder Gespräche
Der Satz aus dem Buchladen bleibt in meinem Kopf. Vielleicht, weil er so traurig ehrlich war. Vielleicht, weil ich mich darin wiederfinde. Und vielleicht, weil ich hoffe, dass wir irgendwann lernen, dass echte Mühe nichts ist, was man verstecken muss, sondern etwas das man wertschätzen sollte.
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Dieser Artikel ist Teil der Kolumne Sätzesammler-Kolumne. Die Folge "Ich habe mal gehört, dass wir keine Kunst und Literatur brauchen“ findest du hier.