„Wenn meine Mama mit irgendjemand Deutsch spricht, kein Problem! Das hört sich für mich ganz normal an. Aber wenn sie mit mir Deutsch spricht, ist das für mich so seltsam!“
Hi Mom, hallo Papa!
Es ist ein warmer Junitag. Rasenmäher brummen, Vögel zwitschern, es riecht nach Sonnencreme. Die Autoscheiben parkender Autos reflektieren die Sonne. Am Ende der Straße steht ein weiß angestrichenes Haus inmitten des Neubaugebiets in Engstlatt, einer Kleinstadt mit 1800 Einwohnern. Neben der dunkelgrauen Haustüre ist ein Klingelschild befestigt mit der Aufschrift: Familie Alcantara-Müller. „Hallo, hi, komm rein“, eine junge Frau öffnet schwungvoll die Tür mit einem Grinsen im Gesicht. Annsophie ist Anfang 20, hat lange schwarze Haare und dazu passende, mandelförmige, tiefbraune Augen. Sie tritt einen Schritt beiseite und gibt freie Sicht auf den Hausflur. Auf den ersten Blick scheint sich das Heim der kanadisch-deutsch aufgewachsenen Annsophie in keiner Weise von gewöhnlichen Haushalten zu unterscheiden. An der Wand hängen Familienfotos vom Abschlussball, die Schuhe stehen geordnet darunter. Obwohl die Alcantara-Müllers philippinische und kanadische Wurzeln haben, hängen weder asiatischen Kalender im Flur, noch ist ein Eishockeyschläger in der Ecke zu finden.
„Fremden erzähle ich immer sofort woher ich komme“
„Vor 21 Jahren bin ich nach Deutschland gekommen. Jetzt wohne ich hier sogar schon länger als in Kanada. Deutschland wird langsam aber sicher zu meiner Heimat“, erzählt Rotchel, Annsophies Mutter. Sie sitzt auf einem der vier Holzstühle am runden Eichentisch im Wohnzimmer, gegenüber von ihrer Tochter, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Das asiatische Aussehen hat Annsophie von ihr. Sowohl Mutter als auch Tochter wurden beide zweisprachig großgezogen. Annsophie deutsch-englisch, ihre Mutter philippinisch-englisch. Obwohl Rotchel fließend Englisch spricht und denkt, ist ihre Primärsprache Filipino. Heute spricht sie, außer mit ihren Eltern, nur noch Englisch. Anders als ihre eigenen Kinder, Annsophie und Vincent, hat sie die Sprachen nicht gleichzeitig erlernt. Aufgewachsen ist sie nämlich auf den Philippinen, erst mit acht Jahren kam sie nach Kanada. Außerhalb ihres Elternhauses musste sie die zweite Sprache nie so aktiv benutzen wie ihre Kinder. Schräg hinter ihr an der Wand hängen einige Familienfotos. Eines davon sticht besonders hervor: eine ältere Aufnahme der Familie Alcantara-Müller. Aufgenommen wurde es ein paar Jahre, nachdem Rotchel ihrem Mann Alexander nach Deutschland gefolgt ist. Für beide war es von Anfang an eine Selbstverständlichkeit ihre Kinder zweisprachig zu erziehen. „Wahrscheinlich ging das so erfolgreich, weil Alexander und ich miteinander Englisch gesprochen haben“, ergänzt Rotchel. Zudem sei es auch wichtig, die Sprachen auf die jeweiligen Elternteile klar zu verteilen.
Das deckt sich auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen von Forschern des Bielefelder Instituts für Sprachforschung. Demnach erlernen Kinder mehrere Sprachen am besten, wenn sie die „Mama und Papa Sprache“ klar trennen können. Von großer Bedeutung ist ebenfalls, dass jedes Elternteil konsequent seine Muttersprache spricht. Fachschprachlich wird dieses Prinzip auch "one person - one language“ genannt. Im Alltag ist diese klare Trennung aber nicht immer einzuhalten. Auch die meisten Ratgeber für bilinguale Familien sind sich darüber einig, dass es wichtig ist, eine klare Unterscheidung zwischen der Umwelt- und der Familiensprache zu machen. Diese klaren Strukturen sind nötig, damit zweisprachig erzogene Kinder die Sprachen voneinander trennen können.
So haben es damals auch Rotchel und Alexander gemacht. Wissend, dass außerhalb des Hauses fast ausschließlich Deutsch gesprochen wird, ist bis heute die Sprache im Haus Englisch. „Wenn Annsophie und Vincent früher gemeint haben, sie könnten im Wohnzimmer Deutsch reden, habe ich ,wrong language' aus der Küche gerufen“, lacht Rotchel und ergänzt: „Noch im selben Satz haben sie die Sprache gewechselt.“ Auf diese Weise konnten die Kinder ihre zweite Sprache konstant anwenden. Tatsächlich hört es sich bis heute für Annsophie komisch an, wenn ihre Mutter auf Deutsch antwortet. „Das geht gar nicht“, scherzt sie. Auch wenn sie früher mit ihrer Mama unterwegs war und Rotchel auf Deutsch Fragen gestellt hat, haben die Kinder schon immer auf Englisch geantwortet, erinnern sich beide lebhaft. Nicht nur innerhalb der Familie hat der Erziehungsstil Einfluss auf den Alltag.
Schon damals in der Krabbelgruppe haben sich Auswirkungen auf andere gezeigt. Gemeinsam haben sie englische Lieder gehört und sich Geschichten vorgelesen. Es kann aber auch ganz anders ablaufen: Blogeinträge berichten von Vorfällen, in denen Kinder allein wegen ihrer Erziehung von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und dadurch ein mangelndes Selbstbewusstsein haben. Negative Erfahrungen aufgrund ihrer Sprache, haben die Alcantara-Müllers selbst nie gemacht. Allerdings kamen in der Vergangenheit einige lustige Fragen von Fremden auf, berichtet Rotchel. Eine Frau wollte beispielsweise wissen, ob sie in Deutschland nicht friere, da wo sie herkomme, sei es ja schließlich immer warm. „Dann habe ich ihr erzählt, dass ich aus Kanada komme – ein Land, dessen Nationalsport Eishockey ist. Da hat sie blöd geschaut“, lacht sie und klopft mit der flachen Hand auf den Tisch. Auch Annsophie kann von der ein oder anderen Begegnung erzählen: „Wenn ich mich vorstelle, dann erzähle ich in einem Zug die ganze Geschichte meiner Mutter, sonst haken alle nach, warum ich asiatisch aussehe, aber Müller heiße.“
Ein Grund für die durchweg positive Resonanz auf ihre Zweisprachigkeit kann in der Art der Zweitsprache liegen. Obwohl viele Aussagen von Sprachforschern meinen, wer mehrsprachig erzogen wurde, habe kognitive Vorteile, gibt es Gegenstimmen. Laut Prof. Claudia Riehl von der LMU München, werden gerade in Deutschland immer wieder Unterschiede im Sprachprestige gemacht, berichtet der BR. Das spiegelt sich vor allem in der Gesellschaft wider: Romanische Sprachen wie Französisch oder Spanisch werden daher anerkennend akzeptiert, Kindern, die neben Deutsch beispielsweise Türkisch oder Arabisch können, wird das eher weniger hoch angerechnet. Rotchel betont: „In Kanada wäre das niemals der Fall.“ Die Kultur sei offenherziger, man sei stolz auf seine individuelle Herkunft. „Bei uns hat jeder irgendeinen ausländischen Hintergrund und darauf sind wir stolz“, erzählt Rotchel, während sie ihre Hände über einem roten ledernen Fotoalbum faltet. Darin befinden sich ausgeblichene Fotos, die sie als Grundschülerin zeigen. Fast jeder ihrer Klassenkameraden hatte eine bilinguale Erziehung oder einen multikulturellen Hintergrund. Ganz im Gegensatz zu Annsophies ehemaligen Mitschülern. Außer einem anderen Mädchen, war sie die einzige in der Klasse, die zwei Sprachen fließend beherrschte.
Jedes Jahr besucht die Familie Alcantara-Müller für mindestens zwei Monate ihre Verwandten in Kanada. Rotchel berichtet: „Es war mir von Beginn an wichtig, dass meine Kinder regelmäßig ihre gesamte Familie sehen.“ Auch diesen Sommer geht es wieder los. Alle freuen sich darauf. Die Frage, ob Annsophie ihre eigenen Kinder auch zweisprachig erziehen würde, bejaht sie, zwei Sprachen zu können sei schließlich immer eine Chance. „Also ich rede mit deinen Kindern garantiert nur Englisch“, wirft Rotchel selbstbewusst ein. Beide beginnen gleichzeitig zu lachen. Spätestens jetzt steht fest, der Erziehungsstil schweißt Familie Alcantara-Müller nur noch mehr zusammen.