19. Dez. 2025

Seit Jahren hält sich der Vorwurf hartnäckig: Beim Eurovision Song Contest voten die Länder nach politischen Präferenzen, statt nach musikalischen. Unsere Analyse von 50 Jahren Punktevergabe prüft, was an diesem Verdacht wirklich dran ist.

Alle Jahre wieder läuft im Mai der Eurovision Song Contest (ESC) über die Bildschirme und erreicht über 160 Millionen Zuschauende. Kaum hat man es sich bequem gemacht, beginnt das Fachsimpeln. Spätestens bei den ersten zwölf Punkten lehnt sich jemand auf der Couch nach vorne und behauptet, halb im Spaß und halb im Ernst: „Das ist doch alles politisch.“ Norwegen und Schweden schieben sich angeblich Punkte zu, Griechenland und Zypern sowieso, und irgendwo im Balkan existieren mysteriöse Allianzen, von denen Außenminister nur träumen können. Und dann gibt es da noch die Nationen, die angeblich überhaupt niemand mag. Deutschland zum Beispiel. Das perfekte Erklärmodell für jedes schlechte Abschneiden: nicht der Song war schuld, sondern Europa.

Der Eurovision Song Contest ist der weltweit größte Musikwettbewerb und findet seit 1956 jährlich statt. Er wird von der European Broadcasting Union (EBU) organisiert, einem Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. Teilnehmen dürfen alle Länder mit einer EBU-Mitgliedschaft, daher sind auch Staaten wie Israel oder Aserbaidschan dabei. Australien nimmt als assoziiertes EBU-Mitglied seit 2015 ebenfalls teil.

Jedes Land vergibt Punkte an seine zehn Lieblingssongs und zwar zweimal:

  • 12, 10, 8–1 Punkte durch eine fünfköpfige Jury

  • 12, 10, 8–1 Punkte durch das Publikum (Televoting)

Seit 2016 werden Jury- und Publikumswertungen getrennt verkündet, vorher flossen sie in ein gemeinsames Ergebnis ein.

Quelle: Eurovision Song Contest Website

Der Mythos der Nachbarschafts-Allianzen

Besonders hartnäckig hält sich der Verdacht, dass sich Nachbarländer im ESC gegenseitig Punkte zuschieben. Ein geografisches Freundschaftsspiel, das angeblich Jahr für Jahr die Tabelle verzerrt: An der richtigen Grenze zu wohnen, wäre also die halbe Miete. Ein Blick auf die Punktevergabe zeigt allerdings ein deutlich nüchterneres Bild. Tatsächlich lassen sich in den Zahlen leichte Tendenzen erkennen: Manche Länder vergeben etwas häufiger Punkte an ihre unmittelbaren Nachbarn als an weiter entfernte Staaten. Doch diese Effekte bleiben gering. Sie sind vorhanden, aber weit davon entfernt, das Gesamtbild zu dominieren oder die Wertung systematisch zu verzerren. Von „Punkteschieberei“ kann also keine Rede sein. So geben sich Nachbarn in den Jahren 1975 bis 2025 durchschnittlich 6,9 Punkte und Nicht-Nachbarn 5,7.

Klar erkennbar ist, dass die Punktevergabe der Nicht-Nachbarn gleichmäßiger ist, im Schnitt aber eindeutig unter dem Durchschnittswert der Nachbarländer. | Quelle: www.flourish.de

Wenn geografische Nähe keinen großen Einfluss hat, wie sieht es dann mit politischer aus? Offiziell versteht sich der Eurovision Song Contest als unpolitischer Wettbewerb. So steht es seit 2016 sogar offiziell im Regelwerk der European Broadcasting Union: Keine politischen Botschaften, keine Aufrufe, keine Inszenierungen, die aktuelle Konflikte kommentieren. Der ESC soll ein musikalischer Raum sein, der sich bewusst von der politischen Realität abgrenzt. Ein Fest der Unterhaltung, nicht der Diplomatie.

Wenn ein Format, das sich selbst als unpolitisch definiert, regelmäßig mit politischen Vorwürfen konfrontiert wird, entsteht eine Spannung zwischen Anspruch und Wahrnehmung. Deshalb hält sich die Vorstellung so hartnäckig, die Wertung spiegele internationale Beziehungen wider. ESC-Forscherin Magdalena Posch weist dabei auf ein grundsätzliches Dilemma hin: „Ich bin der Meinung, das kann gar nicht unpolitisch sein, wenn man Repräsentanten einzelner Länder oder eigentlich Repräsentanten einzelner Rundfunkanstalten aus den jeweiligen Ländern hinschickt. Wenn es wie ein Nationenwettstreit inszeniert wird, kriegt es natürlich einen gewissen politischen Charakter.“ Umso naheliegender ist die Frage, ob sich politische Dynamiken in den Punkten zeigen, also dort, wo Länder einander direkt bewerten.

Russland und Ukraine: wenn die Punkte verstummen

Ein Blick auf Russland und die Ukraine zeigt, dass sich politische Konflikte unter bestimmten Umständen tatsächlich in den Punkten widerspiegeln. Bis 2014 vergaben beide Staaten regelmäßig Punkte aneinander. Mal mehr, mal weniger, aber im Rahmen normaler Schwankungen. Nach der Annexion der Krim änderte sich dieses Muster: In den Jahren ab 2015, in denen beide Länder am Wettbewerb teilnahmen, vergaben die jeweiligen Jurys keine Punkte mehr aneinander.

Seit 2016 werden beim ESC Jury- und Publikumspunkte getrennt vergeben. Für die Analyse wurden ab diesem Zeitpunkt nur die Jury-Punkte berücksichtigt, davor das Gesamtergebnis. Das ermöglicht eine einheitliche Datengrundlage.

Bis 2014 fällt auf, dass sich Russland und die Ukraine immer ähnlich viel Punkte gegeben haben. | Quelle: www.flourish.de

Unmittelbar nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs 2022 reagierte die European Broadcast Union, die Veranstalterin des ESC, und schloss Russland vom Wettbewerb aus. Ein Schritt, den sie mit der Wahrung der Grundprinzipien des ESC begründete. Gleichzeitig zeigte sich ein verändertes Bild im Votingmuster: Die Ukraine bekam zwar nicht mehr Punkte, jedoch Punkte aus deutlich mehr Ländern, mehr als dreimal so vielen wie zuvor. Von vielen Beobachtern wurde dies als Zeichen der Solidarität gewertet.

| Quelle: Bild: EBU/Corinne Cumming

Ob diese Entwicklung tatsächlich politisch motiviert war, lässt sich jedoch nicht eindeutig sagen. Die Punktvergabe beim ESC wird von mehr Faktoren beeinflusst, als es politische Erzählungen vermuten lassen: Musik, Genre, Inszenierung und sogar die Berichterstattung im Vorfeld spielen ebenfalls eine Rolle, wie Magdalena Posch anmerkt. Dr. Irving Wolther, auch Dr. Eurovision genannt, betont, dass Musik beim ESC zwar nicht als völlig „politikfreie Zone“ existiert, aber dennoch im Mittelpunkt stehen sollte. Er findet es problematisch, wie schnell Diskussionen über Punktevergaben auf politische Motive reduziert werden. Zu oft werde dabei übersehen, dass auch die musikalische Qualität der Beiträge eine Rolle spielt oder wie sehr ein Song das Publikum berührt. Dabei gibt er auch zu bedenken: „Zu sagen, die Ukraine hat nur wegen der Politik gewonnen, spielt voll in die russische Propagandamaschinerie.“

Nach dem Kriegsbeginn mit Russland gaben mehr Länder der Ukraine Punkte als zuvor. | Quelle: www.flourish.de

Die stärkere Unterstützung könnte also Ausdruck europäischer Solidarität sein oder genauso gut ein Effekt von Zeitgeist, Performance oder künstlerischer Qualität. Für Magdalena Posch ist der Versuch, eindeutige Motive herauszulesen, ohnehin schwierig: „Es ist tatsächlich ein bisschen Kaffeesatz-Leserei.“ Klar ist am Ende nur, dass sich hier ein auffälliges Muster zeigt.

Solche deutlichen Veränderungen in der Punktevergabe, wie zwischen Russland und der Ukraine, bleiben jedoch selten. In der Gesamtschau der Wertungen finden sich wenige Fälle, in denen internationale Konflikte oder politische Spannungen über längere Zeit hinweg zu klaren Mustern in der Punktevergabe führen. Weder entstehen regelmäßig dauerhafte politische Lager, noch lassen sich wiederkehrende Abstrafungen beobachten. An diesem Punkt setzt auch Wolther an: „Letztlich liegt das Politische nicht in der Wertung, sondern im Narrativ über die Wertung.“

Was im Lied mitschwingt

Auch wenn sich viele politische Vorwürfe nicht in der Punktevergabe bestätigen, heißt das nicht, dass der ESC frei von politischen Dimensionen wäre. Im Gegenteil: Sie zeigen sich nur an anderen Stellen.

Immer wieder haben Beiträge politische Stimmungen der jeweiligen Zeit aufgegriffen, oft subtil, manchmal deutlich. Jamalas Siegertitel „1944“, der die Deportation der Krimtataren thematisiert, fiel 2016 mitten in die Phase wachsender Spannungen zwischen Russland und der Ukraine. Und 1990, im Jahr nach dem Mauerfall, dominierten Lieder über Freiheit und Aufbruch den Wettbewerb. Ein Echo auf die politischen Umbrüche in Europa. Solche Momente zeigen, dass Künstlerinnen und Künstler politische Stimmungen aufgreifen, auch wenn die Regeln es offiziell verbieten. Das sei aber auch nicht verwunderlich, so Magdalena Posch: „Natürlich geht so ein Event, das so eine lange Historie hat, irgendwie mit der Zeit und greift Themen auf, die gerade aktuell gesellschaftlich und politisch sind. Es ist fast unmöglich, das so als isoliertes Ding zu betrachten.“

Die Teilnehmerin aus Israel 2025 lächelt mit der Israel Flagge.
2025 gelang Israel vor allem dank des Publikums der Sprung auf Platz 2. Die Jurys gaben nur 60 Punkte und setzten das Land zunächst ins hintere Mittelfeld.
Quelle: EBU/Sarah Louise Bennett

Noch sichtbarer wird Politik im ESC dort, wo über Teilnahmen entschieden wird. Besonders deutlich zeigt sich das aktuell am Beispiel Israels. 2025 noch Zweiter, wird für 2026 diskutiert, ob Israel in Österreich überhaupt antreten darf. Mehrere Staaten, darunter Spanien, Irland und Slowenien, haben angekündigt, dem Wettbewerb fernzubleiben, sollte Israel teilnehmen. Weitere Delegationen denken über ähnliche Schritte nach. Solche Debatten zeigen, wie sehr der ESC zum Schauplatz größerer weltpolitischer Konflikte werden kann. Posch beobachtet dabei eine Tendenz zur Überhöhung: „Da wird die ESC-Debatte größer gemacht, als sie eigentlich ist, um so einem politischen Thema eine Bühne zu geben. Manchmal wird der ESC fast ein bisschen missbraucht, um herauszufinden, wie Staaten zueinanderstehen.“

Im Scheinwerferlicht und hinterm Vorhang

Die eigentliche politische Aufladung entsteht also nicht auf der Punktetafel, sondern im Kontext des Wettbewerbs: Auf der Bühne selbst, in Symbolen, Themen und Performances und auch neben der Bühne, durch Debatten über Teilnahmen und öffentliche Reaktionen. So bleibt der ESC ein bemerkenswert widersprüchliches Ereignis: ein Wettbewerb, der unpolitisch sein möchte, aber dennoch immer wieder politisch aufgeladen wird. Die Punkte selbst zeigen sich – mit wenigen Ausnahmen – dagegen weit weniger anfällig für weltpolitische Konflikte. Und wenn die Punkte dann doch einmal enttäuschend ausfallen, greift vielerorts eine vertraute Erklärung. Wie Dr. Wolther es formuliert: „In jedem Land heißt es dann: Europa mag uns nicht. Es ist überall das Gleiche.“

Für diesen Beitrag haben wir eine Netzwerkanalyse durchgeführt. Untersucht wurde die Punktevergabe aller teilnehmender Länder am Eurovision Song Contest in den Jahren 1975 bis 2025

Für die Datenerhebung haben wir die offizielle Webseite des ESC benutzt.

Der Datensatz und das Codebuch sind auf Github verfügbar.