Musikshow 5 Minuten

Auch ohne ESC ins Rampenlicht

Vincent Varus beim ESC-Vorentscheid: Er ist in der Mitte des Bildes auf der Bühne, schaut beim singen frontal in Richtung Kamera. Im Vordergrund ist das Publikum zu sehen.
„Da ging mir schon die Düse, als es hieß, dass ich da auf jeden Fall in zwei, drei Monaten auf dieser Bühne stehen werde – es war plötzlich real“, erzählt Vincent Varus, Teilnehmer von „Chefsache ESC 2025“. | Quelle: © RTL/Raab ENTERTAINMENT Foto: Julia Feldhagen
21. Mai 2025

Beklatscht und vergessen: Der Vorentscheid verspricht eine große Bühne – und Enttäuschung. Für manche ist er eine Chance die eigene Karriere auszubauen. Doch kann auch Scheitern eine solche Chance bieten? Wieso sich Mut zur Teilnahme trotzdem lohnen kann.

Mit einem strahlenden Lächeln steht Vincent Weckerle alias Vincent Varus auf der Bühne. Die Vorrunde ist vorbei. Er ist ausgeschieden. Das Adrenalin pumpt durch seinen Körper, das Gefühl des vergangenen Auftrittes ebbt nicht ab. Er ist zufrieden. Die bunten Lampenschirme, die eben noch Teil der Szenerie waren, sind weg. Applaus gibt es auch keinen mehr. Personen kommen auf ihn zu, interviewen ihn. „Die meinten: Du bist der glücklichste Ausgeschiedene, den es jemals gab“, erzählt der Sänger, der am deutschen Vorentscheid für den ESC in Basel 2025 teilgenommen hat.

ESC – Was ist das?

Der Eurovision Song Contest (ESC) ist der älteste internationale Musikwettbewerb der Welt, der im Fernsehen ausgestrahlt wird. Der Wettbewerb wurde 1956 als Produkt des Kalten Krieges von der Europäischen Rundfunkunion (EBU) gegründet. Eine Teilnahme ist nicht an die geografische Lage gebunden. Es können auch Nicht-EU-Länder teilnehmen.

Dieses Jahr nehmen 37 Länder teil, die sich in Vorrunden gegeneinander behaupten müssen. Die „Big-Five“ (Deutschland, Frankreich, Spanien, das Vereinigte Königreich und Italien) müssen aufgrund ihrer geldgebenden Tätigkeit nicht die Vorrunden durchlaufen. Sie sind automatisch im Finale.

Der Wettbewerb fördert interkulturelle Beziehungen, etwa durch Werbung für nationale Sehenswürdigkeiten oder kulturelle Besonderheiten.

Gewinner*innen reichen u. a. von Lena über Loreen bis Conchita Wurst.

Die Teilnehmenden der zweiten Vorrunde stehen nebeneinander auf der Bühne. Links steht Barbara Schöneberger. Auf dem Bildschirm im Hintergrund steht "Chefsache ESC 2025".
Die Teilnehmenden der zweiten Show warten gespannt auf die Auflösung. Wer darf ins Halbfinale, wer muss gehen?
Quelle: © RTL/Raab ENTERTAINMENT Foto: Julia Feldhagen

Nach einer Studie der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) und des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) stehen Teilnehmende während einer Showproduktion unter starker Anspannung – meistern Herausforderungen und sammeln Erfahrungen. Scheiden sie aus, kommen sie zurück in ihren gewohnten Alltag. An diesen müssen sie sich erst wieder gewöhnen. Dieser Wechsel kann eine psychische Belastung bedeuten, vor allem wenn der Wunsch besteht, Berufsmusiker*in zu werden. Viele fragen sich danach:

Habe ich meine Chance richtig genutzt?

Annika Omlor alias NI-KA wirkt nachdenklich, als sie zurückblickt. „Es war mein Ziel einmal auf dieser Bühne zu stehen. Nach der Show denke ich mir: Irgendwie komisch, dass mein Leben genauso weitergeht wie vorher. Ich habe immer noch den gleichen Job, immer noch die gleiche Band und immer noch das gleiche Studio.“ Das sei zwar gut – aber unerwartet. „Eigentlich müsste doch nach der Teilnahme etwas Großes passieren. Wenn nicht, wird man erstmal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt“, sagt die Frankfurter Sängerin, die ebenfalls am Vorentscheid teilgenommen hat. Dieser ebnete ihr wohl den Weg zu Konzerten, die sie diesen Sommer spielen wird. Um die Karriere voranzutreiben und Aufmerksamkeit zu bekommen tue man vieles. Langfristig? Das könne sie nicht sagen.

Langfristig habe es sich hingegen für Vincent Varus bei seinem Portfolio gelohnt. „Natürlich ist es ein gewisses Buzzword, wenn man sagen kann: Hey, ich war dieses Jahr beim ESC-Vorentscheid“, das könne beim Booking für Konzerte von Vorteil sein. Direkt spürbar war das auf seinen Social-Media-Kanälen. Mittelbar habe es seine Followerzahl erhöht.

Beide Acts verzeichneten rund um ihren Auftritt am 15. Februar (KW 7) einen deutlichen Anstieg ihrer Followerzahlen. In den Wochen danach nahm das Wachstum wieder ab. | Quelle: Nindo - Grafik: Marie Friedrich

„Man denkt immer, dass sich nach dem Vorentscheid mehr verändert, aber jeder Peak flacht irgendwann wieder ab“, sagt Vincent Varus. Auf der Bühne habe er dennoch wertvolle Erfahrungen gesammelt: „Ich habe mir selbst bewiesen, dass ich mit dem Druck, live im Fernsehen vor so vielen Leuten zu spielen, umgehen kann.“

„Man denkt immer, dass sich nach dem Vorentscheid mehr verändert, aber jeder Peak flacht irgendwann wieder ab.“

Vincent Varus

Die Teilnahme kann Acts mediale Sichtbarkeit verschaffen, allerdings ebbt diese wieder ab. Trotzdem ist der Vorentscheid eine Bühne, die man auf jeden Fall nutzen sollte, so Benjamin Hertlein, Chefredakteur von ESC kompakt. Jeder Act sorge unabhängig vom Ausscheiden für Aufmerksamkeit und gewinne neue Fans.

Apropos Aufmerksamkeit

Nach dem Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie ist diese eine knappe Ressource, die von vielen begehrt wird. Ob man sie bekommt, hängt anfangs oft vom Zufall ab. Wer Aufmerksamkeit sucht, macht sich angreifbar. „Du hast da keinen Schutzraum mehr“, sagt Vincent Varus. Auf der Bühne könne viel schiefgehen, man habe nur diese eine Chance.

Wir sehnen uns nach der Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Aus ihrer Wertschätzung leiten wir ab, wie wir uns selbst wahrnehmen. Ist man erst einmal bekannt, wird man nach dem Matthäus-Prinzip regelrecht mit ihr überschüttet. Vor allem in kreativen Berufen geht es mehr um das eigene Image als um den Verdienst. Die Medien bieten eine Bühne, über die man ein breites Publikum erreicht. Dadurch werden Auftritte im Fernsehen so attraktiv – alle möchten sich profilieren. Einschaltquoten zeigen, wie viel Aufmerksamkeit ein Medium bekommt.

Mit etwa eineinhalb Millionen mehr Zuschauern als im Vorjahr war die „Chefsache ESC 2025“ erfolgreicher als der von der ARD geleitete Entscheid. Für den Vorentscheid 2025 schlossen sich Stefan Raab, RTL und ARD zusammen. Das Potenzial solcher Zusammenschlüsse bestehe darin, dass sich Stärken gut kombinieren lassen, so Hertlein. 2010 bis 2012 habe diese Taktik, mit Blick auf die ESC-Ergebnisse, gut funktioniert. Die Einschaltquoten des Vorentscheids sanken in diesem Zeitraum hingegen von viereinhalb auf rund zwei Millionen. Das Einzige, was laut der Aufmerksamkeitsökonomie zählt, ist im Mittelpunkt zu stehen. Wird man immer mehr beachtet, fällt es schwer mit Rückschlägen umzugehen.

Sängerin NI-KA steht am Main, sie schaut nach rechts.
Wer vom Gewinnen abhängig ist, sollte besser nicht teilnehmen, sagt Sängerin NI-KA.
Quelle: Marie Friedrich

„Als ich ausgeschieden bin, war das ein Schock. Ich habe nicht damit gerechnet“, meint NI-KA. Sie habe sich sehr zusammenreißen müssen, da sie wusste, dass noch Kameras liefen. Vorher hieß es von anderen Acts, sie würde es wahrscheinlich in die zweite Runde schaffen. Es würde keinen Grund geben, sie nicht weiterzulassen.

„Als ich ausgeschieden bin, war das ein Schock. Ich habe nicht damit gerechnet.“

NI-KA

Entscheidungsfindung

In den ersten drei von vier Runden entschied die Jury über das Weiterkommen der Acts. So auch über Vincent Varus und NI-KA. Anders als 2010 war das laut Hertlein eine vertane Chance: „Es war ein Fehler, dass Stefan Raab dachte, er weiß alles besser.“ Er sagt, „Stefan Raab ist mit der Einstellung reingegangen, 15 Jahre später das Gleiche nochmal zu machen.“ Dadurch sei „dieses Jahr einiges an Potenzial verschenkt“ worden, weil „die Medien mittlerweile anders funktionieren.“

Neben Hertlein übt auch Vincent Varus Kritik: „Mich hat gestört, dass manche Acts mit Coversongs weitergelassen wurden und im Halbfinale ESC-Songs in einem ganz anderen Stil performt haben.“ Dies habe nichts mit dem eigentlichen ESC-Song zu tun. „Ich bin im Nachhinein froh, mit einem eigenen Song gestartet zu sein.“

Raab Entertainment hat auf die Anfrage nach einer schriftlichen Stellungnahme nicht geantwortet.

Da ihre Songs oft länger als die erlaubten 2:45 Minuten sind, habe ihr das Produktionsteam ein Cover empfohlen. Quelle: RTL/YouTube

Trotz des Ausscheidens blickt Vincent Varus lächelnd zurück: „Ich habe mir immer gesagt: Selbst wenn ich in der ersten Runde rausfliege und es nicht ganz schlecht mache, habe ich schon gewonnen.“ Natürlich habe auch er die Show mit einem lachenden und einem weinenden Auge verlassen. Dennoch sei er der „glücklichste Ausgeschiedene“ gewesen, weil er die Bühne für sich nutzen konnte. Sich und seine Musik zeigen, sei sein Ziel gewesen. Das habe er geschafft. Zum ESC zu kommen – das wäre nur das Sahnehäubchen gewesen.