„Mein größter Nachteil, den ich als Frau hatte, war, dass es wirklich 0,0 Vorbilder gab.”
Ausgezeichnet aber unterschätzt: Frauen in der Wissenschaft
Kennt ihr Mileva Marić? Nein? Das haben wir uns fast gedacht.
Zuletzt beschrieb die Journalistin und Historikerin Leonie Schöler 2024 in ihrem Spiegel-Bestseller „Beklaute Frauen”, wie die Leistungen von Frauen in der Wissenschaft schon immer übersehen, klein geredet oder anderen zugeschrieben wurden. Ein Muster, mittlerweile auch bekannt als der „Matilda-Effekt”. Ein bekanntes Beispiel aus Schölers Buch: Mileva Marić, die erste Ehefrau von Albert Einstein. Jahrelang forschte sie gemeinsam mit ihrem Mann, doch blieb immer in seinem Schatten. Womöglich verhalf sie ihm sogar zu seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis für die Relativitätstheorie.
Milevas „Belohnung“? Keine Erwähnung als Mitautorin in Einsteins Veröffentlichungen und kontinuierliche Ausgrenzung von akademischen Institutionen. Und schließlich die erzwungene Wahl zwischen einer eigenen wissenschaftlichen Laufbahn und der Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen an eine Ehefrau und Mutter. Nun sind wir heute lange nicht mehr im Jahr 1905, doch Frauen, die eine Karriere in der Wissenschaft anstreben, stoßen weiterhin auf Ablehnung, strukturelle Nachteile und gesellschaftliche Hürden.
Der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ist der wichtigste deutsche Forschungsförderpreis. Er wird seit 1985 jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen und zeichnet herausragende Spitzenforscher*innen in den Bereichen Lebens-, Sozial- und Geisteswissenschaften sowie Natur- und Ingenieurwissenschaften aus. Mit einer Preissumme von bis zu 2,5 Millionen Euro zählt er zu den höchstdotierten Wissenschaftspreisen in Deutschland.
Namensgeber des Preises ist Gottfried-Wilhelm-Leibniz, ein deutscher Philosoph, Mathematiker, Physiker, Jurist, Historiker und politischer Berater der frühen Aufklärung. Er galt zu seiner Zeit, zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert, als einer der bedeutendsten Philosophen.
Vor diesem Hintergrund zeigt unsere Netzwerkanalyse der Leibniz-Preisträger*innen zwischen den Jahren 2000 und 2010, dass auch fast 100 Jahre später die Frauen in der Unterzahl sind. Genauer gesagt stehen unter den 122 Preisträger*innen 17 Frauen, 105 Männern gegenüber.
Zwei dieser 17 Frauen sind Prof. Dr. Petra Schwille und Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, deren beider Lebenswege uns zeigen, welche Erfolge für Frauen in der Wissenschaft möglich sind und was Forscherinnen jedoch bis heute überwinden müssen.
Petra Schwille: Mit eigenen Regeln durch die Männerwelt
„Nur eine Frau und die hat auch noch kurze Haare” – so stand es 2010 in der Kommentarspalte auf der Webseite der deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), als die neuen Leibniz-Preisträger*innen bekannt gegeben wurden. Petra Schwille muss heute immer noch lachen, wenn sie daran zurückdenkt. Nicht, weil es besonders witzig gewesen wäre. Sondern weil dieser Satz so treffend den Ton einer Forschungswelt einfängt, in der Frauen noch immer als Ausnahme gelten. Als sie 2010 die Nachricht von ihrer Leibniz-Preis-Auszeichnung erhält, hat sie gerade ihre dritte Tochter bekommen. Die Situation war „kurios”, wie sie sagt, und doch befand sich Schwille in einer privilegierten Position: „Da stößt jeder auf seine Schwierigkeiten, Mann oder Frau. Aber ich hatte den unschätzbaren Vorteil, dass ich bereits Professorin war.” Ohne ihre Tagesmutter wäre eine Laufbahn wie die ihre wohl kaum machbar gewesen. Ein Balanceakt zwischen Familie und Karriere.
Dabei war Petra Schwille nie jemand, der sich in eine klassische Frauenrolle hat drängen lassen. Vielleicht beginnt ihre wissenschaftliche Karriere genau dort: In einer frühen, intuitiven Weigerung, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Als Teil der Generation X wusste sie schon immer, dass Frauen in der Forschung vorsichtig sein müssen, wenn es um Gleichbehandlung geht. „Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, genauso wie Männer behandelt zu werden.”
Aber zurück zum Anfang: Für das Physikstudium entscheidet sie sich nicht aus Schulbegeisterung, sondern aus Ähnlichkeit und Liebe zur Mathematik. Ihr Weg führt sie schließlich an das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, wo sie einem Mann begegnet, der ihren Werdegang prägen wird: Manfred Eigen, Chemie-Nobelpreisträger im Jahre 1967. Dass er ihr Doktorvater wird, war weniger Strategie als Zufall: Ein guter Moment und ein freier Platz. Doch die Arbeitsbedingungen waren anspruchsvoll und sie war viel auf sich alleine gestellt. In der Wissenschaft, sagt sie, gebe es zwei Arten von Menschen: die „totalen Teamworker” und diejenigen, die „im stillen Kämmerlein überlegen und dann durchstarten”. Petra Schwille fühlt sich eher der zweiten Kategorie zugehörig, zuerst alleine denken und dann gemeinsam weiterentwickeln, betont jedoch auch, dass ihre Karriere anders verlaufen wäre, hätte sie als sture Einzelgängerin agiert.
Neues Land, neue Perspektive
In den 1990er Jahren gab es kaum Frauen in der Wissenschaft und somit kaum sichtbare Vorbilder. Und das machte Schwille in der Frauenrolle, in der sie sich befand, besonders zu schaffen: „Mein größter Nachteil, den ich als Frau hatte, war, dass es wirklich 0,0 Vorbilder gab.” Der Gedanke, wissenschaftliche Karriere zu machen, schien zu dieser Zeit nicht selbstverständlich. Zumindest in Deutschland. Doch eine Literatur, die sie über die amerikanische Wissenschaftsszene gelesen hatte, ließ sie ahnen, wie anders Forschung sein könnte.
Ab da stand für sie fest: Das möchte sie selbst erleben. Und so ging Petra Schwille 1997 für ihren Postdoc zwei Jahre in die USA. Dort findet sie tatsächlich das erhoffte „Neue”: unter anderem einen Chef, der ihr auf die Frage nach ihrer wissenschaftlichen Zukunft einfach antwortet: „Natürlich kommst du in die Wissenschaft”. Worte, die ihr deutscher Doktorvater nie in der Art zum Ausdruck gebracht hätte. Ein neues Mindset, frischer Wind und viel Zeit zum Forschen – all das, getragen vom Gefühl kreativer Freiheit, führte sie schließlich bis an die Spitze der Forschung in Deutschland.
Die Auszeichnung mit dem Leibniz-Preis war für sie ein Karriereschub: „Das war der höchste Preis, den ich bisher bekommen hatte”, sagt sie – und er blieb nicht ohne Folgen. Schon kurze Zeit nach ihrer Auszeichnung bekommt sie den Anruf des Max-Planck-Instituts für Biochemie mit einem Stellenangebot. Sie selbst sagt dazu: „Sobald man den Leibniz-Preis gewinnt, ist die Chance immer höher, weitere Preise zu bekommen."
Barbara Stollberg-Rilinger: Vom Zufall zur Berufung
Die Geschichte unserer zweiten Leibniz-Preisträgerin weist ein ähnliches Muster auf. „Meine Karriere war eigentlich eine Serie von glücklichen Zufällen”, beginnt Barbara Stollberg-Rilinger. Geschichte habe sie in der Schule nie interessiert und eigentlich war ihr Plan, eines Tages selbst Lehrerin zu werden. Bis eine Freundin sie während ihres Studiums mit in ein Geschichtsseminar nimmt. Plötzlich ist da dieser Moment der Klarheit: „Das ist meins, das mache ich jetzt!” Ihre Assistenzstelle bei einem Neuzeithistoriker bahnt ihr den Weg zum Kernfokus ihrer Forschungen: Die frühe Neuzeit.
Zum Zeitpunkt ihrer Promotion 1985 hat sie bereits zwei Kinder, entschließt sich aber dennoch für eine Habilitation, also die Erlaubnis, an Hochschulen und Universitäten zu lehren. Die Erziehungsarbeit teilt sie sich mit ihrem Mann, bis dieser eines Tages schwer erkrankt und sie auf sich alleine gestellt ist. „Wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht habilitiert gewesen, dann hätte ich meine Karriere wahrscheinlich aufgeben müssen”, erzählt Stollberg-Rilinger. Dass ihr Mann sie überhaupt unterstützt und ihr den Rücken freigehalten hatte, war keine Selbstverständlichkeit, sondern Glück in den 1980er Jahren. „In meiner Generation waren Frauen, die überhaupt Professorinnen wurden, meistens unverheiratet und fast immer kinderlos. Das bedeutete wiederum, als Frau, die sich eine Familie wünschte, stand spätestens nach der Promotion fest: ‚Beides geht nicht’. Außer dein Ehemann stellt seine Karriere auch etwas in den Hintergrund.” Die Frage nach dem entweder-oder war damals für viele Frauen der Scheideweg: Familie gründen oder einem Universitätsjob nachgehen?
Der Zusammenbruch der damaligen DDR verschafft Barbara Stollberg-Rilinger nach ihrer Habilitation schließlich einen glücklichen Vorteil bei der Jobsuche. Die Universitäten waren bereinigt von ideologischen Historiker*innen, was einigen Wissenschaftler*innen ihrer Generation einen Karriereschub versetzte. Ihr nächster Halt: die Universität Münster. In einem Team von Kollegen und „immerhin ein paar Kolleginnen” arbeitet sie in einem historischen Sonderforschungsbereich. „Ohne das Angebot dieser Stelle wäre ich vermutlich Lehrerin geworden und hätte die Wissenschaft aufgegeben”, sagt sie. Was sie noch nicht weiß: Dieser Job wird den weiteren Verlauf ihrer Karriere enorm prägen.
Zwischen Ehrung und Ernüchterung
2005. „Ich war auf einer Tagung und wurde ans Telefon gebeten", erinnert sie sich. „Ich dachte schon, Zuhause ist etwas Schlimmes passiert, aber dann sagte eine Stimme am Telefon: ‚Weißt du was, du hast den Leibniz-Preis gewonnen.‘” Überraschung und Überwältigung zugleich. Wer sie nominiert hat, weiß Barbara Stollberg-Rilinger bis heute nicht. Sie selbst wäre die Letzte gewesen, die ihren eigenen Namen für einen Preis vorgeschlagen hätte. „Für mich war schon der Wahnsinn, als ein Aufsatz von mir das erste Mal zitiert wurde.” Der Leibniz-Preis war der erste Preis, mit dem sie jemals ausgezeichnet wurde. „Danach kamen alle möglichen Preise. Ich meine, Sie kennen das Matthäus-Prinzip", lacht sie. Für alle, die es nicht kennen: Der Matthäus-Effekt nach Robert K. Merton beschreibt einen Erfolg, der dazu führt, dass sich weitere Erfolge mit höherer Wahrscheinlichkeit ergeben. Der Begriff bezeichnet unterschiedliche Phänomene und bezieht sich dabei auf den ersten Teil im Matthäus-Evangelium: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“
Weil Frauen in der Wissenschaft grundsätzlich unterrepräsentiert waren, führte dies bei Auszeichnungen paradoxerweise zu einem strukturellen Vorteil. Sobald eine Institution eine Frau ehrte, fühlten sich andere veranlasst nachzuziehen. Auf einmal wollte jedes Gremium eine Frau vorweisen können. Kein Zeichen von tatsächlicher Repräsentation, sondern ein „so tun als ob”. Die Auszeichnungen blieben laut Stollberg-Rilinger jedoch der einzige strukturelle Vorteil, den Frauen in der Wissenschaft erfuhren.
Es sei ganz natürlich gewesen, dass Stellenausschreibungen an Universitäten nur für Männer bestimmt waren. Sie erinnert sich an die Anekdote einer Kollegin in Oxford. Der Aushang für eine Stelle wurde dort lediglich im Männerklo befestigt. „Die Frau könnte ja schwanger werden oder zu viel Zeit für ihre Kinder brauchen, der Mann muss schließlich die Familie ernähren und braucht die Stelle deswegen dringender”, erklärt sie die Ansichten der Gesellschaft in den 1980er Jahren. Doch nicht nur diese Erwartungshaltungen hätten die Frauenrolle geprägt, sondern auch Entmutigung durch männliche Kollegen. Sie erinnert sich zurück an die Feierlichkeiten ihrer abgeschlossenen Promotion, als ein älterer Kollege sie beiseite nahm und sagte: „Frau Stollberg-Rilinger, dass Sie hier jetzt promoviert haben ist schön und gut, aber das ist ja dann auch gut jetzt.” Von Frauen in der Wissenschaft wurde regelrecht erwartet, dass sie nach ihrer Promotion nun ihre Arbeit an Schulen fortsetzten und die Plätze für eine Habilitierung den Männern frei machten.
Wenn Barbara Stollberg-Rilinger heute auf ihre Laufbahn zurückblickt, ist ihr bewusst, dass sie vieles den immer wiederkehrenden glücklichen Fügungen zu verdanken hat. „Ich meine, ich halte mich nicht für eine schlechte Historikerin, aber ich habe nie strategisch auf eine Professur hingearbeitet.“ Ihr Sohn, ebenfalls in der Wissenschaft tätig, fasst unverblümt zusammen: „Verhält man sich heute so wie du damals, dann hat man keine Chance auf eine Karriere in der Wissenschaft. Als Frau erst recht nicht, aber selbst als Mann nicht mehr unbedingt."
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Wie viel Vernetzung verträgt die Wissenschaft?
Als zwei der wenigen Frauen, in einem männerdominierten Wissenschaftsnetzwerk, sind sich Petra Schwille und Barbara Stollberg-Rilinger einig: Vernetzung ja, aber in einem gewissen Maß. Laut Schwille sei es umso wichtiger, für sich selbst zu entdecken, wer man eigentlich ist und was man in der Wissenschaft machen möchte. Erst dann brauche es ein passendes Umfeld, das zugleich unterstützt und inspiriert. Stollberg-Rilinger wiederum eröffnete der Leibniz-Preis die Möglichkeit, junge Wissenschaftler*innen zu fördern. Eine Aufgabe, die sie bewusst nutzt. Doch nicht grenzenlos. „Patronage hat in der Wissenschaft eigentlich nichts verloren“, stellt sie klar. Netzwerke und Beziehungen würden durchaus Türen öffnen, Karrieren beeinflussen und Aufmerksamkeit erzeugen. Doch genau deshalb, sagt sie, müsse ein Grundsatz unantastbar bleiben: Persönliche Beziehungen dürfen nie ersetzen und nie schwerer wiegen, als das, was am Ende zählt – die Qualitätskriterien eines Forschers oder einer Forscherin.
„Wenn „Work” nicht „Life” ist, dann sollte man es gar nicht erst versuchen.“
Zum Abschluss gibt es ein paar Tipps der beiden, gerichtet an junge Forscherinnen: Die Motivation für diesen Beruf muss intrinsisch sein. Ansonsten wäre das Risiko zu scheitern, zu hoch. „Wenn „Work” nicht „Life” ist, dann sollte man es gar nicht erst versuchen“, so Petra Schwille.
Barbara Stollberg-Rilingers Tipp: „Augen auf bei der Partnerwahl”, witzelt sie. Denn ohne Rückhalt und Entlastung durch den Partner oder die Partnerin hätte man, wie bereits zu Zeiten von Mileva Marić, keine Chance, Familie und Karriere unter einen Hut zu bekommen.
Für diesen Beitrag haben wir eine soziale Netzwerkanalyse durchgeführt. Untersucht wurden die Verbindungen von Leibniz-Preisträger*innen zwischen den Jahren 2000 und 2010 zu deren Institutionen bei Preisgewinn und weiteren Auszeichnungen.
Die Informationen zur Analyse stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen, darunter der Webseite der DFG und der Leopoldina: Nationale Akademien der Wissenschaften.
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