Hilfsorganisation

Zwischen Schreibtisch und Kriegsfront

Gründer der Hilfsorganisation STELP Steffen Schuldis und Serkan Eren
01. Juni 2022
Der eine Gründer der Organisation STELP sitzt in Stuttgart am Schreibtisch, der andere Gründer ist in Charkiw und wird von russischen Bombardements gestört. Wir haben mit Steffen Schuldis und Serkan Eren über ihre unterschiedliche Arbeit gesprochen, die aber ein Ziel verfolgt.

Serkan Eren erlebt 2009 bei einem Autounfall eine Nahtoderfahrung. Die Sanitäter müssen ihn reanimieren. Aus diesem Schicksalsschlag heraus kämpft sich Serkan wieder zurück ins Leben. 2016 gründet er mit Steffen Schuldis zusammen eine Hilfsorganisation. STELP soll die Organisation heißen, die Wortkombination aus Stuttgart und help. Steffen Schuldis und Serkan Eren arbeiten ganz unterschiedlich, aber verfolgen ein Ziel: Denjenigen helfen, denen es in Ausnahmezuständen am schlechtesten geht.

Wo bist du gerade und was ist ganz konkret deine Aufgabe? 

Serkan: Ich bin gerade in Charkiw. Wir müssen Lebensmittel reinbringen. Leute evakuieren. 

Serkan Erens Blick wendet sich immer wieder der Kamera ab. Er hat einen Helm und eine schusssichere Weste an und sitzt auf einer Treppe, im Hintergrund ein großes Gebäude. Er wird im Laufe des Interviews immer wieder aufstehen und einen verlassenen, großen Platz ablaufen und sich dabei nervös umsehen. 

Wie ist dein Eindruck? Beschreibe mal, was du siehst, wie du die Menschen erlebst.

Serkan: Erst mal muss ich mich entschuldigen, falls ich abbrechen muss. Also das ist nicht gefaket mit dem Helm und mit der schusssicheren Weste. Ich bin ganz im Osten der Stadt. Wir werden bestimmt in den nächsten paar Minuten auch Raketeneinschläge hören. Die Ukraine kann man nicht als Land im Ganzen betrachten, sondern im Osten ist es ziemlich gefährlich und im Westen gibt es Städte, in denen eigentlich normales Leben stattfindet. Aber hier müssen sich die Leute in Bunkern verstecken…. Hat man das gehört? Also das war ein großer Einschlag. Vielleicht sehe ich gleich irgendwo eine Rauchwolke. 

Serkan steht von der Treppe auf und schaut angespannt in die Ferne, um den Standort des vernommenen Einschlags zu lokalisieren. 

Woher wisst ihr von diesen Menschen, die ihr evakuiert?

Serkan: Wir haben eine E-Mail-Adresse eingerichtet, über die sich Leute melden können. Es sind meistens Leute, die in Deutschland sind und noch in der Ukraine Verwandte haben, zu denen Kontakt aufgenommen wird. Wir müssen dann Fragen stellen, wie zum Beispiel: ‚Wie alt ist die Person?‘ ‚Wo ist sie?‘ Einfach ein paar Aussagen über die Situation und dann teilen wir diese E-Mails in Prio eins bis vier ein. Prio vier lassen wir außen vor, das sind Männer, die das Land gar nicht verlassen dürfen. Wir können uns aktuell fast nur um Prio eins kümmern. Das sind dann Babys und Schwerverletzte zum Beispiel.

Wie ist dein Vorgehen vor Ort, hast du ein Beispiel?

Serkan: Wir bringen Lebensmittel, Medizin und Hilfsgüter her und evakuieren Menschen, die besonders vulnerabel sind, also besonders schutzbedürftig. Babys und überwiegend ältere Leute, aber auch Schwerverletzte. Ich habe erst letzte Woche eine Dame nach Deutschland ins Stuttgarter Krankenhaus bringen können, die angeschossen wurde. Sie wurde in der Hüfte getroffen. Ich habe sie dann in einer 25-stündigen Autofahrt aus dem Land geholt und direkt ins Krankenhaus gefahren, wo sie direkt noch operiert wurde.

Wir bei STELP wollen Menschen begeistern, ihre Fähigkeiten für die gute Sache einzusetzen.

Steffen Schuldis

Was treibt dich an, selbst in die Ukraine zu fahren und zu helfen? Du könntest auch von Stuttgart aus unterstützen. 

Serkan: Wir stehen dafür, dass wir die Spendengelder nicht aus der Hand geben. Wir haben nicht nur den großen und den reichen Unternehmer, der uns Geld spendet. Wir haben auch die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die am Ende des Monats uns ihre zehn Euro in die Hand drückt. Da will ich garantieren, dass die bei den Menschen vor Ort ankommen.

Wie gehst du damit um, was du von diesem Krieg miterlebst und siehst? Nimmst du das in diesem Moment auch wahr oder ist man so im Helfer-Modus, dass man das vielleicht erst viel später realisiert?

Serkan: Das werde ich wahrscheinlich erst merken, wenn das hier vorbei ist. Aktuell habe ich das Gefühl, dass ich es verarbeitet bekomme. Aber das habe ich in Beirut bei der Explosion auch gedacht. Ein paar Tage danach, als ich in Deutschland war, kam alles hoch und das kann natürlich hier auch passieren. Ich bin tatsächlich seit vier Wochen im Dauerstress. Es gab keine Minute, in der ich mich mal ausruhen konnte. 

Eine Frau unterbricht das Interview und teilt Serkan Eren mit, er solle sich in Sicherheit bringen. Die Situation wird sehr schnell noch angespannter und hektischer. Im Hintergrund wird von einem Sturm und einer neuer Offensive der russischen Truppen gesprochen…Serkan muss das Interview verlassen.

Wo befindest du dich gerade?

Steffen: Ich sitze hier im sicheren Stuttgarter Westen, in der Johannesstraße. Hier ist alles ruhig, außer meine Kollegin, die nebendran auch ein Meeting hat, mit einem Unternehmen welches uns unterstützen möchte. 

Steffen hat einen sichtlich leichteren und entspannteren Ausdruck im Gesicht und strahlt an seinem Bürotisch den Gegensatz zu Serkans angespannter Situation aus. 

Und was treibt dich an? 

Steffen: Wir wollen etwas zurückgeben und es ist ein totales Privileg, dass wir diese Arbeit machen können und machen dürfen, auch wenn unser Ziel eigentlich ist, uns abzuschaffen. Am besten wäre es natürlich, wenn wir gar keine Hilfe leisten müssten.

Wenn man Serkan in dieser gefährlichen Situation, so nah an der Front sieht, dann ist das für ihn logischer weiße eine schwierige Situation, aber belastet so etwas auch euch in der STELP-Zentrale?

Steffen: Ja, aber deswegen bin ich ganz happy, dass ich im Office bin und das ganze Organisatorische machen kann. Da ist man nicht ganz so nah dran, weil es vor Ort auch emotional schwierig ist. Euch gehen wahrscheinlich jetzt auch 100 Gedanken durch den Kopf, wenn man den Serkan da sieht, und Bomben schlagen ein, das ist natürlich sein eigenes Risiko, das er da eingeht. Aber er ist davon überzeugt, dorthin zu gehen, wo der Impact am größten ist. Viel weiter kann man dann auch nicht mehr gehen, wenn man nicht komplett bekloppt ist. Wir machen es uns nicht einfach.

Wie funktioniert die Arbeitsteilung?

Steffen: Ich kann Leute miteinander verknüpfen, wo ich denke, dass ein Mehrwert entsteht. Das ist glaube ich, meine Stärke. Wir ergänzen uns einfach von Anfang an schon sehr gut, weil Serkan mit dem Herzen und emotional dabei ist und ich mit dem Kopf. Serkan dehnt die Grenzen aus und ich bin der, der auf die Bremse geht. Das geht ihm auf die Nerven, aber so können wir das maximale Ergebnis herausholen. Serkan will einfach auch vor Ort sein und vor Ort selbst anpacken. Wir unterstützen ihn und unser Team dabei, so gut es geht, dass sie dort vor Ort ihre Arbeit machen können.

Wie kannst du Serkan unterstützen?

Steffen: Ich habe von Anfang an diese Sachspenden-Transporte mitorganisiert und aufgebaut. In den letzten Wochen ist es aber weniger geworden, weil wir weniger Spendeneinnahmen hatten. Das machen mittlerweile ein paar Ehrenamtliche. 
Wir haben das Glück, dass ein Unternehmen uns anderthalb Mitarbeiter zur Verfügung gestellt hat, die Logistik-Experten sind. Diese sind Dreh- und Angelpunkt, wenn es um unsere Logistik geht.

Welche Aufgaben stehen denn bei solchen Transporten an?

Steffen: Man muss sich um die ganze Zollabfertigung kümmern, Anmeldungen, Sachen, von denen wir natürlich am Anfang gar keine Ahnung hatten. Auch Banalitäten wie Fahrer*innen, LKW-Versicherungen, Kennzeichen für die Anmeldung sind Themen, mit denen man sich beschäftigt. Diese ganze Bürokratie übernimmt nun ein Profi für uns, zu dessen Tagesgeschäft das alles gehört.

Inzwischen hat STELP 39 LKW´s mit jeweils circa 33 Paletten in die Ukraine bringen können. Diese circa 900 Tonnen Lebensmittel, Medizin, Klamotten, Schutzausrüstungen und vieles mehr, sorgen in Krisengebieten wie der Ostukraine für lebenserhaltenden Maßnahmen. Serkan Eren wirkt bei diesen Transporten aktiv mit und berichtet aus diesen Situationen heraus. Die gewonnene Aufmerksamkeit der Berichterstattung wirkt sich beispielsweise in Form von Spendengeldern aus. Diese werden dann dazu genutzt, um Hilfsgüter für die Menschen in der Ukraine zu kaufen.

Das Bundesministerium hat ein Mandat erteilt, dass euch ermöglicht auf Lebensmittel für die Ukraine zurückzugreifen. Wie genau bekommt ihr diese Unterstützung?

Steffen: Das Ministerium hat uns mit Test-Lieferung geprüft. Die haben uns erst kleine Mengen gegeben und waren dann überrascht, dass wir innerhalb von ein paar Stunden einen LKW an deren Lager in Polen hatten. In der aktuellen Situation hilft natürlich auch, dass Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir als Stuttgarter einen guten Draht zu Serkan hat und dass hier ein Vertrauen da ist. 

Wie kann man euch unterstützen und helfen?

Steffen: Serkan nimmt ganz gern das Beispiel des Kfz-Mechanikers, der sagt: ‚Ich würde gern helfen, aber ich bin halt nur ein Kfz-Mechaniker.‘ Dann muss man überlegen, die Fähigkeiten und die Power zu nutzen, die zur Verfügung stehen. Fundraising ist zum Beispiel ein ganz großes Thema bei uns. Der Mechaniker kann beispielsweise eine Reifenwechsel-Aktion machen. Für jeden gewechselten Reifen wird der Erlös dann gespendet.

Gibt es auch ein konkretes, reales Beispiel?

Steffen: Ja, heute Morgen erst haben sieben zehn- bis elfjährige Mädels Muffins gebacken und verkauft.  Sie kamen vorbei und haben 500 Euro an uns gespendet. Nur mit einer Muffin-Back-Aktion. Und so kann jeder mit dem, was er kann, sich einbringen. 

Dieses Interview fand am 26.04.2022 im Rahmen der Gesprächsreihe „Information und Desinformation im Ukraine-Krieg“ statt. Serkan Eren befand sich zum Zeitpunkt des Interviews in Charkiw (Ostukraine) und Steffen Schuldis in Stuttgart West.