Radunfall 6 Minuten

„Ein Schicksalsschlag ändert dein Wesen nicht.“

Stefan mit seinem Liegefahrrad bei einem Marathon im Nettetal.
Mit Tempo und Ausdauer - Stefan bei seinem Liegefahrrad-Marathon in Nettetal 2019 | Quelle: Stefan Kretzschmar
12. Dez. 2023

2006 - für viele ein Sommermärchen in Deutschland. Für Stefan Kretzschmar wurde dieser Sommer jedoch zu einem wahr gewordenen Albtraum. Damals war er herkömmlicher Rennradfahrer, heute sieht seine Realität völlig anders aus. Eine Geschichte über einen Unfall, der ein ganzes Leben auf den Kopf stellte.

Stefan und sein Freund nehmen in diesem Sommer an der Jeantex Tour Transalp teil. Einer der bedeutendsten Rennrad-Events in Europa mit atemberaubender Strecke durch die Alpen. In Zweierteams fahren sie von Oberammergau bis zum Gardasee, innerhalb einer Woche. Sie starten die Tour und meistern die erste Etappe in Bestzeit. Nach einer erholsamen Nacht geht es am nächsten Morgen weiter. „Es gab auf der zweiten Etappe schon ein kleines Missgeschick, beziehungsweise ein großes“, erklärt Stefan. Den Berg runter, in die Ortschaft rein. Auf dem holprigen Untergrund des Gebirges bleibt sein Vorderrad in einem Schlagloch hängen, der Lenker verdreht sich und er verliert schließlich die Kontrolle über das Rad. Mit dem Kopf voraus, stürzt er in eine Mauer. Er richtet sich auf und merkt schnell, dass er unversehrt geblieben ist. Am nächsten Tag geht es auf die dritte Etappe bis Wolkenstein. „Dort war meine letzte Nacht, die ich als Fußgänger verbrachte“, sagt Stefan nachdenklich. 

Der Tag, der sein Leben veränderte...

29. Juli 2006. Es ist kalt in den Dolomiten und es regnet in Strömen. Nicht die besten Bedingungen für ein Radrennen im Gebirge. Doch das schüchtert die jungen Männer nicht ein. Immerhin sind sie unter den Top-Leuten ganz vorne mit dabei. Und los geht es, begleitet von einem einzigartigen Panorama. Es ist der letzte schwere Aufstieg über den Passo Duran, kurz vor der Abfahrt. 40 km/h zeigt sein Tacho an. Das ist das Letzte, an das sich Stefan erinnert.

Er wacht in einem italienischen Krankenhaus auf und spürt seinen Körper unterhalb der Brust nicht mehr. Er hat einen Halswirbelschaden durch einen Sturz erlitten, erklären ihm die Ärzte. Mehrere Wirbel sind gebrochen, durch die der Spinalkanal verläuft. Er wurde sofort notoperiert, um den Schaden so gering wie möglich zu halten. 

Nach einer Woche wird er in die Tübinger Klinik verlegt. Klapperdürr, mit nur acht Prozent Körperfett, kämpft Stefan um sein Leben. Die Tragödie nimmt jedoch noch kein Ende. Neben seinen anderen Verletzungen stellen die Ärzte ein Loch in seiner Speiseröhre fest. Stefan muss über eine Magensonde künstlich ernährt werden. Seine Bauchdecke ist so dünn, dass diese nicht hält und die zugeführte Nahrung in seinem Bauchraum ausläuft. Die nächste Notoperation und danach sofort auf die Intensivstation. Die Pfleger meinen zu seinen Eltern: „Wenn er jetzt nicht will, dann stirbt er.“ Doch Stefan will, kämpft und überlebt zig weitere Operationen. 

Sechs Monate kann er weder selbstständig essen, sprechen, noch sich bewegen. Tag für Tag vegetiert er vor sich hin, ans Bett gefesselt und verliert trotzdem nie seinen Willen. 

„Wenn er jetzt nicht will, dann stirbt er.“

Pfleger aus der Tübinger Klinik

Nach einem halben Jahr geht es für Stefan endlich wieder bergauf. Im Frühjahr 2007 kann mit der Mobilisierung begonnen werden. Vorsichtig wird sein Kreislauf wieder in Schwung gebracht. Schritt für Schritt zurück ins Leben kämpfen, so wie er es Kilometer für Kilometer bei seinen Wettkämpfen tat. Noch so alltägliche Dinge muss er neu erlernen, da er nie wieder seine normale Körperfunktion zurückbekommt. Doch er hat schon sein nächstes Ziel im Auge: Das Krankenhaus mit einem mechanischen Rollstuhl zu verlassen, um ein Handbike benutzen zu können. Und so trainiert er, Tag für Tag, auf den langen Krankenhausfluren. „Ich habe trainiert, damit ich stärker, besser und kräftiger werde“, erzählt Stefan. 

Er ist durch viele Höhen und Tiefen gegangen. In seiner Klinikzeit versuchte Stefan, seine Positivität nicht zu verlieren. Er beschreibt sich selbst als „gnadenlosen Optimisten“ und sagt: „Dieser Kampfgeist ist einfach in mir drin und der bleibt.“ Auch seine Familie und Freunde gaben ihm viel Kraft in dieser schweren Zeit. 

Tetraplegie

Die Form der Lähmung, die Stefan durch den Unfall erlitten hat, wird als Tetraplegie bezeichnet. Dies ist eine Form der Querschnittlähmung, die sowohl die Arme als auch die Beine betrifft. Die Hauptursache ist meist eine schwere Schädigung des Rückenmarks im Halswirbelbereich. Diese Schädigung kann durch traumatische Erlebnisse, Tumore, Infektionen oder Erbkrankheiten entstehen. Durch die Tetraplegie haben die Betroffenen meist starke körperliche und gesundheitliche Einschränkungen, weshalb sie auf die Hilfe und Pflege anderer angewiesen sind. 

Quelle:  Deutsche Fachpflege  

 

Sein Leben vor dem Unfall

Stefan Kretzschmar, ein Mann, dessen Leben von sportlichen Abenteuern geprägt war. Geboren 1969 in der damaligen DDR, verbrachte er seine Kindheit in einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt. Schon früh entdeckte Stefan seine Leidenschaft zum Sport. Mit zehn Jahren fand er zum Skilanglauf und sammelte zahlreiche Medaillen bei internationalen Marathons. Wintertriathlons, die aus Schneelauf, Skilanglauf und Mountainbiken im Schnee bestanden, entflammten seine Liebe zum Radsport. „Im Prinzip habe ich ein bisschen gearbeitet und den Rest Sport gemacht, ich war mit dem Sport verheiratet“, beschreibt Stefan mit einem Lächeln sein Leben zu dieser Zeit. Der Höhepunkt seiner sportlichen Karriere war 2005 der Ironman in Österreich. 4 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42 km Laufen bewältigte er in nur unter zehn Stunden.

517 Tage später…

Nach 17 Monaten kann Stefan endlich entlassen werden. Mit nur 37 Jahren sitzt er von nun an für immer im Rollstuhl, Brust abwärts gelähmt und ohne Rumpfmuskulatur. Doch Stefan ist motiviert. Er will so schnell wie möglich zurück in seinen Alltag und zu seiner Leidenschaft, dem Sport. 

Täglich trainiert er im Freien, anfangs braucht er eine Stunde für 500 Meter und bald nur noch zehn Minuten. „Wenn du einen schweren Schicksalsschlag hast, dann versuchst du das, was du gut kannst, wieder zu machen“, meint Stefan. Er kauft sich ein Handbike, nimmt 2009 an seinem ersten Halbmarathon teil und wird Mitglied eines Handbiketeams. Stefan betont sein Glück bei der Genesung, da es durchaus auch anders laufen kann. Die Erhaltung seiner Armfunktion ermöglicht ihm das Bedienen des Handbikes. Schon bald kauft er sich auch sein Liegefahrrad, das ebenso ausschließlich mit Armkraft bedient wird. Sport wird zur Form seiner Therapie und gibt Stefan seinen Lebenswillen. Schon vor dem Unfall war er schlecht gelaunt, wenn er keinen Sport treiben konnte und daran hat sich bis heute nichts geändert. „Ein aktiver Mensch bleibt ein aktiver Mensch und eine Couch-Potato bleibt eine Couch-Potato“, sagt Stefan.

„Ein aktiver Mensch bleibt ein aktiver Mensch und eine Couch-Potato bleibt eine Couch-Potato.“

Stefan Kretzschmar

In Stefan schlummerte ein unerfüllter Wunsch, die nicht zu Ende gefahrene Etappe am Passo Duran zu beenden. Ein „Etappentod“ zu akzeptieren, war für ihn nicht denkbar. Und somit kehrt Stefan 2015 an seinen Unfallort zurück. Es ist seltsam, an dem Ort zu sein, der sein Leben veränderte. Doch er stellt sich seinen Ängsten und schöpft Mut aus seinem Willen. Mit seinem Liegefahrrad beendet er erfolgreich die Etappe und setzt damit ein beeindruckendes Zeichen.

Stefan auf seinem Rennrad beim Ironman 2005 in Österreich.
Stefan zeigt beeindruckende Ausdauer auf der 180km Radfahretappe des Ironman in Österreich 2005 | Quelle: Stefan Kretzschmar
Stefan überquert die Ziellinie des Ironman 2005. Über ihm ist eine Stoppuhr, die 9.58.22 Stunden anzeigt.
Stefan überquert das Ziel des Ironman 2005 mit einer herausragenden Leistung von weniger als zehn Stunden | Quelle: Stefan Kretzschmar
Stefan im November 2006 auf der Intensivstation in Tübingen
Stefan im November 2006 auf der Intensivstation in Tübingen | Quelle: Stefan Kretzschmar
Die Ärzte und Pfleger nach der Teilnahme bei einem Triathlon zur Unterstützung von Stefan. Sie halten ein Plakat in der Hand mit der Aufschrift: „für Stefan Kretzschmar“.
Gemeinsam stark - Ärzte und Pfleger nehmen zur Unterstützung und Motivation von Stefan, an einem Triathlon teil | Quelle: Stefan Kretzschmar
Stefan probiert mit seinem mechanischen Rollstuhl ein Handbike aus.
Stefan probiert das erste Mal ein Handbike aus | Quelle: Stefan Kretzschmar
Stefan im Liegefahrrad am Passo Duran, seinem Unfallsort.
Acht Jahre nach seinem Unfall beendet er die Etappe am Passo Duran mit seinem Liegefahrrad | Quelle: Stefan Kretzschmar

Trotz seines Schicksalsschlags hat Stefan niemals aufgehört, an sich zu glauben, zu kämpfen und positiv zu bleiben. Seine Geschichte dient als Vorbild für all die, die mit Herausforderungen konfrontiert sind. Obwohl wir nicht unser Schicksal in der Hand haben, haben wir doch die Macht über unsere Einstellung. Stefan hat sein Schicksal angenommen und versucht, das Beste daraus zu machen. Trotz seiner Querschnittslähmung fährt er heute wieder Fahrrad – nur eben anders.