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Digitale Unsterblichkeit: Trauerspiel statt Trauerbewältigung

Bald schon wird der Besuch am Grab durch ein Telefonat mit Verstorbenen ersetzt.
10. Juni 2023

„Was wäre, wenn Tote anfangen würden, zu twittern?“. Eine Frage, die sich Stephen King bereits vor geraumer Zeit stellte, wird bald zur bitteren Realität.

Die Vorstellung daran, bald mit Klonen verstorbener Menschen über Twitter, Telefon und co. in Kontakt treten zu können, klingt gruselig. Das Metaverse ist mit seinen „Digital Twins“ nicht mehr weit davon entfernt. Und auch andere Unternehmen werben mittlerweile damit, riesige Datenmengen analysieren und somit das menschliche Bewusstsein kopieren zu können. Dabei werden Chatnachrichten, Audio- und Bildsequenzen verwendet, um Sprechstimme und Gesicht der toten Personen nachzubauen. Denkt eine derartig progressive Gesellschaft also wirklich, sie könne die Persönlichkeit verstorbener Menschen einzig und allein an deren Online-Nutzung festmachen? Wie primitiv.

Bereits im Jahr 2016 wurde eins der ersten Pilotprojekte zur digitalen Unsterblichkeit in Südkorea getestet. Eine Frau, die ihre Tochter in Folge einer schweren Krankheit verlor, traf die animierte Version des Kindes in einer virtuellen Realität wieder. Mit VR-Brille auf den Augen und Sensorhandschuhen an den Händen war die Mutter in der Lage, das Kind zu sehen und Berührungen wahrzunehmen. Die Künstliche Intelligenz antwortete der Mutter sogar in Echtzeit. Nach seiner Veröffentlichung wird dem Pilotprojekt große und vorwiegend positive Aufmerksamkeit in den Medien geschenkt. Auch, wenn das virtuelle Kind deutlich anders aussieht, als die verstorbene Tochter (wie es die Angehörigen später anmerken).

Auf diese neue Form der Trauerbewältigung reagieren Expert*innen jedoch besorgt. Das bewusste Abschiednehmen geliebter Personen ist ein wichtiger Prozess, um Verluste zu realisieren. Jener Kontakt mit digitalen Kopien kann dazu führen, dass dieser Prozess sich verzögert oder Betroffene den Tod eines Menschen nicht verarbeiten. Die Folgen: Psychische Reaktionen wie Traumata und Trauerstörungen.

Tote Menschen bleiben tot

Mindestens genauso beunruhigend aber ist es, dass dieses digitale Gegenüber den verstorbenen Menschen nicht wieder zum Leben erweckt. Stattdessen werden Tote mit Datenschnipseln aus der Cloud imitiert. Diese digitalen Zwillinge lassen also Tote weder auferstehen noch können sie die menschliche Seele vollends abbilden.

Und nicht nur das: Auch medienrechtlich stellt diese pietätlose Entwicklung die Justiz vor große Herausforderungen. Dazu gehören neue Regelungen des digitalen Nachlasses und der Analyse persönlicher Daten. Die Online-Intimsphäre wäre somit gleich null.

Dennoch scheinen diese neuen Entwicklungen für eine Gesellschaft, die den Tod noch immer weitgehend tabuisiert, sehr verlockend zu sein. Bis heute wird kaum darüber gesprochen: Das Sterben findet meist hinter vorgehaltener Hand statt. Beileidsbekundungen sind gepaart mit unbeholfenem Herumstottern; Nahestehende verstorbener Personen kriegen nicht einmal freie Tage, um sich mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Stattdessen sollte der Tod als Teil des natürlichen Lebenskreislaufs und die damit einhergehende Trauer als notwendige Reaktion darauf gesehen werden. Endlichkeit zeigt im ganz positiven Sinne, dass Zeit ein kostbares Gut ist, das bewusst genutzt werden muss.