Schulverweigerung
Wieso gehst du nicht zur Schule, Kind?

23 Oct 2023
Schulverweiger*innen sind faul, machen nie ihre Hausaufgaben und schwänzen unbekümmert den Unterricht – könnte man meinen. Ein Blick in eine Wohngruppe für junge Mädchen, die die Schule verweigern, zeigt, dass das Problem vielschichtiger ist.Sinan Korkmaz
Crossmedia-Redaktion/Public Relationsseit Sommersemester 2022
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Das Haus macht einen überraschend unscheinbaren Eindruck. An der Tür fehlt jeder Hinweis auf eine soziale Einrichtung. Es wirkt sehr heimisch, von außen wie von innen. Der Eingangsbereich ist einer, wie man ihn aus jedem Einfamilienhaus kennt. Den einzigen Hinweis auf eine Wohngruppe liefern die zahlreichen Schuhständer mit Mädchenschuhen darin sowie eine große Pinnwand mit Porträts und Namensschildern der fünf Betreuerinnen und sieben Bewohnerinnen. Sehr unterschiedliche Mädchen, die jedoch eines gemeinsam haben: Sie sind Schulverweigerinnen. In Deutschland gibt es nach Expertenschätzungen jedes Jahr etwa 300.000 Kinder und Jugendliche, die sich weigern, die Schule regelmäßig zu besuchen. Die Intensivwohngruppe Edith-Stein der Vinzentius Jugendhilfe in Donzdorf bietet diesen Schülerinnen die Möglichkeit, sich „auf die Rückkehr in die öffentliche Schule, nach Hause oder eine andere Betreuungsform vorzubereiten“ – steht es auf der Website, der gemeinnützigen Organisation.
Die Herausforderungen von Schulverweiger*innen
*Josephine ist 15 Jahre alt. In ihrer Freizeit tanzt sie und verbringt Zeit mit ihren Freunden. Seit etwa einem Jahr gehört sie zur Wohngruppe Edith-Stein, genauso lange wie *Leonie. Zu den Hobbys der Zwölfjährigen gehören reiten, zeichnen und ihre freiwillige Arbeit in der Jugendfeuerwehr.
Dass die beiden Mädchen heute in einer Wohngruppe leben, war eine gemeinsame Entscheidung des Jugendamts und ihrer Familien. Doch die Zustimmung der Mädchen selbst bildete eine entscheidende Voraussetzung für ihre Aufnahme. Edith-Stein ist ein Ort zum Lernen – nicht nur für die Schule. Viel eher lerne man hier, die Herausforderungen zu bewältigen, die oft Ursache für die Schulverweigerung sind, erklärt Klaus Schubert, Fachdienst der Wohngruppe. Nach ihm können sich diese auf unterschiedliche Arten äußern: Mobbing, Schulangst, Introvertiertheit oder das Aufwachsen in sozial prekären Verhältnissen sind nur der Anfang einer langen Liste. Fortgeführt wird sie von Josephines und Leonies Erlebnissen.
„Die Motivation war immer da“, erzählt Josephine, während sie nervös die Arme verschränkt und immer wieder hoch zur Decke schaut. Es wirkt, als müsse sie ihre Erinnerungen erst einmal sortieren. Bei insgesamt acht Jahren ihres Lebens, die Josephine in Wohngruppen gelebt hat, ist das nicht verwunderlich. Sie führt fort: „Aber sobald es im Klassenzimmer laut wird, kann ich mich nicht mehr konzentrieren und mir auch nichts mehr merken.“ Das lag nicht zuletzt daran, dass Josephines familiäre Situation sie in der Vergangenheit oft belastete, wie sie zu einem späteren Zeitpunkt des Gesprächs erzählt.
Auch Leonie ist, wie Klaus Schubert sagt, „ein sehr fittes Mädchen“. Und das merkt man. Neben ein paar wenigen Redepausen antwortet sie immer überlegt. Ihre aktive Teilnahme am Unterricht ging letztendlich in einer störenden Kulisse lauter Mitschüler und vereinzelter, wenn auch nicht ernst gemeinter, Rangeleien unter, erklärt Leonie. Dabei spielt sie nervös mit ihren Haaren und zupft im Verlauf des Gesprächs unaufhörlich an ihrer Kleidung. Leonies Psychotherapeut stellte eine Handysucht bei ihr fest, die zunehmend ihre Aufmerksamkeit hemmte – festgelegte Zeiten für die Handynutzung helfen ihr jetzt dabei, Prioritäten zu setzen.
Schließlich soll die Wohngruppe nicht nur ein Ort zum Wohnen sein, sondern auch eine strukturierte Umgebung, in der Regeln einen wichtigen Platz einnehmen: Individuelle Handy- und Ausgehzeiten sollen eine klare Ordnung im Alltag schaffen und die Selbstständigkeit fördern. „Unser Ansatz ist ein Kompromiss zwischen Fordern und Fördern“, fügt Klaus Schubert dieser Information hinzu. Deshalb auch die morgendlichen Weckrufe, die gemeinsamen „Hausi-Zeiten“ sowie die Begleitungen zur Schule – die Betreuerinnen stehen den Mädchen der Wohngruppe auf ihrem Weg Schritt für Schritt zur Seite. Und das nicht nur in schulischen Fragen, sondern auch in der persönlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung.
Die Möglichkeiten von Edith-Stein
Die Schule ist einer der wohl prägendsten Orte in der Entwicklung jedes Kindes. Dort lernt man nicht nur zu lesen, schreiben und zu rechnen, sondern auch den Umgang mit seinen Mitmenschen, mit seinen Freunden. Dort knüpft man neue Beziehungen, erlebt Bestätigung und Erfolge und arbeitet an sich, bis man aus den ersten Triumphen Selbstvertrauen schöpft und daran wächst.
Josephine hat in dieser Wohngruppe die Motivation wieder gefunden, berichtet sie, in die Schule zu gehen, und hat so nun auch ihren Hauptschulabschluss gemacht. Hier hat sie gelernt, sich auch um andere zu sorgen, Vertrauen sowohl zu ihren Mitbewohnerinnen als auch zu den Betreuerinnen aufzubauen und neue Beziehungserfahrungen zu sammeln. Im August dieses Jahres verließ sie die Wohngruppe und geht in einem Orientierungsjahr nun ihren Interessen nach. Auch Leonie hat hier den Mut gefasst, wieder in die Schule zu gehen und aus der Isolation heraus neue Freunde zu finden, erzählt sie. Die enge Gemeinschaft dieser Wohngruppe schenkt ihr Kraft und stärkt ihre Selbstständigkeit. Die Schule mit Schwerpunkt auf sozial-emotionale Förderung leistet durch ihre kleinen Klassen und die individuelle Förderung einen Beitrag zur Neudefinition ihres Schulerlebnisses.
Beide Mädchen sind bei ihren Familien alle zwei Wochen, daher ist die Wohngruppe ihr zweites Zuhause, ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen. „Wir wollen eine familiäre Atmosphäre schaffen, ohne eine Familie zu sein“ – die Wohngruppe soll den Mädchen Selbstständigkeit vermitteln, zugleich aber auch ein Schutzraum für sie sein, an dem gegenseitige Unterstützung herrscht, erklärt Klaus Schubert.
Dieser Zusammenhalt macht sich in den ganzen Räumlichkeiten der Einrichtung bemerkbar – das war schon während des Gesprächs zu spüren: Josephine und Leonie ergänzen einander, lachen zusammen, und auch im Hintergrund erklingt das fröhliche Gelächter der anderen Mädchen, die sich gegenseitig durch das Haus jagen. Darauf folgt das Geklimper der Teller, die gerade von einem der Mädchen in den Küchenschrank eingeräumt werden. Im Esszimmer an der Wand hängt ein Spülmaschinen-Dienstplan – Arbeitsteilung wie in jeder Familie. Direkt an der gegenüberliegenden Wand eine Malerei, ein Baum, dessen bunte Blätter die Hände der Mädchen bilden. Den Wohnbereich zieren motivierende Sprüche an den Wänden: „Gib alles“ oder „Nutze den Tag“ sind bloß ein paar davon. Stellvertretend für die Ideologie der Einrichtung steht dieser hier: „Wer die Hälfte des Weges geschafft hat, braucht übers Umkehren nicht mehr nachzudenken, höchstens über eine Pause.“
Die Wohngruppe soll als Raststätte dienen, als Verweilort für jene Mädchen, die auf ihrer Reise vielen Hindernissen begegnen mussten. Die individuelle Unterstützung und das Engagement der Betreuer helfen vielen dabei, wieder Fahrt aufzunehmen. Das Ziel ist nicht allein die Rückkehr zur Schule, sondern auch die Förderung des Selbstbewusstseins und der Selbstständigkeit der Mädchen. Hinter den Türen der Wohngruppe Edith-Stein bedeutet Schulverweigerung nicht das Ende, sondern der Beginn einer neuen Reise.
Die Wohngruppe soll als Raststätte dienen, als Verweilort für jene Mädchen, die auf ihrer Reise vielen Hindernissen begegnen mussten. Die individuelle Unterstützung und das Engagement der Betreuer helfen vielen dabei, wieder Fahrt aufzunehmen. Das Ziel ist nicht allein die Rückkehr zur Schule, sondern auch die Förderung des Selbstbewusstseins und der Selbstständigkeit der Mädchen. Hinter den Türen der Wohngruppe Edith-Stein bedeutet Schulverweigerung nicht das Ende, sondern der Beginn einer neuen Reise.
*Die Namen der Protagonistinnen wurden geändert. Die Identitäten sind der Redaktion bekannt.