Fußball
Rauch, Bier und Bratwurst

30 Aug 2021
Der Geruch eines Fußballstadions ist einzigartig. Lange mussten wir alle darauf verzichten. Nun war ich endlich wieder in meinem "zweiten Wohnzimmer": Wie sich durch meinen ersten Stadionbesuch seit Corona bei mir ein Kreis schließt.Max Bruns
Crossmedia-Redaktion / Public Relationsseit Sommersemester 2020
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Ich erinnere mich, es war vor gut anderthalb Jahren am 29. Februar 2020. In der Tagesschau wird gesagt, dass die Bundesregierung zusätzliche Schutzvorkehrungen beschlossen hat, um die weitere Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus in Deutschland zu verhindern. Derweil wird in den Profi-Ligen der Republik noch Fußball gespielt – und das, in vollen Stadien. Trotz des rasanten Anstiegs der Infektionen fahren Fußballfans aus dem ganzen Land ihren Vereinen hinterher, um sie auswärts zu unterstützen. Einer dieser Auswärtsfans bin an diesem Tage ich. Es sollte für mich vorerst das letzte Spiel für lange Zeit sein, welches ich live im Stadion verfolge.
Wie üblich für Auswärtsspiele begann die Reise für mich am frühen Morgen des Spieltags. Zum Glück hieß der Gegner vom VfB Stuttgart damals Spielvereinigung Greuther Fürth und die Strecke war nicht allzu lang vom Schwaben- ins Frankenland. Auswärtsfahrten, wenn auch meistens schön, können sehr anstrengend sein. Vor allem, wenn man in einem 50-Sitzer des Fanclubs fährt, wo schon zum Start der Fahrt die ersten Biere geöffnet werden. 50 Menschen auf engstem Raum. Das kennen die meisten Berufstätigen, die sich auch während der Pandemie in die vollgestopften Busse und Bahnen drängen müssen. Nur die Masken hatten wir damals nicht. Dafür laute Musik, Partystimmung und richtig Lust auf ein schönes Fußballspiel.
Am Stadion angekommen war es wie immer: Normale Sicherheitskontrolle, Ticket vorhalten und dann war man drin. Es roch nach Bier, Rauch und Bratwurst – Stadion eben. Knapp 2500 VfB-Fans waren mit Fanbussen, dem Zug oder mit dem Auto nach Bayern gefahren, um die Mannschaft zu unterstützen. Dicht an dicht standen wir im Block ohne die Chance, sich auch nur einen halben Meter in eine Richtung bewegen zu können. Zumindest war es im Block schön kuschelig bei unangenehmen sieben Grad im Sportpark Ronhof zu Fürth. In Deutschland gab es zwar schon erste Corona-Fälle und die Lage spitzte sich in den Risikogebieten allmählich zu. Das war mir in dem Moment jedoch vollkommen egal. Niemand dachte an einen Saisonabbruch oder ähnliches. Ich wollte einfach meinen Verein unterstützen. Wir sangen die gesamten 90 Minuten und pushten das Team voran. Alles vergebens. Wie so oft in dieser verflixten Zweitliga-Saison tat sich der VfB auswärts schwer und zahlte trotz ordentlicher Leistung Lehrgeld. Mit einer 0:2-Niederlage und einer dicken Frust-Bierdusche von einem Fan hinter mir ging es wieder nach Hause ins Schwabenland.
Weil es auf der Rückfahrt nichts zu feiern gab, gingen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wie konnten wir das Ding schon wieder verlieren? Warum hat der Trainer nicht früher gewechselt? Warum tue ich mir diesen Mist jede Woche an? Ich dachte an alles, aber nicht daran, was mir und allen anderen ein paar Wochen später widerfuhr: Die Corona-Pandemie und ihre verheerenden Folgen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es verdammt lange dauern wird, bis ich wieder dicht an dicht mit anderen auf engstem Raum stehen werde und den Geruch von Rauch, Bier und Bratwurst in meiner Nase rieche.
Anschließend wurde die Saison unterbrochen und in der Folge ohne Zuschauer zu Ende gespielt. Der VfB stieg trotz teilweise schwachen Auftritten dennoch wieder in die Bundesliga auf. Auch diese darauffolgende Spielzeit 2020/2021 wurde bis auf wenige Ausnahmen vor leeren Rängen ausgetragen. Geisterspiele heißen die Partien, weil außer den Verantwortlichen und Betroffenen keine Menschenseele im Stadion und deshalb auch alles zu hören ist. Schaurig einfach. Es war dann schon etwas überraschend, wie viele sich trotz der anfänglichen Aufregung mit den Geisterspielen angefreundet – oder wohl eher abgefunden – haben. Auch Ich. Gegen Ende der Saison und der anschließenden Europameisterschaft kehrten dann die Fans endlich wieder in die Stadien zurück. Auch wenn man das Gefühl hatte, dass an dem ein oder anderen Standort die globale Pandemie überhaupt keine Rolle mehr spielte, wurde mir beim Anblick der vollen Stadien in Dänemark, Ungarn oder England warm ums Herz.
Einmal mehr wurde mir die Bedeutung der Fans bei einer schrecklichen Szene bewusst. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie die Situation um den dänischen Spieler Christian Eriksen, der auf dem Spielfeld einen Herzstillstand erlitt, ohne Fans im Stadion von Statten gegangen wäre. Es war auch so zwischenzeitlich mucksmäuschenstill im Stadion, doch ohne Fans wäre es eine gespenstische Ruhe gewesen. Umso schöner waren die Emotionen, als am selben Abend klar war, dass Eriksen sich in einem stabilen Zustand befand und das Spiel fortgeführt wurde. Bilder von den Rängen, die einen als Fußballfan so schnell nicht mehr loslassen.
Jedenfalls überlegte ich in dieser Zeit oft, wann und vor allem unter welchen Umständen ich zurück ins Stadion gehen werde, falls es möglich sein sollte. Man muss dazu sagen, dass ich seit fünf Jahren eine Dauerkarte beim VfB Stuttgart besitze. Ich habe dem Verein beim Bundesliga-Abstieg 2016 die Treue geschworen und stehe seitdem (zumindest bis zur Pandemie) bei fast jedem Spiel in der Cannstatter Kurve. Als es mit den Geisterspielen losging, war ich eigentlich fest davon überzeugt, dass ich erst wieder einen Fuß in die Mercedes-Benz-Arena setze, wenn Corona „vorbei“ ist, beziehungsweise alle wieder unter gegebenen Umständen ins Stadion dürfen. Dabei ging es mir vor allem um den organisierten Support der Fanclubs und Ultra-Gruppierungen, die wohl erst ins Stadion zurückkehren, wenn alle Plätze verkauft werden können.
Doch die Zeit, in der ich nicht ins Stadion gehen konnte, war eine lange und harte Zeit. Wenn man über mehrere Jahre diese Konstante aufgebaut hat und alle zwei Wochen oder teilweise öfter ins Stadion geht, dann fehlt einem etwas. So wie uns allen irgendetwas während der Pandemie fehlte. Viele von uns müssen nach wie vor auf bestimmte Dinge in unserem Leben verzichten. Ich denke da vor allem an die Kulturbranche, die eben nicht über dieselben Mittel verfügt, wie zum Beispiel der Profifußball. Bei mir wurde jedoch die Sehnsucht nach der Stadionatmosphäre immer größer und mir war klar: Lange halte ich das nicht mehr ohne aus. Wenn die Möglichkeit besteht, muss ich wieder ins Stadion.
Knapp eineinhalb Jahre nach meinem letzten Stadionbesuch hat sich die Lage etwas entspannt. Mehr als die Hälfte der Deutschen sind vollständig geimpft, Kontaktbeschränkungen wurden gelockert und auch Großveranstaltungen sind unter gewissen Rahmenbedingungen wieder zugelassen. Die Bundesliga startete in die Saison 2021/2022 und damit kehrten auch die Fans in die Stadien zurück – wenn auch nur teilweise. Die Regelung sieht vor, dass maximal 50 Prozent der Höchstkapazität eines Stadions belegt werden dürfen und es eine Gesamtobergrenze von 25.000 Fans gibt. Als diese Informationen veröffentlicht wurden, war für mich klar, dass es an der Zeit ist, wieder in die Arena zu gehen. Wie es das Schicksal wollte, eröffnete der VfB Stuttgart die Saison mit einem Heimspiel gegen einen Aufsteiger aus der zweiten Liga – es war die Spielvereinigung Greuther Fürth. Für mich schloss sich der Kreis des Wartens und Leidens.

Ich besorgte mir also ein Ticket in der Cannstatter Kurve. Aber nicht wie früher, als die Tickets kurz vor Anpfiff noch wild im Bus verteilt wurden. Personalisierte Tickets sind es, um die Kontakte nachverfolgen zu können. Cannstatter Kurve also. Dort, wo sonst eigentlich Tausende stehen, waren mittlerweile Sitzplätze angebracht. Der Pandemie geschuldet, musste auch immer wieder Abstand zwischen gewissen Plätzen eingehalten werden und bis auf den eigenen Platz herrschte zudem Maskenpflicht. Doch das war so eine Sache. Zwar waren einige Ordner vor Ort, die auch immer auf die Hygienevorschriften hinwiesen, richtig streng und ordnungsgemäß wurde das jedoch nicht gehandhabt. Spätestens mit dem Anpfiff ging es dann nur noch um das Spiel. Ich brauchte ein wenig Zeit, um alles verarbeiten zu können. Endlich wieder im Stadion, endlich wieder in meinem „zweiten Wohnzimmer“, endlich wieder VfB. So wie damals in Fürth, hatte ich alles andere als Corona im Kopf.
Es war ein toller Tag, ein Fußballfest. Das Wetter in Stuttgart war perfekt und der VfB schoss die Fürther mit 5:1 aus dem Neckarstadion. Bei jedem Tor und nach Abpfiff lagen wir uns alle in den Armen. Ob Kumpel oder Fremder – völlig egal. Wir waren froh, endlich wieder im Stadion zu sein und wollten für 90 Minuten die Sorgen rund um die Pandemie vergessen. Das Spiel war das perfekte Gegenstück zu der Partie in Fürth vor rund anderthalb Jahren. Bundesliga statt 2. Liga. Sieg statt Niederlage. 26 Grad in Stuttgart statt sieben Grad in Fürth. Die beiden Spiele haben für mich eine persönliche Klammer gebildet, um die Zeit, in der wir alle auf unsere eigene Art und Weise gelitten haben. Mittlerweile hat sich fast alles verändert. Neben der Bierdusche, die ich dieses Mal beim 4:0 von einem Fan hinter mir kassierte, ist eigentlich nur eines gleichgeblieben: Der Geruch von Rauch, Bier und Bratwurst – Stadion eben.