Kulturräume

Wenn der Alltag zur Bühne wird

„Lokstoff!“ spielt das Stück „Sofies Mind*Truck“ unter der Paulinenbrücke und vor dem Gebäude der Landesbank Baden-Württemberg.
Ob Charlottenplatz oder Kaufhaus Gerber – „Lokstoff! Theater im öffentlichen Raum“ scheut sich nicht davor, prägnante Orte Stuttgarts zu poetisieren. Im Interview erzählt Mitgründerin Kathrin Hildebrand unter anderem, was der öffentliche Raum für sie bedeutet.

Kathrin, nach einer Karriere im traditionellen Theater hast du gemeinsam mit Wilhelm Schneck „Lokstoff! Theater im öffentlichen Raum“ gegründet, um die Bühne zu den Menschen zu bringen. Was bedeutet der öffentliche Raum für dich?


Ich finde, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt ohne den öffentlichen Raum eigentlich nicht möglich ist. In der Architektur und in der Stadtplanung ist klar, dass man Räume schaffen muss, die für jeden zugänglich sind, weil sonst die gesellschaftlichen Bubbles immer separater werden. Ich glaube, da kann Theater im öffentlichen Raum dazu beitragen. Denn ich sehe es als eine große Gefahr an, wenn der öffentliche Raum nur noch als Plattform besteht, um zum Beispiel einzukaufen. Oder, dass es auf Plätzen keine Sitzmöglichkeiten mehr gibt, aus „Furcht“, da könnten sich ja Obdachlose aufhalten. Also, dass immer mehr diese Marginalisierung von Gruppen stattfindet. Ich glaube, die Stärkung des öffentlichen Raums ist wahnsinnig wichtig für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

„Ich glaube, die Stärkung des öffentlichen Raums ist wahnsinnig wichtig für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.“

Kathrin Hildebrand

Wieso Theater im öffentlichen Raum?


Als Publikum bleibt im Theater ja nur übrig: Entweder du schaust zu oder du schläfst ein. (lacht) Du kannst dir natürlich deinen eigenen Fokus auf der Bühne wählen – also, was guckst du an? –, aber der ist automatisch gegeben. Im öffentlichen Raum ist das anders. Das Gesamtkunstwerk des Abends ist eigentlich die Kunst und die Realität. Und wenn du es schaffst, dies in einem guten Rahmen einzubinden, dann ist das Besondere, dass der Ort sich auch jeden Abend verändert. Und zwar je nachdem, wie die Menschen an diesem öffentlichen Ort sind. Dadurch verändert sich auch das Stück und es ist für mich ein größeres Geben und Nehmen zwischen Publikum, Schauspielenden und Ort. Also es ist – Gesamtkunstwerk ist vielleicht zu dick gesagt – aber „Gesamtkunst“ ist es dann.

Ihr habt „Lokstoff!“ im Jahr 2003 gegründet. Wie waren die Anfänge? Gab es Gegenwind von Kritiker*innen?

Am Anfang, als wir gestartet sind, gab es das eigentlich noch nie. Kritische Stimmen haben oft nicht die Chance gesehen, die Theater im öffentlichen Raum bietet. Diese Vermischung war für gerade Kritiker*innen überhaupt nichts. Die haben gesagt, das ist nicht Theater. Später wurde das absolut zu Konsens.

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Was gefällt dir am Spielen im öffentlichen Raum?


Was ich unheimlich schön finde: in Lebenswelten reinzuschauen, als spielende Person. Wir haben zum Beispiel am Flughafen lange ein Stück über arbeitslose Manager*innen gespielt. Wenn du da wirklich diese Menschen siehst und mit ihnen ins Gespräch kommst, weil du da drei Wochen probst – morgens, abends, mittags –, kriegst du einen ganz anderen Zugang. Und das ist für die Spielenden total interessant.

Welches Publikum wollt ihr mit „Lokstoff!“ erreichen?


Wir wollten immer alle Menschen erreichen. Aber das erklärte Ziel war schon, dass wir gerne theaterfernes Publikum erreichen würden. Wir haben „Lokstoff!“ gegründet, ohne zu wissen, wie freies Theater funktioniert. Wir hatten nur dieses Gefühl, dass wenn wir den öffentlichen Raum beleben und die Menschen Räume betreten, die sie aus dem täglichen Leben kennen, diese Hürde nicht so da ist. Viele Menschen, die nicht zum „theatertypischen“ Publikum gehören, denken ja oft: „Ach Gott, Theater, das versteh ich sowieso nicht. Es ist viel zu intellektuell.“ So in der Richtung. Unsere Anfangsidee war, dass Menschen einen einfacheren Zugang haben, wenn sie Orte kennen, die sich dann verändern und durch Kultur und Theater poetisiert werden – dass das vielleicht Menschen wirklich erreicht. Und ja, das hat sich bestätigt, weil wir machen das jetzt schon seit 20 Jahren.

Wieso erstaunt Theater im öffentlichen Raum das Publikum?


Ich glaube, das sind zwei Punkte. Einmal, dass die Menschen die meisten Orte, an denen wir spielen, kennen und die durch das Spiel plötzlich so extrem verändert werden. Man kann auch sagen, für einen Moment findet eine Poetisierung vom öffentlichen Raum statt. Und was ich bei Rückmeldungen von Zuschauenden total mag, ist, wenn die mir sagen: „Vor fünf Jahren habe ich mal das Stück am Charlottenplatz gesehen und wenn ich da vorbeilaufe, erinnere ich mich immer noch an den ‚König der Fischer‘.“ Das hat eine enorme Kraft und ich denke, das passiert mehr im öffentlichen Raum, so eine Erinnerung, wie im Theater.


Ich glaube, dass man als Zuschauender schon weiß, wer die Spielenden sind und wer nicht. Aber ganz oft weiß man nicht, ob das inszeniert ist oder ist das die Realität? Die schönsten Begegnungen passieren oft durch das Unvorhergesehene. Das fasziniert unheimlich. Weil nicht klar definiert ist: Das ist Kunst und das ist Realität. Wenn es diese Vermischung gibt, berührt einen das als Zuschauenden noch mehr.

Fällt dir ein Beispiel für so eine schöne Begegnung ein?

Oh Gott, da gibt es total viele! Zum Beispiel, als wir über fünf Jahre im Stadtkaufhaus Gerber gespielt haben, da war immer eine Dame, von der wusste ich: Das ist die Mutter von einer Verkäuferin, die dort arbeitet. Und die war dement und den ganzen Tag im Gerber und saß immer da, wo dieser Springbrunnen war. Als ich gekommen bin, habe ich sie immer begrüßt und da hat sie mich nicht direkt gekannt. Und sobald wir angefangen haben, zu spielen, als ich im Kostüm war, kam sie immer mitten im Stück. Sie war ganz klein und hat immer gesagt: „Ah Schöne, ah, bist du da, alles gut?“ und hat mich dann oft umarmt. Also wirklich schöne Begegnungen. Und verrückt natürlich, verrückt. (lacht)