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Warum es ein Fehler ist, sich vor anderen zu verstellen

Ein Mann schaut lächelt künstlich in die Kamera. Im Hintergrund blickt eine Gruppe auf ihn.
In einer Gruppe neigen Menschen dazu die eigenen Gefühle zu überspielen, um ein positives Image aufrechtzuerhalten (Symbolbild). | Quelle: Maja Siewert
10. Dez. 2025

Um Teil einer Gruppe zu werden, stellen wir oft uns anders dar, als wir eigentlich sind. Ist eine solche Verstellung sinnvoll? Zwischen einem Lügenkonstrukt und der Angst, am Ende doch alleine dazustehen, zählt der Mut, zu sich selbst zu stehen. Ein Essay.

Schnelle Schritte, ich habe Angst, zu spät zu kommen. Heute ist mein erster Tag an der Hochschule der Medien. Ich bin nervös und stelle mir viele Fragen. Finde ich den Raum, in den ich muss? Werde ich mich gut mit den anderen Studierenden verstehen? Und vor allem, schaffe ich es, Teil der Gruppe zu werden? Gedanken, wie sie wahrscheinlich vielen an einem solch vermeintlich wichtigen Tag durch den Kopf gehen. In meinem Fall werden sie noch begleitet von Zweifeln. Was, wenn ich sofort schlecht rüberkomme? Ich will nicht schon am ersten Tag nur alleine in der Ecke stehen müssen. Darauf folgt bei mir die Überlegung: Wie verhalte ich mich, was sage ich und am meisten wer bin ich heute überhaupt? Der offensiv Auftretende oder mehr ich selbst – schüchtern und zurückhaltend? An diesem Tag möchte ich mich nicht in meiner Schale verkriechen, sondern sie aufbrechen. Ich gebe mich bewusst offen, versuche, möglichst viele Gespräche zu führen. Obwohl das meiner eigentlichen Introvertiertheit widerspricht.

Rückblickend auf diesen Tag frage ich mich nun: War das die richtige Entscheidung? Mittlerweile glaube ich Nein. Sich zu verstellen, ist langfristig überhaupt nicht hilfreich, die anderen sehen nicht mein wahres Gesicht, sondern eine verzerrte Version von mir selbst. Viel lieber wäre mir ja gewesen, einfach so sein zu können wie ich bin. Ich hatte aber Angst, dass das nicht gut ankommt. Was hätte ich stattdessen machen sollen?

Alle wollen Teil der Gruppe sein

Ich wollte einfach nur dazugehören. Das Bedürfnis nach Bindung und in einer Gruppe direkt Teil sein zu wollen, ist psychologisch gesehen ganz natürlich. Ein stabiles Netz aus persönlichen Kontakten ist für alle Menschen wichtig. „Wir alle sind Bindungswesen. Personen, die uns annehmen und lieben sind lebensnotwendig“, erklärt Gabriele Stark von der psychologischen Beratungsstelle Ruf und Rat in Stuttgart. 

„Wir alle sind Bindungswesen. Personen, die uns annehmen und lieben sind lebensnotwendig.“

Gabriele Stark, Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle Ruf und Rat

Andere Personen möglichst gut von sich zu überzeugen ist somit etwas, was alle wollen. Dabei gehen viele etwas strategischer vor, um sich eben möglichst gut darzustellen. Stark hält diese Herangehensweise auch nicht für unüberlegt: „Wir sollten immer die Chance nutzen, nochmal kurz nachzudenken. Alle klugen Menschen tun das.“ In der Gruppensituation bedeutet das, selbst zu entscheiden, was man von sich preisgibt und was nicht.

Dabei kann laut der Psychotherapeutin helfen, die eigenen Interessen stärker herauszuarbeiten. „Man sollte die Nische für sich finden, in der man sich gut fühlt.“ Die eigene Haltung zu Themen deutlich zu machen, fände immer Anklang bei Personen mit der gleichen Meinung. Ein klareres Profil werde eher von anderen wahrgenommen.

Ab wann ist es eine Verstellung?

In unserer Gesellschaft ist es ganz normal, Probleme und Unsicherheiten mit einer Gruppensituation zu haben. Auch wenn wir es vielleicht nicht alle nach außen zeigen, die Angst vor Peinlichkeiten oder beschämenden Situationen kennen wir alle. Ich dachte häufig, zu einer positiven Darstellung passt so etwas nicht, viel besser ist es doch sympathisch und kompetent rüberzukommen. Das ist oft mein Problem, wenn ich mit neuen Personen zu tun habe. Dass ich mich bewusst anders gebe, liegt an meiner Angst, etwas Falsches zu sagen und mir die Sympathie der anderen Person sofort zu verspielen. Solche Gedanken sind aber normal und noch keine richtige Verstellung, gibt mir Stark zu verstehen.

Bei einer echten Verstellung oder notorischem Lügen würde das viel weitergehen. Bei Letzterem versuchen Personen negative Aspekte an der eigenen Persönlichkeit zu ignorieren, eigene Fehler abzuschwächen und ein positives Bild von sich selbst zu erhalten. Es gibt sogar Menschen, die eine Lüge sehr lange aufrechterhalten können und ein Doppelleben führen. Ausgedachte Merkmale oder Eigenschaften lassen sich gegenüber anderen aber selten lange durchhalten. „Solche Menschen haben dann aber privat echte Beziehungen, andernfalls würden sie nicht damit klarkommen“, vermutet Stark als Psychologin.

Wenn die Angst zu groß wird

Hinter diesem Verhalten kann der Wille nach Zugehörigkeit stecken. Schließlich brauchen wir alle stabile menschliche Beziehungen zum Überleben. Wenn wir diese nicht haben, können Ängste entstehen. Neben der Angst vor Bedeutungslosigkeit oder keine Anschlussmöglichkeiten zu finden, ist bei Gruppensituationen die Angst vor Ablehnung ein häufiges Motiv. Zurückweisungen und Kritik sind für Menschen, die hierunter leiden, besonders schwer zu verkraften. Diese Angst entsteht vor allem, wenn wir in der Vergangenheit negative Erfahrungen, wie Ausgrenzung, überbehütende Erziehung oder Gewalt erlebt haben. Sobald diese Ängste so stark sind, dass wir beginnen Personen oder Gruppen zu meiden, sprechen Experten von einer sozialen Phobie.

Während ihres gesamten Lebens erleben schätzungsweise zwischen zehn und 15 Prozent aller Menschen zeitweise eine soziale Phobie.

Quelle: deximed.de

Sollte man in der Gruppe es gar nicht versuchen, Beziehungen aufzubauen, kann das schwerwiegende Folgen haben. In erster Linie würde sich zunehmend eine Sozialphobie entwickeln. Bei einer besonders ausgeprägten sozialen Phobie verstärken die negativen Zustände sich noch weiter bis zu körperlichen Erscheinungen wie Atemnot und Panikattacken.

Wenn dann noch Einsamkeit und Depressionen dazukommen, kann sich eine aktive Menschen-vermeidende Angststörung entwickeln. Die kann so weit gehen, dass Betroffene gar nicht mehr das eigene Haus verlassen möchten. Wie einem Teufelskreis würden sich hier die Symptome weiter verstärken.

Eine Grafik mit vielen Strichmännchen zeigt, dass durchschnittlich 4,69% der Deutschen in einem Jahr an einer Angststörung erkrankt sind.
Durchschnittlich wurden in einem Jahr 4,69% der deutschen Bevölkerung offiziell mit einer Angststörung diagnostiziert. Bei Frauen ist der Anteil deutlich höher.
Quelle: Gesundheitsatlas Deutschland (Stand 2023) / Grafik: Philipp Feuerer (Canva)

Was dagegen hilft

„Wir sollten etwas tun, das wir gerne machen“, empfiehlt mir Stark. Das bildet einen positiven Ausgleich. Noch besser: Etwas gemeinschaftlich erleben, denn das stärkt unseren Selbstwert. Mit einem psychisch stabilen Gerüst lässt es sich selbstbestimmter leben, erläutert die Psychotherapeutin. Das bedeutet, bewusst selbst zu entscheiden, auf welche Dinge man im Leben Wert legt und welche man nicht persönlich an sich ranlässt. In meinem Fall der Gruppensituation hilft es also, wenn ich mit mir selbst zufriedener bin. Dann habe ich weniger Probleme mit möglicher Kritik an mir klarzukommen.

„Wir werden es nicht hinkriegen allen zu gefallen, das ist eine Illusion“, erklärt sie. Ich brauche also nicht alle von mir überzeugen, um ein Teil einer Gruppe zu sein. Ihre Empfehlung: Sucht euch Personen aus, die euch sympathisch sind - und versucht nicht sofort, die ganze Gruppe von euch zu überzeugen. In so einem Fall kann es auch anderen helfen, sich zu öffnen, wenn jemand den ersten Schritt macht, wird das zum Vorbild für andere.

„Wir werden es nicht hinkriegen allen zu gefallen, das ist eine Illusion.“

Gabriele Stark, Psychotherapeutin bei der Beratungsstelle Ruf und Rat

Um die Angst vor Ablehnung zu überwinden, hilft es, in der Gruppe Kritik aktiv einzufordern. So üben wir, leichter mit Kritik umzugehen. Positives Lob steigert zusätzlich das eigene Selbstwertgefühl. Hier sollten wir nicht zu selbstkritisch mit uns sein, sonst verschlechtert es sich stattdessen. 

Steht zu euch selbst

In Summe ist es schließlich Mut, den es hier braucht. Ich gebe zu, genau der hat mir oft einfach gefehlt. Vielleicht hätte es geholfen, wenn ich dafür ein klares Vorbild gehabt hätte. Deshalb möchte ich das nun mit meinem Essay selbst sein. 

Mittlerweile sehe ich keinen Grund, mich zu verstellen. Zum einen, weil es nicht möglich wäre, sich in der Gruppe so lange zu verstellen, ohne dass die psychische Belastung größer wird. Zum anderen, finden andere mein wahres Ich wahrscheinlich gar nicht so schlecht, wie ich es selbst vermute. Ich brauche nur mehr Zuversicht und Vertrauen in das, was mich wirklich ausmacht. Wenn ich mit Ehrlichkeit schon ein paar Menschen überzeuge, dann habe ich damit ein Stück Mut für das nächste Mal dazugewonnen. Um das zu erreichen, muss ich gar nicht alles offenlegen. Zu entscheiden, was man mit anderen teilt und was nicht, ist das jeweils eigene Recht und völlig in Ordnung. Damit belüge ich auch niemanden. Ansonsten muss ich mich einfach trauen, offen über mich selbst zu sprechen. Zwar fällt es mir immer noch etwas schwer, aber mit jedem Gespräch wird es besser. Meist genügt es schon, Interesse an den anderen Menschen zu zeigen und einfach authentisch zu bleiben, denn das kommt am besten an.