„Einen normalen Tag gibt es eigentlich nicht.“
Vorhang auf! Der Job, den man nicht sieht
Samstag, früher Abend, Mitte November.
Noch ist es relativ ruhig in der Staatsoper. Irgendwo hört man gelegentlich die Stimmen der Solist*innen hinter den geschlossenen Türen, das probende Orchester oder den Hausmeister, der vorbeihuscht. Im Untergeschoss befindet sich hinter verwinkelten Gängen und unzähligen Treppenaufgängen Brachers kleines Büro. Sie ist eine von zwei Inspizient*innen für den heutigen Abend. Mit ihrem Inspizientenbuch unter den Arm geklemmt und einer Taschenlampe, geht sie die Treppen zur Bühne hinauf. Die alten Holztreppen geben knarzend nach und als sie oben ankommt, riecht es nach Staub und frischem Holz. Sie grüßt ihre Kolleg*innen, umarmt sie und macht den ein oder anderen Witz. Die Stimmung ist familiär und gelassen.
Kein Tag ist wie der andere, Abwechslung ist die Regel. „Einen normalen Tag gibt es eigentlich nicht“, erzählt sie. Am Vormittag gibt es Proben im Haus oder auf der Probebühne. Abends richtet sich die Inspizientin nach dem Auf- und Abbau der Bühne, nach dem Regieteam oder danach, wie viel Zeit zwischen Probe und Abendvorstellung bleibt. Meistens arbeitet sie vormittags drei Stunden und abends drei bis vier Stunden. Flexibilität ist also immer gefragt. „Man kommt zwar in eine gewisse Routine, aber jedes Stück ist anders“, sagt sie. Inspizient*innen haben viele Aufgaben, die logistische Präzision verlangen. Vor den Vorstellungen wird geprüft, ob die Requisiten und die technischen Vorrichtungen stimmen und die Bühnencrew und die Darsteller*innen an der richtigen Stelle stehen. Während der Vorstellungen werden unter anderem alle Abläufe wie die Bühnenbilder und die technischen Effekte koordiniert. An der Kommandozentrale, auch Inspizientenpult genannt, werden Anweisungen an Tontechniker*innen, Bühnenarbeiter*innen und Darsteller*innen weitergegeben.
Bracher legt das Buch mit den Noten für das heutige Stück auf ihr Pult und setzt ihr Headset auf. Aus diesem kann man leise Stimmen hören. Das Pult leuchtet auf und die Bildschirme zeigen die Bühne und das Orchester. Kurz bevor der Vorhang aufgeht, spürt man die Euphorie und Aufregung der Darsteller*innen, die nur darauf warten, dass es losgeht.
Toi, Toi, Toi!
Es wird dunkel. Alle Lichter gehen hinter der Bühne aus, nur die technischen Lichter am Pult und Brachers Taschenlampe leuchten. Alles andere verschwindet in der Dunkelheit. Man sieht lediglich die Konturen der Darsteller*innen und der Bühnencrew. Der Vorhang geht auf und der Dirigent hebt seine Arme zum Auftakt: Das Orchester fängt an zu spielen. Brachers Finger streichen über die Noten des Inspizientenbuchs und sie wippt ein wenig zur Musik mit. „Ich liebe einfach die Musik“, sagt sie. „Über den Kinderchor habe ich das Theater kennengelernt. Ich habe hier viel gemacht, es lieben gelernt – und bin hängen geblieben. Dann war mir relativ schnell klar, dass ich hier auch beruflich unterkommen will.“ Da es so keine Ausbildung zur Inspizient*in gibt, kommen meist Quereinsteiger*innen mit Erfahrung in Schauspiel, Tanz, Gesang oder Regieassistenz in diesen Beruf. Mit ihrer Begeisterung für die Musik und ihren praktischen Erfahrungen schaffte es Bracher, ihre geborene Leidenschaft zum Beruf zu machen.
Die Südseite
An der Staatsoper Stuttgart gibt es die Nord- und die Südseite, welche die Seiten der Bühne links und rechts beschreiben. Auf der Nordseite befindet sich das Hauptpult und auf der Südseite das Nebenpult. Bracher ist heute auf der Südseite unterwegs. „Einer von uns macht hauptsächlich die Einrufe, die Zeitzeichen, koordiniert den technischen Ablauf und ruft das Publikum ein. Der andere ist auf der Bühne unterwegs, gibt die Signale für die Auftritte und organisiert die Wege.“ Da bleibt keine Zeit mehr, zweimal nachzudenken.
Plötzlich ein Positionswechsel. Mit schnellen Schritten läuft Bracher mit ihrem Notenbuch und ihrer Taschenlampe zu einem anderen Eingang. Das Buch legt sie auf einen Notenständer, auf dem Inspi Notenpult Süd steht. Sie hebt ihre Hand und gibt den Darsteller*innen das Zeichen, dass sie gleich auf die Bühne müssen. „Achtung und Go!“, und die Darsteller*innen laufen los. Hinter der Bühne wird es allmählich voller, da für die nächste Szene viele Darsteller*innen gebraucht werden. „Manchmal hat man sehr viele Leute gleichzeitig zu betreuen – Chor, Solist*innen oder Statisterie.“ Bracher gibt wieder das Go, nimmt ihr Buch und kehrt zurück zu ihrem Pult.
Ein familiäres Team
Ein Stück wird über Wochen geprobt. Die Inspizient*innen erarbeiten die Abläufe und lernen das Stück in- und auswendig. „Es ist wirklich eine Herausforderung. Dieses ständige Hin und Her und das Ausprobieren, wenn man das Stück noch nicht so gut kennt.“ Stück für Stück arbeiten sich Bracher und ihr Team vor, bis alles reibungslos funktioniert. Dabei entstehe ein starkes Team, dass sich kennt und aufeinander verlassen könne. An der Staatsoper wird Teamarbeit großgeschrieben. Denn ohne ein eingespieltes Team läuft gar nichts. Das Staatstheater zählt ungefähr 1.400 Mitarbeiter*innen und die Staatsoper ist eine der drei Sparten vom Württembergischen Staatstheater. Trotzdem nennen sich alle beim Vornamen und zeigen sich als eine große Familie aus mehr als 50 Nationalitäten, was Bracher nur bewundert. „Was ich besonders schön finde, sind die vielen Nationalitäten, Berufe und Altersgruppen, mit denen man zusammenarbeitet. Das verbindet.“
In den vielen Jahren an der Staatsoper lernte Bracher, Verantwortung zu übernehmen und ein großes Team zu leiten: „Man lernt zu kommunizieren – und man lernt, wie unterschiedlich Menschen auf Kommandos oder Zeichen reagieren. Manche schnell, manche langsam. Es ist wichtig zu wissen, wie die Leute ticken.“ Natürlich können auch Fehler passieren, aber sie geht mit ihnen professionell und gelassen um und gesteht: „Fehler passieren immer. Durch Unaufmerksamkeit, durch Stress oder durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren.“ Natürlich gebe es manchmal Menschen, mit denen man weniger zurechtkomme, doch hätten alle ein gemeinsames Ziel. Sie betont, dass mit Verständnis und Geduld jedes Problem lösbar sei: „Am Ende sitzen doch alle irgendwie im selben Boot.“
Das Herz schlägt schneller
Die Vorstellung kommt langsam zum Ende. Wenn Bracher ein Stück in- und auswendig kennt, erlaubt sie sich in den Pausen, die Oper selbst anzuschauen. „Man ist einfach fasziniert, wie jemand singt, spielt, sich verwandelt. Wenn Musik, Darstellung und Licht zusammenkommen, entsteht etwas, das fesselt.“ Manchmal sitze sie dann einfach nur da, höre der Musik zu und sei überwältigt. Und in diesem Moment wüsste sie genau, warum sie das alles mache.
„Man ist einfach fasziniert, wie jemand singt, spielt, sich verwandelt. Wenn Musik, Darstellung und Licht zusammenkommen, entsteht etwas, das fesselt."
Sie bleibt noch ein wenig sitzen und lauscht der Oper. Wenig später ruft die Arbeit und sie begibt sich zurück an ihr Pult. Die Uhr, die seit dem Anfang des Stücks läuft, zeigt eine Stunde und sechsunddreißig Minuten. Das Stück ist damit fast zu Ende. Sobald die letzten Noten gespielt sind und die Darsteller*innen ihre letzte Strophe gesungen haben, fällt der Vorhang und ein lauter Applaus ertönt. Bracher gibt den Darsteller*innen das Zeichen, auf die Bühne zu gehen und sich zu verbeugen. Das Publikum klatscht begeistert weiter. Der Applaus gilt nicht nur den Darsteller*innen, sondern auch denen, die hinter der Bühne gearbeitet haben. Die Oper verbindet und erschafft dabei etwas Großes. Deswegen setzt Bracher jeden Tag ihren Fuß in das Haus, um ein Teil von dem zu sein und das zu machen, wofür ihr Herz ein bisschen schneller schlägt.