„Und als ich aus dem Krankenhaus raus bin, war das natürlich ein beschissener Zustand. Und als ich in die Reha rein bin, war das ein noch beschissenerer Zustand. Also wirklich, in Worte zu fassen, war das unmöglich.“
Vom Rollstuhl an den Herd
Das rechte Bein zieht hinterher, als hätte es den Einsatz verpasst. Das Knie knickt bei jedem Schritt nach hinten weg, der Fuß schwingt seitlich über die Fliesen. Mit den Händen hält er sich am Edelstahl fest, hangelt sich von Tresen zu Tresen für einen möglichst kleinen Bewegungsradius - immer im Rhythmus der Arbeit. Das Bein wird nur aus der Hüfte gezogen. Man könnte denken, er stolpert. Doch er stolpert nicht. Das hier ist sein Revier.
Ein Geruch von geschmolzener Butter und gerösteten Kräutern hängt in der Luft. Im Gang nebenan zischt eine Pfanne, Teller klirren, jemand mit Bon in der Hand spricht in ein Mikrofon. Er zieht weiter, rührt mit einem Backpinsel ein grünes Gemisch um, probiert, nickt. „Ich brauche die Pilze.“, brüllt er in die dicke Luft. „Rian, Tisch 11!“. Auf seine Anweisungen folgt ein kräftiges „Jawoll.“ und „Jap.“ aus den anderen Gängen. Auf einmal sackt er ein, krallt sich mit beiden Händen am Tresen fest. Er fasst sich ans Bein. Kurz innehalten - eine kleine Dehnübung. Es sind die Momente, in denen keiner hinschaut.
„Die Krankheit mit den tausend Gesichtern.“
Seit 5 Jahren ist das so. Multiple Sklerose. MS. Eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Nerven angreift. Unheilbar. Seitdem quält sich Andy Bäßler immer wieder mit Fragen, die mit jedem Arbeitstag in der Küche lauter werden: Wie kann ich trotz all dem noch weiter kochen – und das so, dass es mich erfüllt? Wie lange kann ich diesen Beruf noch ausüben? Und vor allem: Wie kann ich an dem festhalten, was ich liebe, obwohl mein Körper dagegen arbeitet?
Mit 18 fiel ihm in der Ausbildung während dem Aufschlagen einer Sabayon, einer italienischen Weinschaumcreme, auf einmal der Schneebesen aus der Hand. Die Hand wurde taub, das Gefühl blieb. Damals gab es kaum Medikamente dagegen – Andy war einer der Ersten, der das neue Betaferon bekam. Es beruhigt das Immunsystem und schwächt neue Schübe ab. Am Montag zum Neurologen, dieser verschrieb Kortison, das Taubheitsgefühl war weg. Schub, wieder Kortison, weg. Schub, Kortison, weg. So ging das über 30 Jahre. Drei Jahrzehnte lang lebte er mit einer Krankheit, die er selbst kaum bemerkte. Dann, im Frühjahr 2020, mitten in der Corona-Pandemie, der schlimmste Schub seines Lebens. Seitdem ist nichts mehr, wie es war.
Alltag im Ausnahmezustand
Es ist Ende Juli, ein gewöhnliches Reihenhaus in Ehningen. Andy, ein kräftiger Mann, mit Vollbart und Undercut, hat die dunkelblonden Haare zu einem kleinen Dutt nach oben gebunden. Er sitzt mit seinem dreijährigen Sohn auf dem Boden des Wohnzimmers. Um die beiden herum ein Meer aus Spielsachen. An seinem Hals baumeln wuchtige Ketten mit Bernsteinen und Perlen. Am Arm trägt er eine schwarze Uhr und ein dickes Lederarmband. Es ist 10.30 Uhr morgens. Eine Katze trottet verschlafen die Treppe herunter.
Auf dem Esstisch steht ein Strauß Trockenblumen. Neben einem Haufen ungeöffneter Briefe liegt eine kleine Gitarre. Vor ein paar Jahren hat Andy angefangen zu spielen. Wegen der Haptik. Seitdem kann er seine rechte Hand wieder richtig bewegen. Zwischen all dem: ein ganze normales Wohnzimmerbild. Auf der Sofalehne lungert eine leere Saftflasche, daneben eine offene Schokoladenpackung. Vermutlich noch vom Vorabend. Ein Ort, an dem das Leben ständig stattfindet, wo gelacht, geplaudert, gespielt und entspannt wird. An den Wänden überall Familienbilder. Fünf Kinder. Ständig was los. Ein bisschen unperfekt, lebendig und doch irgendwie gemütlich.
Nichts in diesem Haus deutet auf eine unheilbare Krankheit hin. Im Flur, zwischen chaotisch abgestellten Turnschuhen und Rucksäcken, findet eine kleine Wertstoffsammlung aus leeren Deoflaschen und Papier ihren Platz. In der Küche ein großer Eimer Joghurt, Balsamico und eine Salatschleuder auf dem Tresen. Normalo-Haushalt. Lediglich auf der Treppe lehnt eine schwarze Orthese mit Klettverschlüssen fürs Bein. Im Keller ein Rollstuhl, den Andy am liebsten vergessen würde. In der Schublade des Wohnzimmerschranks versteckt sich eine Batterie an Medikamenten: Magnesium, Vitamine, Schmerzmittel – Andy braucht sie täglich, um den Alltag mit MS zu bewältigen. Ohne sie? Spastiken in der Nacht, taube Finger, das Gleichgewicht weg. Die Krankheit kommt in Schüben. Je länger ein Schub wütet, desto mehr zerstört er im Körper.
📌 Multiple Sklerose (MS) – Ein Überblick
Was ist MS?
Entzündliche Erkrankung von Gehirn & Rückenmark, meist Beginn im jungen Erwachsenenalter
Fakten:
- Nicht ansteckend, nicht tödlich, kein Muskelschwund, keine psychische Erkrankung
- Weltweit ca. 2,8 Mio. Betroffene, in Deutschland über 280.000
- Frauen erkranken doppelt so häufig
- Typischer Beginn: 20–40 Jahre
Verlauf:
- In 90 % schubförmig, später oft chronisch fortschreitend
- Nur ca. 5 % entwickeln rasch eine schwere Behinderung
- Jeder Verlauf ist individuell und unvorhersehbar
Herausforderung:
Die Unberechenbarkeit belastet viele. Austausch mit Ärzten, Betroffenen und Organisationen wie der DMSG schafft Orientierung.
Quelle: DMSG - Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V.
Andy ist nicht mehr Küchenchef, aber immer noch mittendrin.
Wortlos steht er von seinem fahrbaren Stuhl auf und schleppt sich auf die gegenüberliegende Seite des Ganges. Er arbeitet wieder. Jeden Tag. Früher hat er Wettbewerbe gekocht und stundenlang auf dem Wasen gearbeitet. Heute kämpft er sich nur noch mit großer Mühe durch die Küche. Seine Rolle hat sich verändert, doch die Leidenschaft fürs Kochen blieb. Wenn er arbeitet, suchen sich seine Kolleg*innen ihre Laufwege um ihn herum. Ohne hinzuschauen, schneidet er eine Tomate in kleine Würfel, während er einem anderen Kollegen über die Schulter schaut. Er hat eine beeindruckende Weitsicht, den totalen Überblick bei permanenter Beschäftigung. Jeder Griff sitzt. Er selbst strukturiert die Arbeit so, dass er möglichst kurze Wege hat. Als ihm etwas herunterfällt, kehrt ein Kollege es wortlos auf. Die Abläufe im Landhaus Feckl in Ehningen wirken einstudiert - jeder in dieser Küche kennt Andy und seine Geschichte. Auf Wunsch und mit Rückhalt seines Arbeitgebers Franz Feckl findet man ihn mittlerweile auch viel an der Hotelrezeption: Verwaltungsaufgaben, Telefondienst, Catering-Organisation, Menüplanung. Sein Chef legt großen Wert auf seine Erfahrung und möchte ihn weiter in seinem Team wissen. In der Küche hilft er aus, wenn es nötig ist. Besonders bei größeren Veranstaltungen, routiniert und mit Überblick.
So war das nicht immer. Andy sitzt am Esstisch in seinem Haus, vor ihm eine Tasse Kaffee. „Die Krankheit hat mich nie beeinflusst.“ sagt er. Er habe Sport gemacht, viel mit der Familie unternommen, durchgehend gearbeitet. Bis 2020. Lockdown. Der Schub erwischte ihn schlimmer als je zuvor – ausgerechnet dann. Von einem auf den anderen Tag war er auf einem Auge blind. Dann Doppelbilder. Gleichgewichtsprobleme. Gefühlsstörungen. Er konnte nicht mehr stehen, nicht mehr laufen. 40 Jahre lang stand er unter Strom – auf einmal ging gar nichts mehr. Innerhalb von drei Tagen. Er kam er ins Krankenhaus, wie aus dem Leben gerissen. Danach in die Reha. Im Rollstuhl, mit verbundenem Auge, Stöcke und Krücken im Gepäck.
Die Kinder waren zuhause und seine Frau völlig auf sich allein gestellt. Er hatte Angst – zum ersten Mal in seiner Krankheitsgeschichte. Scheiß auf Job, scheiß auf alles. Vier Wochen war er in der Reha, dann wurde nochmal um vier Wochen verlängert. Es folgten unzählige Therapiestunden, Gespräche mit seiner Frau, Psycholog*innen und anderen Patient*innen sowie tägliches Training. Die Rentenkasse wollte ihn zu diesem Zeitpunkt schon in Rente schicken. „Sie sind nicht arbeitsfähig.“ Doch Andy klagte auf Wiedereingliederung. Er kämpfte sich zurück ins Leben – und zurück in die Küche. Zwei Jahre dauerte es, bis die schlimmsten Symptome verschwanden. Doch die Lähmungen im Bein blieben.
„Papa, machen wir jetzt die Kräuter?“
Liebevoll streicht Andy über die blonden Haare seines Jüngsten. „Wir machen die Kräuter, Schatz, genau.“ Der Kleine ist heute daheim geblieben von der Kita. Andy kann es sich aktuell nicht leisten, sich einen Virus einzufangen. In zwei Wochen muss er für eine große Behandlung ins Krankenhaus. Zweimal im Jahr bekommt er dieses Medikament per Infusion. Die Woche danach ist gelaufen. Müdigkeit, Schmerzen, das ganze Immunsystem auf Reset. Am nächsten Tag muss seine Frau Nicole oder eines der drei erwachsenen Kinder zur Unterstützung zuhause bleiben.
Wenn keine Behandlung ansteht, sehen Andys Tage anders aus. Normalerweise steht er auf, richtet sich und bringt den Kleinen in die Kita. Seine Frau arbeitet vormittags. Dann hat er drei- bis viermal die Woche Therapie. Physiotherapie, Ergotherapie, Sprachtherapie oder kleine Übungen zuhause. Mehrmals die Treppe laufen, Dehnübungen, alles was man in den Alltag integrieren kann. Bis halb drei, dann geht es in die Arbeit. Weiter bewegen.
Andy steht am Pass, Löffel in der Hand, den Blick auf die silber schimmernden Steinteller gerichtet. Er probiert eine Sauce, würzt nach, gratiniert. Alles andere bleibt liegen, bis es perfekt ist. Seit dem ersten Tag in der Lehre wusste er, dass dieser Beruf alles hat, was er liebt: Praxis, Abwechslung, Tempo. Kein Tag gleicht dem anderen. Mal sind es 50, mal 100, mal 150 Gäste. Es ist die Unberechenbarkeit, die ihn reizt. Der positive Druck, der ihn antreibt. Die Leidenschaft, die ihn immer wieder in diese Küche zieht. „Das ist kein Stress, das ist aufregend“, sagt er und lacht. Seine Frau hielt ihm stets den Rücken frei, damit er seinen Traum verfolgen konnte. Er lernte von den Besten und kochte bei Wettbewerben. Nach der Ausbildung ging es für ein Praktikum nach München. Das geplante Praktikum in Hongkong fiel aus – die Familiengründung hatte Vorrang. Trotzdem machte er den Küchenmeister, arbeitete weiter hart an sich – bis er selbst Küchenchef wurde. Auch zuhause ist meistens er es, der für die Familie kocht.
Damit er weiter am Herd stehen kann, organisierte sein Arbeitgeber eine Benefiz-Veranstaltung. Dadurch konnte sich Andy einen speziellen Anzug leisten. Ein enganliegendes, batteriebetriebenes System, das durch kleine Stromschläge die Nervenoberfläche stimuliert. Meistens trägt er ihn abends. Die Wirkung war sofort spürbar – weniger Spastiken, kaum Schmerzen, ein verbessertes Gleichgewicht. Durch ihn fühlt er sich wie ein anderer Mensch. Seit er ihn trägt, konnte er bereits fünf Medikamente absetzen. Der 15.000-Euro-Anzug ist für ihn mehr als Technik: Er schenkt ihm ein Stück Lebensqualität.
Die Jungs um ihn herum schauen auf. Ein kurzes Nicken reicht. Auch im Sitzen hält Andy Bäßler die Küche zusammen. Jeder Schritt kostet Kraft. Doch hier fühlt er sich wie früher. Jeder Handgriff, jede Schicht ist ein kleines Comeback.
Die Krankheit hat vieles verändert – aber nicht, warum er morgens aufsteht.